Die x-te Chance: Melanie und die Sucht
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Alkohol und Drogen bestimmten lange das Leben von Melanie B. (Symbolfoto).
© Quelle: IMAGO/Panthermedia
Es ist nicht so, dass Melanie B.* keine Hilfe annehmen wollte. Da war beispielsweise der Mann, der ihr eine Arbeitsstelle in seiner Bar anbot – schwarz. Sie könne im Hinterzimmer schlafen, sagte er, dann käme sie immerhin von der Straße weg. Eine Woche lief es. Dann sperrte er das Hinterzimmer ab. „Ich gebe dir Arbeit. Und nun bläst du mir einen“, sagte er zu ihr. Nach dem Missbrauch höhnte er: „Aber nicht, dass du dich jetzt noch in mich verliebst.“
Melanie B. sitzt in der Frankfurter Einrichtung Fleckenbühler an einem Tisch im Konferenzzimmer, mit dem Ärmel des grauen Kapuzenpullis wischt sie sich immer wieder die Tränen aus dem Gesicht, während sie an diesem Freitag ihre Geschichte erzählt. Die 26-Jährige erzählt von Missbrauch und toxischer Liebe, von falschen und toten Freunden, von Alkoholismus, Drogen und Entzug. „Ich habe mir mein Leben anders ausgemalt“, sagt sie.
Gewalt, sexueller Missbrauch, toxische Beziehungen
Ihre Kindheit war geprägt von sexuellem Missbrauch und Gewalt. Mit 14 kam sie über ihren ersten Freund mit Cannabis in Berührung. „Die Neugierde hat mich dazu gebracht“, sagt sie. Sie wechselte ihre Partner, von einer toxischen Beziehung zur nächsten. Der zweite Freund nahm Speed und Amphetamine, der dritte Kokain und Ecstasy. Sie probierte, immer wieder. Sie schwänzte die Schule, brach andere Kontakte ab. „Ich bin da irgendwie immer weiter reingeschlittert“, sagt sie und wirkt, als würde sie selbst noch nicht ganz verstehen, wie es so kommen konnte, wie es kam.
Als sie 18 Jahre alt wurde, packte Melanie B. ihre Sachen. Ihr Vater hatte sie zuvor verprügelt. Sie zog zu ihrem damaligen Freund, der mit dem Kokain und Ecstasy. „Das ist sehr ausgeartet damals“, sagt sie, „es lag einfach immer etwas auf dem Tisch.“ Irgendwann tauchte der Kerl ab, weil er zu viele Schulden hatte, und Melanie B. landete in ihrem neuen Zuhause: den Straßen der Kleinstadt Fulda in Hessen.
Suchthilfe
Die Fleckenbühler
Die Fleckenbühler sind eine Selbsthilfegemeinschaft für Suchtkranke. Es gibt drei Einrichtungen: der Hof Fleckenbühl in Cölbe-Schönstadt bei Marburg, das Stadthaus in Frankfurt sowie die Jugendhilfeeinrichtung in Leimbach im Schwalm-Eder Kreis. Die Fleckenbühler nehmen 24 Stunden am Tag ohne Voranmeldung Suchtkranke auf, die sich ihrer Sucht stellen wollen. Unter Beobachtung der anderen Bewohnerinnen und Bewohner erfolgt zunächst ein kalter Entzug. Die ersten Monate gibt es eine Kontaktsperre nach außen, zudem müssen alle Bewohnerinnen und Bewohner in der Gemeinschaft mithelfen. Im Anschluss machen die Bewohnerinnen und Bewohner eine Ausbildung oder arbeiten in einem der eigenen Betriebe wie einer Käserei, einem Umzugsunternehmen oder einer Bäckerei. Informationen online: http://die-fleckenbühler.de
Bürokratieaufwand zu hoch: Melanie B. landet auf der Straße
Melanie B. lehnte sich anfangs noch gegen ihr Schicksal auf. Aber sie wurde von Amt zu Amt geschickt, hörte immer wieder, dass man nicht zuständig sei. Immer fehlte ein Formular, ein Dokument. Bis die Sucht und die Frustration ihr die Kraft nahmen.
Hauptsächlich trank sie auf der Straße, erzählt Melanie B. Der Alkohol war günstig, legal und überall zu bekommen. Auch der Ecstasykonsum war hoch. Aber sie nahm, was es gerade gab: Alkohol, Cannabis, Kokain, Ecstasy, „um dem Alltag zu entfliehen“.
Sie duscht auf Parkplätzen von Autohäusern – mit Gartenschläuchen
Manchmal hatte sie klare Momente, erzählt Melanie B. Dann ging sie in öffentliche Toiletten, um sich zu waschen. Nutzte Gartenschläuche, die Autohäuser auf dem Parkplatz hatten, um sich zu duschen. Füllte Wodka in Wasserflaschen um. Sie sagt, sie habe sich immer gesagt: „Was, wenn dein nächster Arbeitgeber dich so sieht?“ Melanie B. hatte sich noch nicht aufgegeben, sie hatte noch die Hoffnung auf ein anderes Leben.
Doch es gab auch die anderen Momente, die, in denen ihr alles egal war. Sie wurde emotional und aggressiv. Sie weinte und schrie und schlug um sich. Vor allem aber wurde sie geschlagen. „Ich sah manchmal schon übel zugerichtet aus.“ Immer wieder wird sie sexuell missbraucht. Im Gespräch nennt sie die Männer in ihrem Leben nur Ex eins, Ex zwei, Ex drei. Sie haben keine Namen mehr.
Es ist ein Überleben, kein Leben
Eine wirkliche Anlaufstelle für Menschen wie Melanie B. gibt es in Fulda nicht. Sie wusste, dass sie im Notfall nach Frankfurt kann, nicht weit entfernt. Dort gibt es Hilfseinrichtungen. „Aber die Szene da ist noch einmal heftiger“, sagt sie, „ich hatte viel Angst vor Frankfurt, davor, mich prostituieren zu müssen.“
Es war ein Überleben, sagt sie. „Ich habe mich oft gefragt: Was mache ich hier eigentlich?“ Die Frage ging in beide Richtungen: Was mache ich hier in der Drogenszene? Ich muss mich aufraffen und den Absprung schaffen. Und: Was mache ich hier auf der Straße? Mein Leben ist sinnlos. „Es war anstrengend“, sagt sie. Sie träumte davon, ein Hobby zu haben, eine Familie zu gründen. Ihre Realität war die Frage, wie sie an Stoff kam.
BKA: Drogenhandel in Deutschland nimmt zu
Laut BKA stieg vor allem bei Kokain und Methamphetamin die Menge an sichergestellten Rauschmitteln.
© Quelle: Reuters
Immer wieder beginnt Melanie B. Entgiftungen
Ihre Sucht finanzierte Melanie B. durch Hartz IV, Schwarzarbeit und Schnorren. Melanie B. half den anderen der Szene beim Beantragen eines Ausweises, von Hartz IV, einer Wohnung. Dafür teilten diese ihre geklaute Beute mit ihr. Auf der Straße stellten sie schnell fest: Es ist einfacher zu klauen, als sich mit der deutschen Bürokratie auseinanderzusetzen.
Immer wieder sammelte der Rettungsdienst die junge Frau auf. Immer wieder begann sie Entgiftungen. Für sie war es sinnlos: Es gab kein Programm, durch das sie danach eine Wohnung bekommen hätte. Sie wäre dann clean und nüchtern, aber immer noch auf der Straße. Nüchtern und clean könnte sie das Leben auf der Straße aber nicht ertragen, das sei ihr klar gewesen.
Sie holt sich Hilfe – um ihren heroinabhängigen Verlobten zu retten
Nach fünf Jahren Obdachlosigkeit war es die Liebe zu ihrem Ex-Verlobten Thilo R., die sie rettete. Thilo R. war der eine. Sie weint, wenn sie über ihn spricht. Ihre Stimme wird leiser, sie versucht, Gefühle in Worte zu verpacken, die sie selbst nicht verstehen kann. Die Beziehung zu Thilo R. war toxisch. Er war schwer heroinabhängig, sie misshandelten sich gegenseitig, zogen sich immer tiefer in den Sumpf. Aber es war eben auch die große Liebe.
Sie suchte sich Hilfe, um ihm helfen zu können. „Ich dachte, ich könnte ihn retten“, sagt sie leise. Würde sie gesund, könnte sie ihm helfen, gesund zu werden, ihn rausholen, sein Leben retten.
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Hof Fleckenbühl ist einer von drei Orten, in dem Suchtkranke selbst verwaltet Hilfe finden.
© Quelle: Thorsten Richter
Mit einem kalten Entzug ins normale Leben zurück
Bei einem der Klinikaufenthalte hatte sie vom Projekt Fleckenbühler gehört. Sie verabschiedete sich nicht. Sie nahm die Bahn nach Frankfurt und klingelte an der Tür der Einrichtung. Die Fleckenbühler sind eine Suchtselbsthilfe-Gemeinschaft. Es gibt keine Sozialarbeit, keine Ärzte, nur andere ehemals Süchtige.
Man macht einen kalten Entzug, unterstützt von den anderen. „Für mich war es einfacher mit ehemaligen Süchtigen, man schämt sich weniger“, sagt sie. In den Kliniken hatte sie Gespräche mit Psychologen, „die nicken und sagen, sie verstehen mich. Aber das können sie gar nicht.“ Melanie B. sagt, sie wolle nicht reden, nichts aufwühlen. „Wenn ich nüchtern meine Lebensgeschichte erzählt habe, habe ich gemerkt, wie kaputt ich eigentlich bin. Dann wollte ich erst recht wieder konsumieren.“ Sie will nicht wissen, warum es so gekommen ist. Sie will wissen, wie sie herauskommt.
Die erste eigene Wohnung – und ein Rückfall
Zweieinhalb Jahre lebte Melanie B. bei den Fleckenbühlern, arbeitete in der hauseigenen Küche, in der Konditorei. Sie hatte nach den ersten Monaten der Eingewöhnung einen normalen Arbeitsalltag, erhielt Freiheiten zurück. Sie lernte einen neuen Mann kennen. Sie zogen aus, nahmen sich eine gemeinsame Wohnung, wollten sich etwas aufbauen.
Doch zu früh fing sie wieder an, „nur ein Bierchen nach Feierabend“ zu trinken.
Der Alkohol. Eine Beziehungskrise. Doch vor allem: Die Nachricht, dass Thilo R. tot ist. Er wird in die Statistik als Drogentoter eingehen.
Sie sah ihn, die Liebe ihres Lebens, noch einmal, im offenen Sarg. „Es waren so viele Emotionen“, sagt sie.
Sie kehrte nach Fulda zurück, zurück auf die Straße, in alte Kreise.
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Doch irgendwann machte es klick, noch bevor sich die szenetypische Eigendynamik entwickelt hatte. Sie hatte es schon einmal geschafft. Sie würde es wieder schaffen.
„Mir vorzustellen, lebenslang nüchtern zu sein, ist schwierig“, sagt sie. „Aber wenn ich mir vorstelle, heute nüchtern zu sein, ist das eine schaffbare Aufgabe.“ So geht sie nun jeden Tag an. Die ersten drei Monate hat sie geschafft.
* Zum Schutz von Melanie B. wurde ihr Name sowie einzelne Details aus ihrer Biografie geändert, ohne den Inhalt zu verändern. Der Redaktion ist die wahre Identität bekannt.