Engpass bei „Actilyse“ – Kommt die nächste Medikamentenkrise?
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Ein Mitarbeiter von Boehringer Ingelheim greift in ein besonders abgeschirmtens Gerät zur Tablettenproduktion. (Symbolbild)
© Quelle: picture alliance/dpa
Zum Krankheitsbild Schlaganfall gibt es eine gute und eine schlechte Nachricht, die sich in einem Satz zusammenfassen lassen: Die Sterberate ist in Deutschland zwar rückläufig, die absolute Zahl der Schlaganfälle jedoch nimmt zu. Rund 200.000 Menschen erleiden in Deutschland derzeit pro Jahr erstmalig einen Schlaganfall, 70.000 zum wiederholten Male. 117 Frauen und 127 Männer pro 100.000 Einwohner Deutschlands sind betroffen. Das Risiko steigt mit dem Alter, bei den 20- bis 24-Jährigen liegt die Inzidenz bei vier pro 100.000 Menschen, bei den 75- bis 84-Jährigen sind es 1200. Weil die Gesellschaft immer mehr altert, gibt es immer mehr Patientinnen und Patienten. Weil die Behandlungsmöglichkeiten immer besser wurden, gibt es weniger Tote.
Die WHO nahm Actilyse auf die „Liste der unentbehrlichen Arzneimittel“
Vor schwereren und dauerhaften Folgen soll das Medikament Actilyse schützen – ein 1987 erstmals zugelassenes, vom Pharmahaus Boehringer Ingelheim entwickeltes Medikament, das blockierte Gefäße wieder öffnet. 2019 nahm die Weltgesundheitsorganisation (WHO) es auf die „Liste der unentbehrlichen Arzneimittel“. Im Mai nun gab der Actilyse-Produzent in einem Schreiben bekannt, dass ein Lieferengpass „bis hin zur vorübergehenden Lieferunterbrechung“ bevorstehe. Für die Darreichungsform Actilyse Cathflo (Pulver zur Herstellung einer Lösung) wurde laut Schreiben „mit einer Lieferunterbrechung ab Mitte Juni 2022 bis Dezember 2023″ gerechnet.
Actilyse, auch bei Lungenembolien und Herzinfarkten eingesetzt, ist das weltweit einzige zugelassene Medikament, das ein Gerinnsel des bei einem ischämischen Schlaganfall („ischämisch“ bedeutet „mangelhaft oder nicht durchblutet“) verschlossenen Blutgefäßes auflösen kann. Ideal ist eine Frühbehandlung innerhalb von viereinhalb Stunden nach Beginn der Symptome. Bis zu neun Stunden danach kann der Wirkstoff Alteplase noch helfen, die Folgen eines solchen Schlags zu mindern.
Das intravenös verabreichte Actilyse galt unter Neurologen von Anfang an als Gamechanger. Zuvor wurden die gefäßverstopfenden Klumpen durch eine sogenannte Thrombektomie entfernt – via Katheter. Die Ergebnisse bezüglich einer Heilung waren bei der auch heute noch angewandten Methode nicht so gut wie bei der medikamentösen Therapie (beide Verfahren werden heute auch kombiniert). Entsprechend alarmiert waren Neurologinnen und Neurologen über die Nachricht aus Deutschlands größter Pharmafirma. Denn Boehringer ist bis heute das einzige Unternehmen weltweit, das die Arznei produziert. „Ob andere Unternehmen sich nach Auslauf des Patents je daran versucht haben, weiß ich nicht“, sagt Fabian Agel, Pressesprecher bei Boehringer.
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© Quelle: RND
Die letzten bedeutenden Lieferengpässe – Fiebersaft und Brustkrebsmittel
278 Lieferengpässe für Arzneimittel und Medizinprodukte listet das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) derzeit (Stand 6. September) auf. Zuletzt hatten Versorgungsprobleme mit lebenserhaltenden Medikamenten wie dem Brustkrebsmittel Tamoxifen oder bei alltäglichen „Helferlein“ wie Fiebersäften für Kinder für Beunruhigung gesorgt.
Der Fiebersafthersteller Teva hatte gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) diverse Gründe für die leeren Apothekenregale angegeben – die von einer heftigen Grippewelle bis zu Lieferverzögerungen beim in Asien produzierten Wirkstoff reichten. Letztlich stellte sich als Hauptgrund ein deutlich gestiegener Preis für den Wirkstoff Paracetamol heraus (Anstieg der Transportkosten von bis zu 500 Prozent), der die Wirtschaftlichkeit der Produktion nahezu verunmöglicht habe.
Ruinöse Unterbietungswettbewerbe machen Produktion unrentabel
Mangelnde Rentabilität war auch der Verursacher der Tamoxifen-Krise. Das Brustkrebsmittel, das in etwa 15‑jähriger Therapie das Wiederauftauchen hormonangeregter Karzinome verhindern soll, war im Februar plötzlich nirgends mehr vorrätig. „Ich dachte damals, das kann nicht sein, dass Patientinnen für ein so existenzielles Medikament mit ihrem Rezept von Apotheke zu Apotheke rennen müssen“, erinnert sich Gabriele Röscheisen-Pfeifer, Inhaberin der Oldenburgischen Dobbe-Apotheke und Vorsitzende des Ausschusses für Öffentlichkeitsarbeit der Apothekerkammer Niedersachsen an die versorgungskritische Phase.
„Ein Hersteller konnte dann eine Sonderproduktion einschieben“, sagt Anna Steinbach, Mitglied der Geschäftsleitung bei Pro Generika, dem Interessenverband der Generika- und Biosimilarunternehmen in Berlin. Ende April war die Tamoxifen-Krise abgewendet. „Allerdings“, so äußerte sich Steinbach Ende Juli gegenüber dem RND, „hat sich an den Bedingungen nichts geändert. Im Gegenteil. Inzwischen ist ein weiterer Hersteller aus dem Markt ausgestiegen, weil die Produktion für ihn wirtschaftlich nicht mehr darstellbar war. Ein Engpass kann also jederzeit wieder auftreten.“ Schuld hätten vor allem die ruinösen Unterbietungswettbewerbe, die immer wieder von den selbst am Limit agierenden Krankenkassen ausgerufen würden.
Boehringer: „Wir sind lieferfähig – aber nicht vollumfänglich“
Trägt nun das nächste Arzneidebakel den Namen Actilyse? Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ) hatte in der Vorwoche berichtet, dass „die bundesweit etwa 350 zertifizierten Schlaganfallzentren (…) derzeit nur noch 90 Prozent der üblichen Liefermenge erhalten“. Das klingt zunächst so, als bliebe schon jetzt ein Teil der Patientinnen und Patienten unversorgt. „Würde jetzt drei Monate lang nichts mehr geliefert, kämen wir in einen Versorgungsengpass“, wurde der Chef der Neurologie am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Trier in der „FAZ“ zitiert.
Ein solches Szenario steht nach Unternehmensansicht nicht zu befürchten. „Wir sind lieferfähig“, versichert Fabian Agel, „wenn auch nicht vollumfänglich.“ Von einer Lieferunterbrechung könne also nicht (mehr) die Rede sein. Die kurzfristig eingeleitete 90-Prozent-Auslieferung des bisherigen Actilyse-Bedarfs wird vom Unternehmenssprecher bestätigt. „Bedarf heißt aber nicht tatsächlicher Verbrauch“, erklärt Agel. Die Kliniken, das sei Usus, würden immer eine gewisse Menge vorhalten.
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Verbesserte Gesundheitsstandards vergrößerten die globale Actilyse-Nachfrage
Der „Fall Actilyse“ hat auch weder mit mangelnder Rentabilität der Produktion noch mit Schwierigkeiten bei einer Wirkstoffverschickung aus fernen Ländern zu tun. Denn die Produktion des Wirkstoffs Alteplase und des Medikaments Actilyse für die ganze Welt läuft in Deutschland in einem einzigen Boehringer-Werk im oberschwäbischen Biberach. Die globale Nachfrage sei zuletzt immer mehr gestiegen, so Agel – was vor allem an den in vielen Ländern besser werdenden Standards in der Schlaganfallbehandlung liegt. In den letzten zehn Jahren hatte Boehringer die Produktion deswegen schon verdoppelt.
Steige der Bedarf, könne man aber nicht von heute auf morgen reagieren. Dagegen steht die Dauer der Entstehung des Medikaments – eines Biopharmazeutikums, das nicht chemisch „gebaut“, sondern in lebenden Zelllinien gezüchtet wird. „Ein Produktionszyklus von Beginn an bis zur Auslieferung dauert neun Monate“, sagt Agel. „Und lässt sich auch nicht beschleunigen.“ Wohl auch der Grund, warum Actilyse nach Patentende nicht auf Interesse von Generika-Unternehmen stieß.
So hatte man bei Boehringer „einen Punkt in der Zukunft“ ausgemacht, wo die Nachfrage durch die gegebene Produktionsgeschwindigkeit unter beizubehaltenden Qualitätsstandards nicht mehr vollständig gedeckt werden kann. Das BfARM wurde informiert, darüber hinaus medizinische Fachgesellschaften. Mit der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft ist Boehringer seither in engem Austausch. „Wir wollen das gemeinsam gut navigieren. Wir tun alles dafür, dass alle Patienten mit lebensbedrohlichen Erkrankungen mit Actilyse versorgt werden können.“
Lieferunterbrechung vermeiden – kurzfristige und langfristige Maßnahmen
Dafür, dass das so bleibt, wird – in Abstimmung mit dem BfARm – beispielsweise eine Wartungspause an der Produktionsanlage in Biberach verkürzt, was eine Mehrproduktion an Actilyse ermöglicht. Man stellt zudem jetzt mehr „kleine“ 20-Milligramm- als 50-Milligramm-Phiolen her, um es den Ärztinnen und Ärzten in den Kliniken leichter zu machen, das nach Körpergewicht verabreichte Medikament passgenau zum Patienten oder zur Patientin zu dosieren. „Dadurch wird auch ‚Verwurf‘ reduziert“, sagt Agel, das Entsorgen angebrochener aber nicht vollständig benötigter Dosen. Erst im August sei zudem ein neues Herstellungsverfahren genehmigt worden, das eine höhere „Ausbeute“ ermöglicht.
Langfristig will Boehringer die Produktion dann an einen neuen Standort nach Wien verlegen. Ein externer Wirkstofflieferant soll ab 2025 helfen, den erwartungsgemäß weiter steigenden Bedarf zu decken.
Dass bislang offenbar angemessen navigiert wird, bestätigt die Aussage von Professor Günter Höglinger, Direktor der Klinik für Neurologie an der Medizinischen Hochschule Hannover. „Bei uns zeigt sich aktuell kein Lieferengpass“, schreibt der Mediziner in einer Antwortmail an das RND. „Wir haben allerdings Maßnahmen optimiert, um sicherzustellen, dass kein Medikament verfällt oder verworfen werden muss.“ Man könne alle Schlaganfallpatientinnen und ‑patienten weiterhin korrekt behandeln.
„Dass Actilyse ganz ausbleiben würde, ist aktuell aus unserer Sicht nicht absehbar.“