Spielsucht

Im Sog der Unglücksspirale

Wer einmal vom Zocken abhängig geworden ist, hat es nicht leicht, dem Strudel der Spielsucht zu entkommen.

Wer einmal vom Zocken abhängig geworden ist, hat es nicht leicht, dem Strudel der Spielsucht zu entkommen.

Ein letztes Mal sitzt Paul Wenzel seinem Endgegner gegenüber. Es klingelt und blinkt, rotiert und rattert. Etwa hundert Euro hat er dabei, so genau kann er das im Nachhinein nicht mehr sagen. Jedenfalls alles Geld, was zu Hause zu finden war, als er sich hinaus schlich, während seine Lebensgefährtin schlief.

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Es war nichts vorgefallen, es gab keinen Anlass, er hatte es eigentlich schon so lange geschafft. Jetzt sitzt er wieder da, vor seinem Lieblingsspiel „Take 5“, die Obstsymbole flimmern vor seinen Augen. Aber irgendetwas ist anders. Die Mauer, die sich sonst um ihn herum hochzieht und ihn abschirmt von allem, fehlt. Die Gäste, die Bedienung am Tresen, alles bekommt er mit.

Um 4 Uhr morgens verlässt Paul Wenzel die Kneipe. Als Gewinner. Auch wenn es sich in diesem Moment nicht so anfühlt.

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Ein Wirrwarr von Regelungen

Jahrzehntelang hat Wenzel gewonnen und verloren, war Gefangener in einem Kreislauf. Gewinn, Verlust, Verzweiflung. Und von vorn. Der Kreislauf bestimmte sein Leben. Und er ruinierte ihn. Finanziell, sozial, emotional. Paul Wenzel war krank. Die Weltgesundheitsorganisation hat seine Krankheit 2018 offiziell anerkannt und einen Namen dafür festgelegt: Gaming Disorder. Der Volksmund kennt die Krankheit schon viel länger: Spielsucht.

Wie viele Menschen in Deutschland an dieser Verhaltenssucht leiden, kann niemand seriös sagen. Die Dunkelziffer ist hoch. Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) schätzt, dass es aktuell 330.000 Menschen mit problematischem Spielverhalten und 180.000 mit pathologischem Spielverhalten gibt. Die Übergänge sind fließend.

Deutschland kommt bei der Regulierung des Glücksspiels nicht hinterher

Der Staat versucht seit Jahrzehnten, pathologische Spieler vor sich selbst zu schützen. Doch er scheitert daran – wieder und wieder und wieder. Er könnte das Glücksspiel verbieten, aber das wäre keine Lösung, der Spieltrieb der Menschen ist stark. Also versucht der Staat, den Spieltrieb zu kanalisieren, die Anbieter zu kontrollieren – und an ihren Gewinnen mit zu verdienen. Letzteres funktioniert, allein die Automatenwirtschaft zahlt mehr als eine Milliarde Euro Vergnügungssteuer pro Jahr. Der Rest funktioniert nicht. Der Staat kommt bei der Regulierung des Glücksspiels nicht hinterher. Verschärft er die Regeln, um die Spiele langsamer und damit weniger attraktiv zu machen, lassen sich die Automatenbauer neue Spielformen einfallen (siehe Kasten). Und das sind die legalen Anbieter. Viel schlimmer sieht es im halblegalen und illegalen Bereich aus, wo angesichts von 16 Landesgesetzen sowie einem Wirrwarr an Zuständigkeiten der Wildwuchs wuchert.

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Die Glücksspiel-Umsätze steigen seit 2005 stetig.

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Beispiel Berlin: In der Hauptstadt gilt seit 2011 eines der strengsten Spielhallengesetze des Landes. Alles ist geregelt, von der Außengestaltung einer Spielhalle (Scheiben zugeklebt) über die Mindesttiefe der Sichtblenden zwischen den Automaten (80 Zentimeter) bis zum Abstand zum nächsten Konkurrenzbetrieb (500 Meter). Das Personal muss geschult darin sein, Anzeichen einer Sucht zu erkennen. Alkohol ist streng verboten, auch Speisen dürfen die Betreiber nicht anbieten. Nicht mal ein Glas Wasser ist drin. Sessel, Sofas – alles verboten. Dem Spieler soll es so unbequem wie möglich gemacht werden.

Kaffeehauskette als Spielhölle

Die Idee leuchtet ein, in der Praxis aber finden dubiose Geschäftemacher immer neue Schlupflöcher, um die Vorgaben zu umgehen. Beliebte Masche: Offiziell melden die Betreiber einen Gastronomiebetrieb an, in dem bis zu drei Automaten stehen dürfen. Und dann noch einen. Und noch einen. Alle an derselben Adresse. Dünne Trennwände und ein paar Kaffeemaschinen reichen, um aus einer Spielhölle eine Kaffeehauskette zu machen. Zumindest auf dem Papier. Solche sogenannten Café-Casinos sind illegal – und auch dem Dachverband Die Deutsche Automatenwirtschaft ein Dorn im Auge.

„Mit strengen Regeln können wir gut leben, aber sie müssen für alle gelten“, sagt Vorstandssprecher Georg Stecker. Er glaubt, dass das Berliner Spielhallengesetz das Gegenteil seines eigentlichen Zieles erreicht – und illegales Glücksspiel fördert – ohne Spieler- und Jugendschutz. Seine Forderung: In der Scheingastronomie müssten die Behörden schärfer kontrollieren und durchgreifen, zumal für Kunden der Unterschied zwischen legalem und illegalem Glücksspiel oft kaum erkennbar sei. „Café-Casinos sind eine massive Kundentäuschung – und der Staat schaut zu“, klagt Stecker.

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Der Vater als Risikofaktor

Auch die Sucht von Paul Wenzel hat nicht in einer Spielothek begonnen. Genau kann der 56-Jährige nicht mehr sagen, wann die Sache zum Problem wurde. Er weiß nur: Es ging früh los. Sehr früh. Paul ist noch ein Kind, vielleicht zehn Jahre alt, als er auf den Barhocker klettert und die ersten Groschen in die bunte Kiste wirft. Der Vater hat sie ihm gegeben, damit er noch in Ruhe ein Bier trinken kann. So läuft das in den 1960er Jahren in Hagen im südlichen Ruhrgebiet, wo Wenzel mit vier Geschwistern in einer Arbeiterfamilie aufwächst. Der Vater trinkt, die Mutter schickt den Jungen in die Kneipe, um ihn abzuholen. Der Automat ist immer da.

Am häufigsten werden Daddelautomaten genutzt: Diese Glücksspiele nutzen die Deutschen

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Er wird Pauls erster Freund. Als Teenager schenkt er ihm sein Taschengeld, als Bäckerlehrling sein erstes Gehalt. In der Diskothek oder in der Kneipe wartet sein blinkender Kumpel bereits. Er verbringt die Zeit lieber mit ihm als mit realen Freunden und vergisst den Alltag, die Sorgen. Es könnte die Welt untergehen, Hauptsache, mein Automat bleibt, denkt Paul. Bald ist er sein einziger Freund.

Warum ist Paul Wenzel spielsüchtig geworden? Untersuchungen zeigen, dass Suchterkrankungen auf zwei Dinge zurückführbar sind: auf biologisch-genetische Ursachen und auf soziale Faktoren. Dass Süchte vererbt werden, stimmt allerdings nicht. „Keine Sucht entsteht zwangsläufig“, sagt Ulrich Kemper, Chefarzt der LWL-Klinik für Suchtmedizin in Gütersloh. Menschen hätten immer eine Wahl. Aber Risikofaktoren werden vererbt, beim Alkohol etwa die Verträglichkeit. Wer viel verträgt, trinkt mehr, damit steigt das Risiko einer Abhängigkeit. Theoretisch läuft das bei allen Süchten so.

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Ersatz für verwehrte Zuneigung?

Ein gewisses Interesse am Spiel, eine Anfälligkeit, hat Wenzel also vielleicht in die Wiege gelegt bekommen. Wichtiger als die Gene aber ist die Sozialisation. Welchen Einfluss hatte der Vater als Alkoholiker, als Erzieher, als Vorbild? War er eine Belastung für die Familie? War das Spielen Ventil für Wut und Enttäuschung? Oder Ersatz für verwehrte Zuneigung?

Keine Freunde, keine Frauen, keine Hobbys – so fasst Paul Wenzel sein Leben als junger Erwachsener zusammen. Der Automat war immer verfügbar. Spielen macht einsam, das weiß er heute. „Früher hab ich gesagt: Wenn ich Familie und Kinder hab, höre ich auf. War aber nicht so.“ Im Gegenteil. Als Wenzel eine Freundin hat, die einen Jungen mitbringt, den er wie einen eigenen Sohn liebt, macht das die Sache nur noch schlimmer. Zum Spielen kommt das Lügen. Was hat sein Auto nicht plötzlich alles für Reparaturen! Er erfindet einen Kupplungsschaden für 400 Euro, sein Kumpel stellt ihm eine falsche Quittung aus. Eine Woche später geht die Kupplung wirklich kaputt. Die Freundin schmeißt ihn aus der Wohnung, er wird arbeitslos. Letzte Chance: Therapie.

Nur 8 Prozent aller pathologischen Spieler nehmen professionelle Hilfe in Anspruch, sagt Suchtmediziner Kemper. Er unterscheidet zwischen zwei Spielertypen: Da sind die „Kickspieler“, die auf Glücksgefühle aus sind, den Drang befriedigen müssen, und die „Vermeidungsspieler“, die versuchen, Angst, Stress und Schuldgefühle zu kompensieren. Wie Wenzel. Beide Arten von Spielern werden in der Therapie „ursachenbezogen behandelt“: Die einen lernen, anderweitig Positives zu erleben, die anderen, mit ihren negativen Gefühlen umzugehen.

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Prävention wäre besser

Nur: Therapien versuchen zu helfen, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Sinnvoller wäre eine bessere Prävention. Doch die bekommt der Staat nicht hin. Im Gegenteil: Sein Glücksspielmonopol, das er mit dem Schutz der Spieler begründet, wird immer löchriger. Viele Jahre gab es in Deutschland nur drei Formen des legalen Glücksspiels: Lotto mit der Sportvariante Toto, Spielbanken und Automaten. Alles andere war verboten. Doch das Internet hat den Markt verändert. Mit dem Smartphone kann jeder immer und überall spielen – auch wenn das meist nicht legal ist.

Der Glücksspielstaatsvertrag, den die 16 Bundesländer geschlossen haben, verbietet jede Art von Glücksspiel im Netz. Lediglich Schleswig-Holstein hat für 23 Anbieter Ausnahmen eingeräumt, weshalb man in der Fernsehwerbung nun häufiger den Satz hört, dass ein Angebot nur für Kunden in Schleswig-Holstein gilt.

Aber wie wahrscheinlich ist es, dass Onlinespieler beim Überschreiten der Landesgrenzen das Smartphone aus der Hand legen? Und wie erklärt man den Menschen, dass Onlineanbieter mit Lizenzen aus Malta, Gibraltar oder von der Isle of Man in Deutschland offensiv um Kunden werben, obwohl das aus Sicht der deutschen Rechtsprechung eindeutig illegal ist?

Kaum jemand bestreitet, dass die aktuellen Regeln reformbedürftig sind. Seit Jahren ringen die Bundesländer um einen neuen Glücksspielstaatsvertrag, der auch Onlinecasinos bundesweit einheitlich regeln könnte. Doch die Interessen der Länder sind verschieden. Vorreiter wie Schleswig-Holstein und Hessen dringen auf einen rechtlichen Rahmen für den bisherigen Schwarzmarkt, andere wie das Saarland oder Berlin bremsen.

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Ohne Regulierung kein Spielerschutz

Wie schwierig die Gespräche sind, zeigte sich jüngst bei der Jahreskonferenz der Chefs der 16 Staats- und Senatskanzleien in Hamburg. Im Ergebnisprotokoll findet sich zum Glücksspiel nur ein einziger Satz: „Das Thema wurde erörtert.“ Kommende Woche soll nun die Jahreskonferenz der Ministerpräsidenten auf Schloss Elmau in Bayern den Durchbruch bringen. Ein Vertreter Schleswig-Holsteins erhöht schon mal den Druck. „Onlineglücksspiel findet trotz des Verbots statt, der Markt ist riesig, und er wächst rasant“, sagt Staatskanzleichef Dirk Schrödter. Allein im unregulierten Onlinecasinomarkt beliefen sich die Spieleinsätze schon heute auf deutlich mehr als 50 Milliarden Euro im Jahr. Es sind nicht nur die ausbleibenden Steuereinnahmen, die Schrödter da stören. Ihn treibt vor allem um, dass es ohne Regulierung auch keinen wirksamen Spielerschutz gebe.

Die klassische Automatenwirtschaft würde sich wünschen, dass auch ihr Geschäft künftig im Glücksspielstaatsvertrag und nicht mehr in 16 Landesrechten geregelt würde. Die Branche will Waffengleichheit mit der immer stärkeren Konkurrenz aus dem Netz. Und manch ein Betreiber spekuliert darauf, dass eine gemeinsame Regulierung weniger streng wäre, als sie heute mancherorts ist. Dass es zu diesem ganz großen Wurf kommt, ist wenig wahrscheinlich. Die Bretter, die es zu bohren gelte, seien auch so schon extrem dick, heißt es aus Verhandlungskreisen. Jede weitere Baustelle würde die Sache verkomplizieren.

Der Automat ist immer da

Paul Wenzel tangiert das inzwischen nicht mehr, er hat es auch so geschafft. Als seine Freundin mit ihm Schluss macht, macht auch er Schluss. Er sucht sich eine Therapeutin und eine Gruppe und gründet später eine eigene. Die Gruppe gibt Halt, Hilfe, Selbstkontrolle. Er bleibt konsequent. Als er die Ex-Freundin trifft und sie nach einem Kaffee fragt, sagt er: Nein, ich muss zu meiner Gruppe. Zwei Monate später kommen sie wieder zusammen, 2016 heiraten sie. Geld ist ein Gut, das sie jetzt teilen für Urlaube, ein neues Auto, eine Renovierung. „Es fühlt sich toll an“, sagt Wenzel.

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Das letzte Spiel hatte sich nicht toll angefühlt. Es war diese Nacht, in der die Wand fehlte. Wenzel sah, was er tat. Heute weiß er, dass das nötig war. Als geheilt sieht er sich nicht an: „Ich bin spielsüchtig, das wird immer so bleiben.“ Das Rückfallrisiko ist immer da, und sein früherer Freund, der Automat, sowieso.

Auch kürzlich, als sie ihren neuen Hund abholen und an einer Raststätte halten. Wenzel sieht einen Mann am Spielautomaten. Er sieht sich selbst. Er war oft an Raststätten zum Spielen. „Aber das Einzige, das ich dachte, war: Mensch, der Kaffee hier kostet verdammte 4 Euro.“

Julia Rathcke/Andreas Niesmann/RND

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