Kann man Angststörungen mithilfe von Virtual Reality therapieren?
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Frank Schmidt und Carola Epple, Gründerin von Virtually There, mit einer VR-Brille. Sie soll für die Konfrontationstherapie eingesetzt werden.
© Quelle: Werner Albert
Das Herz rast, der Puls steigt, man fängt an zu schwitzen und zu zittern, die Atmung wird schneller: Zahlreiche Menschen in Deutschland leiden mindestens einmal im Leben unter Angststörungen. Studien zufolge bekommen Patientinnen und Patienten ihre Angststörungen am besten in den Griff, indem sie sich diesen Ängsten stellen. Auch in der Behandlungsleitlinie für Psychotherapeuten und ‑therapeutinnen wird diese Methode empfohlen.
Bei der Konfrontationstherapie gibt es zwei Herangehensweisen: in sensu und in vivo. Während bei in sensu die Situation gedanklich hervorgerufen wird, wird bei in vivo die angstauslösende Situation live vor Ort am eigenen Leib durchlebt. Für Therapeutinnen und Therapeuten ist eine Konfrontationstherapie aber häufig mit viel Aufwand verbunden. Hat jemand beispielsweise Angst vor dem Autofahren, muss sich gemeinsam in ein Auto gesetzt oder ein Fahrschullehrer für die Therapiestunde organisiert werden. Oft sind für die Konfrontation mit der Angst bestimmte Situationen nötig, die nicht so leicht umzusetzen sind.
400 Videos voller Ängste
Vor allem während der Corona-Pandemie habe sich dieses Problem bemerkbar gemacht, wie Carola Epple, Gründerin von Virtually There festgestellt hat. Mit ihrem Unternehmen will Epple Abhilfe schaffen. Dazu hat sie mit ihrem Team eine Mediathek von über 400 Videos erstellt, die mit einer Virtual-Reality-Brille ganz bestimmte Szenarien darstellen, die bei Patientinnen und Patienten Angst auslösen. „Es ist quasi wie Netflix für Therapeuten“, sagt Epple. Egal ob Angst vor Höhe, Spritzen, Autofahren oder Spinnen und Hunden – die Auswahl ist groß.
„Es ist quasi wie Netflix für Therapeuten.“
Carola Epple
Für die Therapie wird eine einfache VR-Brille benötigt, die mit dem Smartphone verbunden wird. Auf einer zuvor installierten App finden sich dann die Videos, die den Patientinnen und Patienten abgespielt werden können. Ähnlich wie bei einem Streamingportal. Es gibt allein 30 verschiedene Szenarien beim Autofahren oder 20 zum Thema Höhe. „Die Situationen sind aufgebaut wie im echten Leben mit unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden, die der Therapeut oder die Therapeutin auswählen kann“, erklärt die Gründerin. So könne sich langsam an die Angst herangetastet werden.
Blutabnahme beim Arzt – mit VR-Brille
Die Videos von Virtually There haben sie und ihr Team allesamt selbst gedreht. Wenn sie sagt, sie habe „Blut, Schweiß und Tränen investiert“, ist das nicht nur eine Floskel. Für die Videos beim Arzt habe ihr Vater, der ehemaliger Arzt ist, ihr Blut abgenommen, erzählt Epple. So seien beispielsweise die Szenarien für die Spritzenphobie entstanden. Über die VR-Brille erleben die Patientinnen und Patienten dabei dann das normale Prozedere: Betreten der Arztpraxis, Anmelden beim Empfang, Warten im Wartezimmer, aufgerufen werden und das Vorbereiten der Spritzen von der Arzthelferin.
VR als Schnittstelle
„Die Konfrontation mit Virtual Reality wäre eine Schnittstelle zwischen in vivo und in sensu“, erklärt Enno Maaß, Psychotherapeut für Verhaltenstherapie aus Ostfriesland und stellvertretender Bundesvorsitzender der Deutschen Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV). Sinn mache die Anwendung ihm zufolge allerdings nur, wenn dabei Situationen simuliert werden, die nicht einfach in der Praxis, in vivo, umzusetzen sind. „Beim Fahrstuhlfahren oder bei Höhenexposition wäre es verzichtbar, da dies auch ohne VR-Technik gut in vivo hergestellt werden kann und die Intensität der Angstauslöser recht gut skalierbar ist.“
Er selbst hat noch keine eigenen Erfahrungen mit der VR-Therapie gemacht, sieht darin aber Potenzial. „Ich denke, das Hauptproblem ist, dass es bisher kaum jemand benutzt und es noch nicht so verbreitet ist“, meint er.
Doch Epple und ihr Team sind mit ihrer Idee längst nicht allein. In Hamburg gibt es ebenfalls ein Start-up, das sich dem Thema verschrieben hat. Mit der App Invirto können Personen mit einer Angststörung zu Hause mit einer VR-Brille die Therapie durchführen. Auch dabei werden sie immer wieder von einer Therapeutin oder einem Therapeuten begleitet. Die Kosten werden von einigen Krankenkassen übernommen. Epple zufolge gibt es auch weitere Wettbewerber in Frankreich, Spanien und Österreich.
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Augmented Reality: Wie 3‑D-Simulationen den Katastrophenschutz verbessern können
Ein virtueller Ort, in dem man Eingriffe des Katastrophenschutzes und deren Folgen durchspielen kann: Forschende der Universität Potsdam und der Filmuniversität Konrad Wolf machen das mithilfe von Augmented Reality möglich. Dadurch lernen Helfer und Helferinnen, im Ernstfall bessere Entscheidungen zu treffen.
„Eine bessere Vorbereitung für Konfrontationen“
Die Psychotherapeutin Sarah Schwemin hat bereits erste Erfahrungen mit der VR-Technologie gemacht. Ihre Patientinnen und Patienten habe sie mit der VR-Brille eigenständig arbeiten lassen. Sie nutzen die App von Invirto. Aus ihrer Sicht kann die Technologie eine hilfreiche Unterstützung bei der Therapie vieler Angststörungen sein. Allerdings ersetze sie diese nicht.
„Die Vorteile sind eine bessere Vorbereitung für Konfrontationen in vivo, die meiner Ansicht nach im Anschluss meist dennoch notwendig sein werden, um Angststörungen zu behandeln“, sagt sie. Mit der vorausgegangenen Konfrontation über die VR-Brille sinke Schwemin zufolge auch die Abbruchquote.
Studie untersucht Wirksamkeit
Studien dazu gibt es wenige. In Neuseeland haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität in Otago eine Studie durchgeführt, die die Wirksamkeit einer solchen App untersuchen sollte. Die insgesamt 109 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren zwischen 18 und 64 Jahre alt und hatten eine von fünf Angststörungen: Flugangst, Höhenangst, Angst vor Spinnen, Hunde und Nadeln. Die Teilnehmenden bewerteten dann ihre Angst vor der Therapie, währenddessen und danach jeweils auf einer Skala .
Die Ergebnisse zeigten, dass die Nutzung der App bei den Angstpatientinnen und ‑patienten wirksam bei der Verringerung der Schwere spezifischer Phobiesymptome war.
Auch die Autoren einer Übersichtsstudie, die im „Journal of Medical Internet Research“ (JMIR) veröffentlicht wurde, kamen zu dem Ergebnis, dass „der Einsatz von VR in der psychischen Gesundheit ein innovatives Feld ist, das viel Potenzial birgt“.
VR ersetzt keinen zwischenmenschlichen Kontakt
Stephan Potting, der sich als Kindertherapeut viel mit der Technologie auseinandergesetzt hat, spricht sich jedoch gegen die VR-Therapie aus. „Angststörungen sind immer Beziehungsstörungen“, sagt er. Die entstehen zum Beispiel zwischen Jugendlichen und Eltern oder Freunden. „Bei der Psychotherapie wird mit der Beziehung des Therapeuten und des Klienten gearbeitet und damit eine Heilung herbeiführt“, erklärt Potting. Das gelte auch für die Konfrontationstherapie. Virtual Reality habe damit nichts zu tun.
Epple will mit ihrem Angebot aber keinesfalls die Therapie ersetzen. „Es ist ein Werkzeug, das dem Therapeuten oder der Therapeutin ermöglicht, den Patienten oder die Patientin besser zu begleiten“, so Epple.
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