Zwei Filme in einem – Sinnsuche und Thriller

Auf zu neuen Ufern, die es nicht gibt – der Film „Nostalgia“ führt ins Neapel der Camorra

Rückkehr in die Heimatstadt: Felice Lasco (Pierfrancesco Favino) will noch einmal seine Mutter sehen. Szene aus dem Film „Nostalgia“, der am 8. Juni in den deutschen Kinos startet.

Rückkehr in die Heimatstadt: Felice Lasco (Pierfrancesco Favino) will noch einmal seine Mutter sehen. Szene aus dem Film „Nostalgia“, der am 8. Juni in den deutschen Kinos startet.

Eine Mischung aus „antikem Charme und modernem Charakter“ wird Neapel attestiert. Nicht so ordentlich oder grau wie im Norden, sondern immer noch etwas mysteriöser, chaotischer, farbenprächtiger. Vielleicht ein Paradies, wenn da nicht die Camorra wäre, die organisierte Kriminalität mit ihren Familienclans.

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Der Faszination des alten Viertels kann sich Felice nicht entziehen

Die zieht auch in Mario Martones „Nostalgia“, der Verfilmung der gleichnamigen Buchvorlage von Ermanno Rea, im Hintergrund die Fäden. Nach 40 Jahren im Ausland und Konvertierung zum Islam kehrt Felice (Pierfrancesco Favino) in seine Heimatstadt zurück, um seine Mutter noch einmal zu sehen, und kann sich der Faszination des Viertels Sanità, wo er aufgewachsen ist, nicht entziehen.

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Erinnerungen an seine ärmliche Jugend und seinen Kumpel Oreste (Tommaso Ragno), inzwischen ein skrupelloser und von Selbsthass zerfressener Bandenchef, lassen ihn nicht mehr los. Trotz aller Warnungen will er an die alte Jugendfreundschaft wieder anknüpfen und steuert geradewegs auf eine Katastrophe zu, so vermeidbar wie unausweichlich.

Bewegende innere Reise aus Trauer, Bedauern und falscher Hoffnung

Das Drama nimmt mit auf eine bewegende innere Reise aus Trauer, Bedauern und falscher Hoffnung, auf eine Reise durch die brutale und hässliche, aber auch romantische Stadt. Die Seele des Films ist der grandios aufspielende Favino als in sich gekehrter Felice, der seine fast blinde Mutter besucht, die er seit seinem 14. Lebensjahr nicht mehr gesehen hat, als er damals Hals über Kopf die Stadt verließ.

Ein schmerzliches Wiedersehen mit berührenden Szenen: Wenn sie nur langsam ihre Scham verliert, als der 55-Jährige sie vorsichtig badet, oder er sie für die letzten Tage noch aus dem dunklen Wohnloch holt und in ein sonniges Appartement einquartiert. Da ist der Stolz der gebrechlichen Frau auf ihren Sohn zu spüren, der es zu etwas gebracht hat. Nach ihrem Tod entscheidet er sich, in Neapel zu bleiben und seine Frau aus Ägypten nachzuholen.

Die katholische Kirche kämpft noch immer gegen die Camorra

Wenn er wie in alten Zeiten mit dem Moped durch die Straßen brettert, fühlt er sich bereit zu neuen Ufern, obgleich es die nicht gibt. Nicht viel hat sich geändert. Die katholische Kirche kämpft immer noch gegen die Camorra. Priester Don Luigi (Francesco Di Leva), der in einigen Szenen der legendären Figur des Don Camillo aus den erfolgreichen französischen Filmen der 1950er-Jahre ähnelt, tut alles, um den naiven Felice von Oreste fernzuhalten, und wünscht dem Gangster ganz unchristlich den Teufel an den Hals, liest die Messe vor der Kirche, um zu beweisen, dass er sich nicht einschüchtern lässt.

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Und er versucht kreuzunglücklich, den Jugendlichen eine Alternative zu bieten, die in seinem Kirchengarten Musik machen und abhängen, unsicher in ihre Zukunft blicken – dem schnellen Geld durch Gaunerei nachjagen, oder ein „normales“ Leben unter dem Druck der Camorra führen, die mit der Schattenwirtschaft die Ökonomie am Laufen hält.

Die Bevölkerung schweigt, um nicht ins Visier der Mafia zu kommen

Vor allem aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit schließen sich junge Leute der Camorra an. Und dann ist da die Bevölkerung, die schweigt über Erpressung und Wucher, über das, was sie weiß, um nicht ins Visier der Ganoven zu kommen, und sich aus allem raushält.

Lange Zeit bleibt im Dunkeln, was vor 40 Jahren geschah. Erst die sich wiederholenden Rückblenden in Super-8 enthüllen die Vergangenheit von Felice und Oreste, die als Teenager das Leben erobern wollten, bis ein tödlicher Fehler sie aus der Bahn warf. Ein Fehler, der bis in die Gegenwart hineinwirkt.

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Die Camorra ist eine Organisation ohne jeden Gangster-Glamour

Mafiafilme setzen meistens auf bewährte Bausteine wie den imposanten Paten, schillernde Clanstruktur, interne Machtkämpfe. Martone verzichtet auf die Kitschfalle dieser Klischees. Die Camorra, die inzwischen die sizilianische Mafia an Einfluss überholt haben soll, gehört zum Alltag. So fehlt auch beim erzwungenen Treffen von Felice und Oreste im Allerheiligsten der Organisation jeglicher Glanz – es ist ein heruntergekommenes und schwer bewachtes Domizil.

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Der in Neapel geborene Martone hat ein Auge für die Schönheit und den Verfall dieser Stadt, für die verwinkelten Gassen und ihre Bewohner. Die atmosphärisch dichten Bilder entwickeln einen verführerischen Sog, man glaubt, den Müll am Straßenrand zu riechen, den Gestank der Autos wie den Duft der Pizzen oder der bunten Obst- und Gemüsemärkte. Paolo Carnera entdeckt mit der Kamera auf der Schulter die Facetten des Viertels, macht es zu einem eigenen Charakter – gerade am Anfang.

Erst kommt die Sinnsuche, dann folgt der Thriller

Da schlendert Felice durch vertraute Straßen, über pittoreske Plätze, besucht Geschäfte und Kirchen, merkt spät, dass ihm Gefahr droht, dass Elend und Unheil lauern. Durchzogen von sanfter Sehnsucht gelingt die Balance zwischen Sinnsuche im ersten Teil und Thriller im zweiten, auch wenn vom Zuschauer streckenweise ein langer Atem verlangt wird.

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Dennoch: „Nostalgia“ ist eine melancholische Huldigung an diese wunderbare, widersprüchliche Stadt Neapel.

„Nostalgia“, Regie: Mario Martone, mit Pierfranceso Favino, Francesco Di Leva, Tommaso Ragno, 118 Minuten, FSK 12

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