Autorin Irene Dische: Das Gendern wird nicht zur Gleichheit zwischen den Geschlechtern führen

Die deutsch-amerikanische Schriftstellerin Irene Dische.

Die deutsch-amerikanische Schriftstellerin Irene Dische.

Hannover. Irene Dische wurde 1952 in New York geboren. Ihre Familie hat einen jüdisch-katholischen Hintergrund und floh vor den Nationalsozialisten. Davon erzählt die Schriftstellerin etwa in ihren erfolgreichen Erzählungen „Fromme Lügen“ (1989) und im Roman „Großmama packt aus“ (2005). Dische, die teils in der Nähe von New York, teils in Berlin lebt, schreibt auf Englisch. Gerade ist ihr neuer Roman „Die militante Madonna“ (Hoffmann und Campe, Deutsch von Ulrich Blumenbach, 224 Seiten, 22 Euro) erschienen.

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Frau Dische, in Ihrem neuen Roman erzählen Sie vom Chevalier d’Eon, der als erster Transvestit gilt. Wie sind Sie auf diese Figur gestoßen?

Ich arbeitete an einem Roman, der im 18. Jahrhundert spielt. Bei der Recherche begegnete ich vielen wahnsinnig interessanten Figuren. Das 18. Jahrhundert war eine exzentrische, wilde Zeit und in mancherlei Hinsicht auch sehr frei. Irgendwann stieß ich auf den Chevalier, der mal als Mann, mal als Frau gelebt hatte. Er war damit keine Einzelerscheinung. Die Zarin Elisabeth zum Beispiel trat viele Jahre gern als Mann auf. Dieses „Crossdressing“ spielte sich auf höchster Staatsebene ab, aber auch bei den einfachen Leuten. Zu der Zeit, als ich auf ihn stieß, tobte die Genderdiskussion, und ich merkte, d’Eon hat dazu etwas zu sagen.

Der Chevalier wurde 1728 in Frankreich geboren, lebte eine Weile am russischen Zarenhof, später in London, dann kehrte er für mehrere Jahre in seine Heimat zurück. Er war Autor, Diplomat und auch als Spion eingesetzt, er war er ein berühmter Degenfechter und rekrutierte ein Frauenbataillon. Seine Biografie ist nahezu unglaublich.

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Ursprünglich dachte ich, das sei ein toller Stoff für einen Film oder eine Serie. Eigentlich wollte ich ein fünfseitiges Filmexposé schreiben, doch die Arbeit daran hat mir so viel Spaß gemacht, dass daraus der Roman „Die militante Madonna“ wurde.

Was hat daran besonders Spaß gemacht?

Die gesamte Lebensgeschichte des Chevaliers ist aberwitzig. Auch die Liebesgeschichte zwischen d’Eon und Pierre de Beaumarchais, den man heute vor allem als Autor von „Der Barbier von Sevilla“ und „Die Hochzeit des Figaro“ kennt, war hoch kompliziert und fesselnd. Beaumarchais war ein Verräter; ein vertrauter Typus. Überhaupt kamen mir viele der historischen Figuren bekannt vor. Dazu kam, dass Genderfragen heute als etwas ganz Neues, Revolutionäres abgehandelt werden. Da hat mich die Figur des Chevaliers zusätzlich interessiert.

Für ein paar Jahre kehrte d’Eon nach Frankreich zurück, um dem König gegen Geld Geheimpapiere zu überlassen. Warum musste er sich da verpflichten, ausschließlich Frauenkleider zu tragen?

Das hatte einen schlichten ökonomischen und rechtlichen Grund: Als Frau konnte er sich nicht wehren, weil Frauen zu dieser Zeit rechtlich machtlos waren. Seinen Widersachern ging es nicht darum, dass d’Eon sich als Frau geben sollte, die er möglicherweise tatsächlich war. In den Jahren vor seiner Rückkehr nach Frankreich war er ja sehr einflussreich, weil er viel geschrieben hat – journalistische und literarische Texte.

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Die bildeten Ihre Recherchegrundlage?

Ich halte mich im Roman weitgehend an die historischen Fakten. Ausgeschmückt habe ich einiges, Figuren zusammengelegt und so weiter. D’Eons Interesse für den Unabhängigkeitskampf der USA ist authentisch. Auch wenn es da für ihn nicht nur um die Freiheit Nordamerikas ging, sondern vor allem ökonomische Interessen eine Rolle spielten.

Wer vermeintlich Falsches sagt, wird bestraft

Gleich im Vorwort werden die Vorbehalte des Chevaliers gegen heutige Zustände deutlich: Er wirft uns unsere Ansicht vor, die Wahlfreiheit erfunden zu haben, ein Mann oder eine Frau zu sein. Dabei hätten wir nur Regeln und Kontrolle erfunden. Welche Kontrolle?

In den USA ist das gesamte Gender­thema viel brisanter als in Deutschland. Dort werden Leute richtig bestraft, wenn sie etwas vermeintlich Falsches sagen. Es ist eine seltsame Rigidität eingezogen. Ständig heißt es: Das darf man nicht sagen. D’Eon hingegen hat, wie einige in der Zeit, einfach gemacht, was er wollte, ohne es als das Wichtigste der Welt zu benennen. Befindlichkeiten werden zurzeit so derart ernst genommen. Und es gibt einen Zwang zur Identitätsfestlegung. Einer meiner ältesten Freunde, der an einer großen US-Universität unterrichtet, muss am Anfang eines Semesters sagen: Ich bin cisgender, und ich bin homosexuell, und ich bin jüdisch. Wenn er das nicht macht, bekommt er massive Probleme.

Die Möglichkeit, sich wie der Chevalier äußerlich für ein anderes Geschlecht als das angeborene zu entscheiden, ist für viele Menschen doch befreiend.

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Männliche und weibliche Eigenschaften sind bei jedem vorhanden. Wir sind alle ein bisschen weiblich und ein bisschen männlich. Jetzt kommt es mir so vor, als müsse man alles Uneindeutige verhindern, alles wird festgelegt unter dem Titel Identität. Diese ganzen wunderbaren Zwischentöne, die jeder Mensch hat, werden nivelliert. Und dass man öffentlich sagen muss, welche sexuelle Orientierung man hat? Das ist unglaublich anmaßend. Ich will auch nicht sprachlich festlegen müssen, ob ich ein Mann oder eine Frau bin. Die Gleichheit der Geschlechter wird eintreten, wenn diese ganz selbstverständlich ökonomisch und rechtlich, in jeder Gesellschaft, total gleichgestellt sind.

Halb als Mann, halb als Frau gekleidet: Chevalier D Eon.

Halb als Mann, halb als Frau gekleidet: Chevalier D Eon.

Ihnen geht es wie Ihrer Romanfigur? Es wird Ihnen zu viel Wind um das Genderthema gemacht?

Wenn jemand sagt: Ich bin jetzt ein Mann, vorher war ich eine Frau, ist das seine gültige, ernst zu nehmende Entscheidung – aber ich kann nicht nachvollziehen, dass es die allerwichtigste in der Welt ist. Mir scheint, da hat sich eine wahnsinnige Ichbezogenheit breitgemacht, eine Fokussiertheit auf das eigene Befinden.

Sind wir zu egozentrisch?

Die Welt ist in so einem schlechten Zustand, vielleicht sollte das individuelle Befinden nicht im Vordergrund stehen.

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Ihre Hauptfigur sagt auch: „In meiner Zeit und in meinen Kreisen sprachen wir, wie es uns gefiel.“ Können wir das heute nicht?

Nein, darf man nicht. Die Sprache wird schriftlich und mündlich kon­trolliert.

Gerade das Gendersternchen kann doch interessant sein: Es eröffnet das Nachdenken und die Diskussion über unsere Sprache.

Ich habe nichts dagegen; es ist ja nicht meine Sprache. Aber man sollte sich nicht vormachen, dass das Sternchen die Gleichheit zwischen den Geschlechtern einführt. Die türkische und die persische Sprache sind total genderfrei, noch mehr als Englisch. Da gibt es sogar weder ein Er noch ein Sie. Ich glaube nicht, dass man daraus ableiten kann, dass es in der Türkei und in Persien keine Unterdrückung der Frau gibt.

Bislang ist Ihr Buch noch nicht in den USA erschienen. Warum?

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Meine Bücher sind immer erst auf Deutsch erschienen. Ob dieses in den USA erscheint, weiß ich nicht. Meine amerikanischen Freunde, die das Buch gelesen haben, meinen: Das wird man in den USA nicht veröffentlichen können. Meine Agentin will es erst in England anbieten.

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