Schönheit, die von innen kommt: David Cronenberg provoziert in Cannes mit „Crimes of the Future“
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Léa Seydoux und David Cronenberg bei der Premiere von „Crimes Of The Future" in Cannes.
© Quelle: Getty Images
Ein Skandalfilm ist ein Muss bei jedem Festival, das auf sich hält. Alle warten auf diesen einen Film, um sich dann genüsslich darüber herzumachen. Beim 75. Cannes-Filmfestival stand David Cronenberg schon vorab im Verdacht, das Aufregerwerk der Saison im Angebot zu haben. Der Meister des Bodyhorrors („Die Fliege“, „eXistenZ“) meldete sich am Montag mit „Crimes of the Future“ an der Côte d’Azur zurück – und warf einen Blick in eine menschliche Zukunft, wie wir sie nicht erleben wollen.
Auch den internationalen Kosmetikkonzernen, die in Cannes allabendlich ihre Models über den roten Laufsteg schicken, dürfte das Werk kaum gefallen: Der kanadische Regisseur entwirft ein blutiges Schönheitsideal, das von innen kommt. Die äußere Hülle ist künftig zu vernachlässigen. Attraktive Körper werden mit Skalpellen aufgeschnitten – und Cronenberg ist alles andere als ein Freund invasiver OP-Techniken.
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Es gibt hier auch so etwas wie „Innere Schönheitswettbewerbe“. Und da kommt Saul Tenser (Viggo Mortensen) ins Spiel. Wie ein mittelalterlicher Schmerzensmann läuft er im schwarzen Umhang mit Kutte durch eine abgeranzte Zukunftswelt, die wie unsere Vergangenheit aussieht.
Der Mann ist ein Star. In seinem Körper wachsen „brandneue Organe“ heran. Seine Partnerin Caprice (Léa Seydoux) schneidet sie auf einem sargähnlichen OP-Tisch mit ferngesteuerten Messern an Greifarmen aus ihm heraus. Das Publikum ergötzt sich an diesen Performances mit einem Gläschen in der Hand.
„Operationen sind der neue Sex“, heißt es hier. Womöglich sehen das Schönheitschirurgen ja heute schon so. Cronenberg hat in Cannes bereits in seinem Autounfallfilm „Crash“ (1996) Lust und Versehrung zusammengebracht. Wer in „Crimes of the Future“ noch küsst und nicht seziert, gilt als old fashioned.
Nationales Organregister
Doch nun scheint die menschliche Evolution aus dem Ruder zu laufen. Staatliche Stellen sind alarmiert, auch das Nationale Organregister. Und da erst zeigt sich, was diesen Film zum Aufreger macht: Performancekünstlerin Caprice will einen von seiner verzweifelten Mutter ermordeten achtjährigen Junge nach allen Regeln der Show obduzieren. Mal schauen, was sich im Körper so findet.
Will man das sehen? Cronenberg hat in Cannes gesagt, dass ihn der Tod seiner Frau und seiner Schwester zu dem Film inspiriert hätten.
Erinnerungen an „Der Name der Rose“
Park Chan-Wook, Gründervater des koreanischen Filmwunders und gefeiert in Cannes seit „Oldboy“ (2004), ging mit „Decision to Leave“ an den Start. Man fühlt sich in einen Noir-Krimi unserer Gegenwart versetzt: Ein Polizist (Park Hae-il) verliebt sich in eine undurchsichtige Verdächtige (Tang Wei).
Es geht um ein bis zwei ermordete Ehemänner, ebenso koreanisch-chinesische Kommunikationsschwierigkeiten, Schlafstörungen und verräterische Handys. Gefilmt wird vor exquisiter Naturkulisse. Der Regisseur gibt seinem Krimi aber einen eigenen Dreh: Die Verbrechen bringen die Liebenden näher zusammen, nicht auseinander.
Aus den bisherigen Wettbewerbsbeiträgen stach der Politthriller „Boy from Heaven“ des schwedisch-ägyptischen Regisseurs Tarek Saleh heraus. Der Fischerjunge Adam (Tawfeek Barhom) darf dank Stipendium an der einflussreichen Al-Azhar-Koranschule in Kairo studieren – und gerät zwischen die Fronten von Politik und Religion. Der zynische Geheimdienstmann Ibrahim (Fares Fares) bringt Adam unter seine Kontrolle und dessen Leben in Gefahr.
Erinnerungen an Umberto Ecos „Der Name der Rose“ sind gewollt. In Ägypten durfte Saleh nicht drehen. Er wich in die Türkei aus.
Eine anrührende, semi-autobiografische und dazu noch über sich selbst hinausweisende Familiengeschichte hat James Gray in „Armageddon Time“ präsentiert: Die Reagan-Jahre ziehen in den USA herauf. Der New Yorker Paul ist ein träumender Teenager in einer jüdischen Familie, in der der Holocaust stets präsent ist. Seine Eltern (Anne Hathaway, Jeremy Strong) und auch sein Großvater (sanfter Altersweiser: Anthony Hopkins) wollen, dass aus Paul etwas Besseres wird.
Paul freundet sich mit einem schwarzen Jungen Johnny an, dessen Zukunftschancen in dem von Bauunternehmer Fred Trump (genau: der Vater von Donald) beherrschten Stadtviertel Queens alles andere als rosig sind. Sanft erzählt Gray (1969 geboren) nicht nur vom Zerbrechen einer Freundschaft, sondern auch von Rassismus und dem beginnenden Auseinanderdriften der US-Gesellschaft.
Zwei frühere Palmengewinner zeigten sich als Verfechter eines düsteren Menschenbildes: Der Schwede Ruben Östlund („The Square“) katapultierte dekadente Kreuzfahrtgäste in seiner grellen Satire „Triangle of Sadness“ aus ihrer Komfortzone. Der Rumäne Cristian Mungiu („4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“) zeigte Europa in dem intensiven Drama „R.M.N“ als rassistischen Verschiebebahnhof von Arbeitskräften.
Andere Festivals wären über diese Halbzeitausbeute entzückt, in Cannes werden täglich Meisterwerke erwartet. Bis zur Palmenvergabe am Samstag bleibt noch ein wenig Zeit.
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