Autor und Professor in Yale

100. Geburtstag von Peter Demetz: „Ich habe mehrere Heimaten“

Herr Demetz, Sie werden in wenigen Tagen 100 Jahre alt. Was bedeutet für einen Mann der Buchstaben und der Worte solch eine Zahl?

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Es ist eine überraschende Zahl, denn ich habe mein Leben ja in großer Gefahr verbracht, vor allem in jungen Jahren. Und es wurde nicht besser, als ich nach meiner Emigration aus Prag im Jahr 1949 als Flüchtling in Deutschland ankam. Die Idylle beginnt erst viel später.

Sie sind 1922 in eine jüdische Familie geboren worden und haben zwischen 1939 und 1945 die deutsche Okkupation in Prag erlebt. Ist dieses hohe Alter für Sie auch eine Genugtuung und so etwas wie ein später Sieg über die Nationalsozialisten?

Ich habe nicht das Gefühl einer Genugtuung, aber das Gefühl einer überstandenen Gefahr. Ich selbst habe ja nichts zur Niederlage der Nationalsozialisten beigetragen. Ich habe unter anderem bei Siemens in Berlin gearbeitet, wo ich zwei, drei Monate war. Als Sklave zu arbeiten, kann man nicht als Beitrag zur Niederlage der Nationalsozialisten rechnen. Selbst wenn der Sklave damals seine Aufgaben nicht erfüllt hat.

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Hat Sie diese Zeit für Ihr weiteres Leben geprägt?

Nein, ich habe so viele verschiedene Perioden durchlebt, die eine stand selten mit der anderen in Verbindung. Ich habe mehrere Leben gelebt, alle zehn Jahre ein anderes Leben geführt. Fest steht: Das Leben in meiner Jugend war gefährlicher als mein Leben heute. In meiner Jugend war ich der „jüdische Mischling“, der immer Rechnung ablegen musste über seine Eltern – während mich heute kaum noch jemand danach fragt.

Glücklicherweise.

Glücklicherweise! Das kann man wohl sagen.

Sie haben Ihrer Heimatstadt mit Ihrem Buch „Mein Prag“ ein bewegendes Porträt gewidmet. Was ist das Besondere an dieser Stadt?

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Das Besondere an Prag ist oder besser war das Nebeneinander der Nationen und Religionen, die miteinander gelebt haben und miteinander auskommen mussten.

Auskommen mussten oder auskommen durften?

Durften und wollten.

Ist ein solches Nebeneinander von fremden Völkern, Kulturen und Religionen in der heutigen Zeit schwieriger zu leben?

Ich glaube, dass diese Koexistenz in der alten Form, wie sie in Prag existierte, nicht mehr lebensfähig ist. Es hat sich heute alles verändert, auch das Miteinander und Nebeneinander der Nationen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Prager Art, zusammen zu leben, heute noch machbar ist.

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Warum nicht?

Weil die einzelnen Nationen die Unterschiede zu sehr betonen. Man hat sie damals zwar auch hervorgehoben, aber in einem sehr freundlichen Sinn. Das scheint mir zu fehlen. Heute wird das Anderssein von Kulturen, Religionen und Menschen nicht als Bereicherung gesehen, sondern als Problem. Damals war es unproblematisch. Es war familiär.

Sie leben seit vielen Jahrzehnten in den USA und damit in einem Land, in dem die Einwanderung von Menschen und das Nebeneinander von Kulturen eine große Rolle spielen.

Gleichzeitig spielt die Angleichung eine große Rolle. Wenn der Emigrant kommt, versucht er sich möglichst rasch anzupassen und anzugleichen. Und nicht seine eigene Physiognomie zu betonen.

Wann waren Sie das letzte Mal in Prag?

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Das ist schon mindestens 15 Jahre her. Nach der Wende bin ich einmal pro Jahr zurückgegangen, so lange meine Stiefmutter lebte, und dann einmal wieder im Jahre 2008, um meinen Vetter und Freunde noch mal zu besuchen. Später habe ich keine sinnvolle Gelegenheit wahrgenommen.

Sie haben in Ihren ersten Jahren in Prag gelebt, Sie waren zwischendurch kurze Zeit in Berlin, Sie sind dann ein Jahr nach Beginn der kommunistischen Herrschaft in der damaligen Tschechoslowakei wiederum nach Deutschland geflohen, um schließlich 1953 in die USA auszuwandern. Was ist Ihre Heimat?

Das ist nicht einfach. Ich kann sagen, dass Böhmen meine ursprüngliche Heimat ist, aber praktisch sind es die Vereinigten Staaten.

Was machen die USA zu ihrer Heimat?

Das tägliche Leben. Meine Arbeit, das Auf und Ab, das sich hier im Alltag ergibt und sich lange ergeben hat in meiner Berufsarbeit als Universitätsprofessor in Yale. Das alles kann man nicht ignorieren.

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Jetzt habe ich Sie eben nach Ihrer Heimat gefragt. Aber muss Heimat immer ein Singular sein?

Nein, das muss es nicht, und wahrscheinlich ist es in meinem Fall auch gar kein Singular. Es hätte für mich tatsächlich Sinn, von Heimaten im Plural zu sprechen. Aber die eine Heimat ist mehr Heimat und anders Heimat als die andere. Die eine Heimat ist die Heimat der sentimentalen Erinnerungen. Die andere die Heimat der praktischen Vorgänge.

War es insofern gut, nicht nach Prag zurückzukehren, um Ihre Erinnerungen so zu bewahren, wie sie sind?

Ich spüre keinen Drang zurückzugehen. Weil ich wenige Menschen kenne, die noch in Prag ausgedauert haben. Ich wäre in einer Stadt ohne Erinnerungen, ohne Erinnerungen an bestimmte Menschen.

Ihr Kollege Marcel Reich-Ranicki hat einmal von der deutschen Literatur als „portatives Vaterland“ – also von einer tragbaren Heimat – gesprochen. Können Sie diesen Gedanken verstehen?

Ja, ich kann ihn nachvollziehen. Und es erinnert mich an eine Zeit, in der ich Reich-Ranicki als glücklichen Menschen sah. Es ist eine Anekdote, die ich nie vergesse: Ich habe einmal Marcel Reich-Ranicki zu einem Vortrag über deutsche Literatur nach Yale einladen können. Und das hat ihn unendlich glücklich gemacht. Ich habe ihn damals vom Flugplatz abgeholt und er hat nur gelacht, sich glücklich gezeigt und betont, wie wichtig es ist, an einer alten Universität über neue deutsche Literatur zu sprechen. Dieser war einer seiner glücklichen Momente.

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War Ihnen die Literatur an den verschiedenen Orten Ihres Lebens auch eine Art Vaterland, eine tragbare Heimat?

Auch in diesem Punkt hatte ich gelegentlich ein doppeltes Vaterland, denn nicht nur die deutsche, auch die tschechische Literatur hat mich sehr geprägt. Ich war dreieinhalb Jahre lang tschechischer Kulturredakteur des Senders Freies Europa. Dieser sendete zwar auch in polnischer, slowakischer und anderen Sprachen. Aber ich habe das Amt des tschechischen Kulturredakteurs verwaltet und in der Zeit manches publiziert.

Was zum Beispiel?

Etwa eine Anthologie tschechischer Emigranten, die hieß „Neviditelný domov“, zu Deutsch: „Die unsichtbare Heimat“. Alle Mitglieder, die damals darin publiziert wurden, gehören in die erste Reihe der tschechischen Literatur. Darunter waren Ivan Blatný, Milada Soucková, Frantisek Listopad, Jan Tumlír und viele andere. Ich habe also auch in meiner anderen, der tschechischen, Heimatliteratur meinen Beitrag geleistet. Ich denke, die Anthologie „Die unsichtbare Heimat“ ist ein gutes Zeichen dafür. Ich habe auch aus dem Tschechischen übersetzt, zum Beispiel die klassische Erzählung „Großmutter“ von Bozena Nemcova.

Ein Prager Schriftsteller, der Sie Ihr Leben lang begleitet hat, ist Franz Kafka. Worauf gründet Ihre lebenslange Begeisterung für Kafka?

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Die erklärt sich durch meine erste Publikation. Ich war Student an der Prager Universität und edierte 1947 ein Buch in tschechischer Sprache, das hieß übersetzt „Franz Kafka und Prag. Erinnerungen, Erwägungen und Dokumente“. Dieses Buch war ein entscheidender Grund, warum ich Prag verlassen musste.

Die Inspiration: Der Schriftsteller Franz Kafka ist mit seinen Arbeiten Vorbild für ein Multimedia-Projekts des hannoverschen Theaters fensterzurstadt.

Alte Liebe: Schon als Student editierte Peter Demetz ein Buch über Franz Kafka.

Warum das?

Weil sich die Prager Intellektuellen damals in zwei Gruppen teilten: erstens in die Kommunisten und zweitens in die anderen. Und die anderen erwählten sich Kafka sozusagen als ihren Bannerträger. Die scharten sich um seinen Nachlass und blieben ihm treu. Während die Kommunisten ihn ignorierten.

Was genau führte dann zu Ihrer Emigration?

Wer über Kafka publizierte, machte sich politisch unmöglich. Allerdings war bei mir ebenso entscheidend der Umstand, dass ich mit den Leuten vom Sender Freies Europa zusammenarbeitete.

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Sie haben auch ein Buch über Diktatoren und ihr Verhältnis zum Kino geschrieben. Was meinen Sie, geht Wladimir Putin ins Kino?

Ich glaube, der geht nicht ins Kino und hat keine Ahnung vom Kino.

Welche Bedeutung hatte das Kino für Diktatoren wie Hitler und Stalin?

Eine erstklassige Rolle, zum einen natürlich zu Propagandazwecken. Aber Stalin etwa war darüber hinaus ein Filmfan und hat einiges beigetragen zur sowjetischen Kinematografie, er hat auch selbst in die Filmproduktion eingegriffen. Aber auch jenseits von Diktatoren gibt es gerade in Prag eine lange und große Kinotradition. Man muss sich etwa klarmachen, dass Václav Havel, der nach dem Fall des Eisernen Vorhangs tschechischer Präsident war, aus einer film- und kinoverrückten Familie kam. Sein Vater und andere Familienmitglieder haben die ersten US-Western in die Kinos gebracht und die berühmten Barrandov-Filmstudios gegründet.

In Ihrem jüngst erschienenen Buch „Was wir wiederlesen wollen“ sind neben vielen Ihrer literaturkritischen und literaturhistorischen Texte aus fünf Jahrzehnten auch Essays über das Kino und über Schauspieler zu lesen. Was macht das Kino so einzigartig, dass Sie sich über Jahrzehnte mit ihm beschäftigt haben?

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Das Kino ist eine alte Liebe. Es begann damit, dass ich in Prag ins Kino ging, dass ich in Brünn ins Kino ging. Und das habe ich nie vergessen. An die Filme erinnere ich mich noch heute. Ins Kino zu gehen ist immer etwas Besonderes. Ich kann nur bedauern, dass ich hier die alten Filme sehr selten sehe. Ich kann sie ab und an im Fernsehen anschauen. Aber die Gelegenheiten, alte tschechische Filme im Kino zu sehen, sind sehr dünn gesät.

Das Bild, das momentan hier in Europa von den Vereinigten Staaten gezeichnet wird, ist das eines Landes, das sich in einem Kulturkampf zwischen Liberalen und Konservativen befindet. Teilen Sie diese Sicht auf das Land, in dem Sie leben?

Nein. Weil ich glaube, dass so etwas wie ein Kulturkampf gar nicht existiert. Kultur ist eine Konzeption, die nicht auf Kampf ausgerichtet ist, sondern auf Mitteilung und Akzeptanz. Deswegen würde ich darauf verzichten, von einem Kulturkampf in Amerika zu sprechen.

Die erste Heimat: Aufgewachsen ist Peter Demetz in Prag.

Die erste Heimat: Aufgewachsen ist Peter Demetz in Prag.

Sie haben sich in Ihren Texten über Literatur mit Klassikern genauso beschäftigt wie mit der Moderne. Sie haben auch immer wieder die jeweilige Gegenwartsliteratur rezensiert. Was lesen Sie heute?

Ich lese die verschiedensten Dinge. Momentan interessiert mich zum Beispiel der Schriftsteller Paul Laurence Dunbar. Er war einer der ersten schwarzen Autoren, der internationale Bedeutung und Beachtung genossen hat. Dunbar hat sehr gute Gedichte geschrieben, die ich gern ins Deutsche übersetzen möchte. Oder ich habe Curt Leviants Roman „Kafka’s Son“, also „Kafkas Sohn“, gelesen, den es allerdings noch nicht in deutscher Sprache gibt. Es ist ein Roman über die Pilgerschaft eines amerikanischen Filmemachers nach Prag, wo er mit Kafka-Freunden in Berührung kommt.

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Sie sind also weiterhin ein großer Leser?

Bücher begleiten mich weiter und ich verfolge auch sehr intensiv amerikanische Publikationen. Da ist mir zum Beispiel „Adriatic“ von Robert D. Kaplan in Erinnerung geblieben, ein Buch über Europa erzählt anhand der Länder an der Adria. Oder der Roman „The Hotel Nantucket“ von Elin Hilderbrand über den historischen Touristenansturm an der italienischen Küste. Sie sehen: Ich lese alles, was mir unter die Finger kommt und das von einiger Bedeutung und Interesse ist.

Hat die Literatur Ihnen geholfen, das Leben zu verstehen oder es sogar in manchen Lebenssituationen zu ertragen?

Vor allem zu ertragen. Es hat mir sehr geholfen, mich auch in schwierigen und schlimmen Zeiten anzugleichen und auszugleichen.

Am 21. Oktober wird Peter Demetz 100

Er ist ein Wandler zwischen mehreren Welten: Peter Demetz wurde am 21. Oktober 1922 in Prag geboren. Sein Vater war Theaterdirektor, sodass er schon früh die Welt der Künste kennenlernte. Seine jüdische Mutter wurde 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie 1943 starb. Demetz musste während der NS-Herrschaft Zwangsarbeit leisten. Nach dem Beginn der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei emigrierte er 1949 nach Deutschland, wo er für den Sender „Freies Europa“ als Kulturredakteur arbeitete.

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Nach seiner Promotion an der Karls-Universität in Prag 1948 promovierte Demetz 1956 erneut an der Yale University, wo er bis zu seiner Emeritierung 1991 lehrte. Der deutsch-tschechisch-jüdische Germanist war 1953 in die Vereinigten Staaten ausgewandert, wo er bis heute lebt.

Demetz war zeitweise Vorsitzender der Jury des Bachmann-Preises. Er schrieb zahlreiche Bücher, unter anderem seine Erinnerungen „Mein Prag“ (Zsolnay, 400 Seiten, 19,99 Euro) und „Diktatoren im Kino“ (Zsolnay, 256 Seiten, 24 Euro). Seit den Siebzigerjahren erschienen zahlreiche Zeitungsartikel und Essays unter anderem in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“. Eine Auswahl der immer noch aktuellen und bereichernden Texte sind vor Kurzem in dem Band „Was wir wiederlesen wollen. Literarische Essays 1960–2010″ (Wallstein, 320 Seiten, 32 Euro) erschienen.

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