Haben Sie heute schon gemordet, Ingrid Noll?

Lernen von den Generationen: In „Kein Feuer soll brennen so heiß“ geht es um Leben und Sterben in einer Mehrgenerationen-WG.

Lernen von den Generationen: In „Kein Feuer soll brennen so heiß“ geht es um Leben und Sterben in einer Mehrgenerationen-WG.

Frau Noll, es ist mir ein Pläsier, mit Ihnen heute parlieren zu dürfen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Sehr gewählt ausgedrückt.

Ich wollte unser Gespräch so beginnen, weil ich das Gefühl habe, Sie sind ein Freund alter, verschwindender Begriffe der deutschen Sprache.

Ja, das bin ich. Ich muss aber auch aufpassen, dass ich nicht zu altmodisch wirke, weil ich in diesem Jahr auch schon 86 werde und meine Enkelkinder mich manchmal darauf aufmerksam machen, dass sie bestimmte Vokabeln nicht mehr kennen. Die sollte ich dann auch nicht mehr in den Büchern verwenden. Ich will schließlich nicht wie eine alte Gouvernante auftreten.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

„Meine Mutter zog mit 90 Jahren zu uns“

Aber es ist ja nicht so, dass Ihre Bücher altmodisch sind, sondern Sie streuen ab und zu ein älteres Wort ein.

Das lasse ich mir auch nicht nehmen. Ich denke dabei auch an die Jungen, die viel zu wenig lesen. Meine Enkelkinder, die zum Teil noch in die Schule gehen, können dadurch durchaus etwas lernen.

In Ihrem neuen Roman „Kein Feuer kann brennen so heiß“ steht eine Altenpflegerin im Mittelpunkt. Kannten Sie sich mit dieser Berufsgruppe aus oder mussten Sie viel recherchieren?

Da musste ich nicht recherchieren. Meine Mutter zog mit 90 Jahren zu uns. Dann hat sie sich mit 102 das Bein gebrochen und wurde nicht wieder gehfähig. Von da an kam ein ambulanter Pflegedienst zu uns. Ich habe größten Respekt vor diesem Beruf. Ich weiß, dass er sehr anstrengend ist und dass man immer zu wenig Zeit hat. Altenpflegerinnen und Altenpfleger sind meistens Menschen mit viel Empathie und wollen liebevoll mit ihren Patienten umgehen. Aber sie werden oft durch viel bürokratische Arbeit daran gehindert und müssen sich abhetzen. Der Beruf wird überdies nicht gut bezahlt. Das ist ein Skandal.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Eigentlich müsste doch in einer reichen Gesellschaft wie der unseren der Mensch im Mittelpunkt stehen, egal, wie alt oder krank er ist. Aber das ist irgendwie aus dem Blick geraten.

Es gibt arme Länder, in denen die alten Leute nicht von Pflegern betreut werden. Ich habe neulich mit einem Mann gesprochen, der aus Ghana stammt, und er sagte mir: „Bei uns gibt’s diesen Beruf gar nicht. Wir leben alle zusammen, die ganze Familie.“ Es gibt dort viele junge Menschen, sodass die Alten mitgetragen werden. Bei uns ist es umgekehrt. Es gibt eben viele alte und zu wenig junge Menschen.

„Ich will wissen, was die jungen Menschen interessiert“

Ihr Roman spielt in einer sehr agilen Mehrgenerationen-WG. Wäre das etwas für Sie?

Na ja, bei mir geht es auch sehr lebhaft zu, denn ich bekomme viel Besuch. Meine Kinder wohnen zum Glück alle wieder in der Nähe. Nachdem sie zum Studieren und für Abenteuer und vieles mehr in die Welt hinausgezogen sind und in Berlin, in Thailand und sonst wo wohnten, sind jetzt alle wieder da. Ich habe also zum einen die Familie, aber auch viele Freunde. Ich bin wahrhaftig kein einsamer Mensch. Was übrigens auch wichtig fürs Schreiben ist: dass man Kontakt hat zu allen möglichen Generationen.

Weil man so auf neue Themen kommt?

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Es ist mir wichtig, dass man nicht aus der Zeit fällt. Ich will wissen, was die jungen Menschen interessiert. Ich will wissen, wie das bei Fridays for Future läuft. Oder wie ein virtueller Unterricht vor sich geht. Das erzählen meine Enkel mir auch. Und sie berichten, wie die Schule ist, wenn man die ganze Zeit eine Maske trägt. Sie sagen: „Das ist gar nicht so schlimm, wie du dir das vorstellst, Oma. Denn der Lehrer merkt nicht, wenn vorgesagt wird.“

Ihre Mutter ist 106 geworden ...

Ja, und meine Großmutter 105.

Das heißt, wir können noch mit vielen Romanen rechnen? Das ist genetisch abgesichert?

Nee, man ist ja immer nur die eine Hälfte. Mein Vater ist mit 55 an einem Herzinfarkt gestorben. Ich weiß auch nicht, ob ich so alt werden möchte wie meine Mutter oder Großmutter. Aber das steht auch nicht in meiner Macht.

Arbeiten Sie im Moment an einem neuen Roman?

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Ich habe damit begonnen. Aber über ungelegte Eier soll man nicht reden. Doch angefangen habe ich. Ich lasse mir aber Zeit, ich muss mich ja nicht hetzen. Ich bin schließlich Rentnerin.

Zu viele Leichen im Keller

Haben Sie heute schon gemordet?

Nein, ich bin das auch manchmal ein bisschen leid.

Das Morden?

Das Morden, ja, nicht das Schreiben.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Warum?

Ich habe schon zu viele Getötete auf dem Gewissen. Die Leichen stapeln sich im Keller.

Das heißt, für Sie wäre auch mal ein Roman ohne Morden möglich?

Das nun nicht gleich, aber vielleicht in fünf Jahren, wenn ich ganz milde geworden bin.

Auch wenn Sie sagen, Sie sind des Schreibens über das Morden ein wenig müde, ist es bislang eine Kon­stan­te in Ihren Büchern. Was fasziniert Sie an der literarischen Möglichkeit des Mordens?

Es ist ungefähr das Schlimmste, was man anstellen kann. Und es ist auch immer sehr spannend, wenn man etwas darüber liest. Vor allem aber die Motive interessieren mich: Warum explodiert plötzlich etwas in einem Menschen? Warum rastet ein Mensch aus? Warum mordet er? Wobei es sich ja meistens um ganz normale oder nur ein bisschen neurotische Menschen handelt, die ich beschreibe.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Sie meinen, es könnte auch einem selbst passieren in einer bestimmten Situation?

Ja, ich habe zum Beispiel mal geträumt, dass ich noch kleine Kinder habe und ein Unhold denen etwas antun will. Da habe ich den im Traum zertrampelt wie einen Käfer. Und hinterher war ich ganz platt, über wie viel Wut und Kraft ich im Traum verfügt habe. Also es steckt in uns allen. Mindestens zur Verteidigung.

Den Tod in Gedanken: Die Schriftstellerin Ingrid Noll hält in ihrem Wohnhauses eine Zeichnung des verstorbenen Autors und Zeichners Tomi Ungerer in den Händen. Es handelt sich dabei um ein persönliches Geschenk zu ihrem 75. Geburtstag.

Den Tod in Gedanken: Die Schriftstellerin Ingrid Noll hält in ihrem Wohnhauses eine Zeichnung des verstorbenen Autors und Zeichners Tomi Ungerer in den Händen. Es handelt sich dabei um ein persönliches Geschenk zu ihrem 75. Geburtstag.

Das Morden ist natürlich auch, muss man sagen, eine sehr einfache und bequeme Form der Konfliktlösung. Es ist halt nur verboten.

Krimischreiber und auch Krimileser sind in der Regel relativ soziale und friedliche Menschen. Ich kenne viele Kolleginnen und Kollegen, die sehr hilfsbereit und nett sind, und ich versuche, das auch zu sein. Wir lassen die Mordlust und die Aggressionen schriftlich raus, und im Privatleben funktionieren wir ausgezeichnet.

Ihre Kindheit an Ingrid Noll in China verbracht

Besser als andersherum.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Ja, denke ich auch. Und die Leser sind so ähnlich gestrickt.

Sie sind in Shanghai geboren und aufgewachsen. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit und an China?

Die Kindheit ist für jeden eine ganz wichtige Zeit. Egal, ob Sie sie im Odenwald, in Hannover, in China oder in Südamerika verleben. Auch meine Kindheit war eine sehr prägende und wichtige Zeit. Aber dass sie sehr chinesisch geprägt war, kann ich nicht sagen. Denn wir waren ja Ausländer, wir waren Fremde.

War es nicht trotzdem ein Kulturschock, als Sie Ende der Vierzigerjahre nach Deutschland gekommen sind?

1949, ja, und die Einschulung war grässlich, weil ich völlig neben allem stand. Es war alles fremd für mich, ich kannte nicht die Lieder, die die anderen Kinder sangen, und auch, wie wir uns kleideten, unterschied sich. Gerade als Teenager will man ja nichts anderes, als dazuzugehören. Dass man etwas Besonderes sein möchte, kommt erst später. Mit 13, 14 will man einfach nur sein wie die anderen, will Freunde haben und dazugehören. Und das gestaltete sich anfangs schwierig, es war ein Prozess, der ein bisschen schmerzlich war. Aber nach etwa einem Jahr war die Anpassung geglückt.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Was waren denn Unterschiede, die Sie in diesem ersten Jahr in Deutschland erfahren haben?

Das ging schon damit los, dass ich überhaupt zur Schule gehen musste. Meine Geschwister und ich wurden über Jahre von unseren Eltern unterrichtet. Viele Fächer kannte ich überhaupt nicht, zum Beispiel Turnen. Plötzlich musste ich mich mit Reck und Barren beschäftigen, mit Foltergeräten also, die ich überhaupt noch nie gesehen hatte. Auch wie wir angezogen waren, unterschied sich von den anderen Kindern. Der chinesische Schneider hatte uns flotte Kleidchen genäht, aber die passten nicht nach Deutschland. Wir sahen aus wie fremde Vögel, hatten von allem keine Ahnung und wurden begafft.

„Lieder gehen mir schnell in den Kopf“

Ich möchte noch einmal zurück zu Ihrem Roman kommen. Die ersten Kapitelüberschriften bestehen aus Liedzeilen. Auch der Titel des Buchs bezieht sich auf ein altes Volkslied. Wie wichtig sind Ihnen diese alten Lieder?

Ich dachte, das Lied „Kein Feuer, keine Kohle“, nach dem mein Buch benannt ist, kennt jeder. Aber dann fragte ich meine Kinder, ob sie das Lied kennen: „Nö.“ Fragte meine Enkel: „Nö.“ Und bei „keine Kohle“ dachten sie alle an Geld. Deswegen habe ich im Titel dann die Kohle weggelassen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Welche Beziehung haben Sie zu ­Musik?

Ich habe eine Weile im Chor gesungen. Lieder gehen mir schnell in den Kopf, Gedichte auch. Als Kind habe ich sehr viele Gedichte gelesen, weil wir in China keine modernen Kinderbücher besaßen, nur so ein paar sehr altmodische, „Heidi“ etwa. Ich habe deshalb die Bücher meiner Eltern gelesen, auch wenn ich vieles nicht kapiert habe. Aber Gedichte konnte ich schnell behalten und auswendig aufsagen. Während ich mich später, als ich in der Schule irgendetwas auswendig lernen musste, viel schwerer tat.

Sie sprechen Gedichte und Balladen an. Der Masseur des Hauses im Roman – zumindest der zweite in der Geschichte – kann eigentlich gar nicht massieren. Aber er trägt wunderbar Gedichte vor.

Was übrigens lustig ist: Der Masseur heißt Ruben. Und einer meiner Enkel, der ist jetzt 15, heißt ebenfalls Ruben. Mit Ruben habe ich mal darüber gesprochen, dass ich mich immer ein bisschen schwertue mit Vornamen in meinen Büchern. Denn ich muss höllisch aufpassen, dass niemand aus dem Freundeskreis oder der Verwandtschaft so heißt und sich gemeint fühlt und dann beleidigt ist. Da sagte mein Enkel zu mir: „Du kannst meinen Namen nehmen, ich schenke ihn dir.“

Das ist ja nett.

Ich habe ihn dann gefragt, was das für ein Typ sein soll. „Kein Mörder“, sagte mein Enkel. „Das möchte ich nicht. Aber er soll ganz viele Macken haben.“ Da dachte ich: Dein Wunsch sei mir Befehl. Und Ruben wurde in meinem Roman ein Mann mit vielen Phobien.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Ängste lassen sich überwinden

Der Masseur ist ein schüchterner Mensch, der viele Ängste in sich vereint: die Angst, vor Menschen zu sprechen, Entscheidungsangst, Prüfungsangst. Kennen Sie solche Ängste?

Ich kenne die Angst, vor Menschen zu sprechen. Unter dieser Angst litt ich sehr, als ich mein erstes Buch schrieb. Als es fertig war, sagte mein Verleger zu mir: „Jetzt müssen wir auf Lesereise gehen.“ Ich sagte, ich denke gar nicht dran. Das mache ich nicht. Ich habe einen kleinen Sprachfehler. Ich lispele ein wenig. Und mein Verleger entgegnete: „Das ist doch gerade gut. Dann haben Sie so eine persönliche Marke.“ Aber das gefiel mir gar nicht, dass man mich deswegen kennen sollte, weil ich lispelte, obwohl ich inzwischen merke, dass auch viele Radiosprecher, Fernsehmoderatoren oder auch Angela Merkel mit diesem kleinen Sprachfehler gut leben.

Wie haben Sie die Angst überwunden?

Die Lesungen selbst gingen sogar noch. Aber wenn ich öffentlich auftreten musste, im Rundfunk oder gar im Fernsehen, etwa in einer Talkshow, davor hatte ich große Angst. Aber mit der Zeit habe ich es gelernt, denn ich habe gemerkt, dass man mir da nichts Böses will. Das ist eine Übungssache.

Frau Noll, unser Gespräch hat mich fürwahr amüsiert und ergötzt.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Da muss ich lachen. Fürwahr.

Die späte Debütantin

Ihr Debüt als Autorin gab Ingrid Noll in einem Alter, in dem manch andere Menschen sich beruflich zur Ruhe setzen: 1991 veröffentlichte sie den Kriminalroman „Der Hahn ist tot“. Das Buch wurde zum Bestseller – wie zahlreiche weitere Noll-Krimis danach, etwa „Die Häupter meiner Lieben“, „Die Apothekerin“ und „Kalt ist der Abendhauch“. Diese drei Bücher wurden ebenfalls erfolgreich verfilmt.

Geboren wurde Ingrid Noll 1935 in Shanghai; ihr Vater praktizierte als Arzt in China. 1949 floh die Familie nach Deutschland. Ingrid Noll arbeitete später in der Arztpraxis ihres Mannes mit und zog drei Kinder auf. Als diese aus dem Haus waren, begann sie mit dem Schreiben von Krimis. Mittlerweile hat sie mehr als ein Dutzend Romane sowie Erzählungen veröffentlicht und wurde im Jahr 2005 mit dem Glauser-Ehrenpreis der Autorengruppe Das Syndikat für besondere Verdienste um die deutschsprachige Kriminalliteratur ausgezeichnet.

In diesem Frühjahr ist Ingrid Nolls Buch „Kein Feuer kann brennen so heiß“ (304 Seiten, 24 Euro) erschienen – wie alle Krimis seit ihrem Debüt im Schweizer Diogenes-Verlag.

Mehr aus Kultur

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige
Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt von Outbrain UK Ltd, der den Artikel ergänzt. Sie können ihn sich mit einem Klick anzeigen lassen.

 

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unseren Datenschutzhinweisen.

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken