Leben am Amazonas: Bilder einer unberührten Welt
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© Quelle: Sebastião SALGADO / Amazonas images
Er war schon einmal fertig mit dem Fotografieren. Vollkommen durch. Nachdem Sebastião Salgado den Genozid in Ruanda mit seiner Kamera festgehalten hatte, war er seelisch und körperlich am Ende. Diese neun Monate „im Herzen der Finsternis“ (Salgado) waren der Abschluss einer beruflichen Etappe – und aus ihm erwuchs ein Neuanfang.
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© Quelle: Sebastião SALGADO / Amazonas images
Der 1944 geborene Brasilianer begann, Tiere zu fotografieren und Landschaften, die Erde in all ihrer Schönheit. Es war gemeinsam mit seinem Engagement für den brasilianischen Regenwald die Abkehr vom Grauen in seinem Kopf und in seiner Kamera.
Nun hat Sebastião Salgado ein neues Fotobuch veröffentlicht, das im Taschen Verlag erschienen ist. „Amazônia“ soll sein letztes sein. Sechs Jahre lang hat der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 2019 zwölf indigene Völker im Amazonasgebiet begleitet – entstanden sind berückende und teils auch bedrückende Fotos.
Die ersten Kontakte zu einem indigenen Volk knüpfte Salgado bereits Mitte der Achtzigerjahre. Der Fotograf war mit der Erwartung zu den Yanomami gefahren, dort Fremde zu treffen. Doch schnell überwog das Gemeinsame, das Menschliche. „Die Emotionen, die wir teilten – zu lieben, zu lachen, zu weinen, glücklich oder wütend zu sein –, waren unsere gemeinsame Sprache“, schreibt Salgado im Vorwort des vier Kilogramm schweren Folianten. Was hat ihn an den Amazonas geführt? Es sei ihm darum gegangen, „die unvergleichliche Schönheit dieser riesigen Region noch einmal zu genießen“.
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© Quelle: Sebastião SALGADO / Amazonas images
Für Salgado ist die Reise zu den Urvölkern des Amazonas eine Zeitreise. Er habe sich dank der indigenen Völker „mit meiner eigenen Vorgeschichte verbunden und ein Leben wiederentdeckt, das wir vor Tausenden von Jahren geführt haben“. Doch dieser Link in die Geschichte ist immer stärker gefährdet, weil die indigenen Völker und damit ihr kollektives Gedächtnis bedroht sind. Ziel seines fotografischen Projekts sei daher, „festzuhalten, was geblieben ist, bevor noch mehr davon für immer verschwindet“.
Der Fotograf als Archivar, als Dokumentarist: Salgado ist nicht der erste Künstler, der sich so versteht. Seine Fotos transportieren ein Bild vergangener Zeiten. Aber sie können die Zeit nicht anhalten, Leben nicht konservieren, die Zeitläufte nicht aufhalten.
Was zeigt das Buch also? Man nähert sich dem Amazonas im Flug. Wunderschöne Luftaufnahmen zeigen Flüsse wie den Jutaí oder den Juruá, unendliche Baumkronenteppiche, Wasserfälle, Steinmassive – und immer wieder Wasserdampf, der sich aus dem Regenwald emporarbeitet, der Lunge der Erde.
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© Quelle: Sebastião SALGADO / Amazonas images
Es ist wie ein Blick auf das letzte Paradies unseres Planeten. Aber wir wissen, dass auch dieser Garten Eden seit Längerem durch Abholzung und mutwillige Zerstörung gefährdet ist. Den Menschen, die im Regenwald häufig enorm zurückgezogen – bisweilen sogar bis heute unbekannt – leben, ist die Zivilisation in den vergangenen 500 Jahren immer wieder nahe, zu nahe gekommen. Portugiesische Eroberer, Holzfäller, Goldsucher sind nur einige Gruppen, die aus unterschiedlichen Motiven das Leben der Ureinwohner verändert haben.
Salgados Fotos zeigen, wie unterschiedlich diese Einflüsse sein können. So leben manche indigene Völker bis beute komplett nackt, andere bedecken ihre Körper mit Kleidung. Ein Volk wie die Yawanawá waren durch die Versklavung durch Gummizapfer und durch Alkoholkonsum beinahe ausgestorben. Auch ihre Sprache war beinahe vom Erdboden verschwunden. Nur dem Engagement von zwei Stammesmitgliedern, dem Verbot von Alkohol und einem radikalen Neubeginn ist es zu verdanken, dass die Yawanawá heute ein lebendes und lebendiges Volk im Amazonasgebiet sind.
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© Quelle: Sebastião SALGADO / Amazonas images
Beim Betrachten der Fotos, beim Anschauen vieler nackter Frauen und Männer, von privaten Szenen und gestellten Porträts beschleicht den Betrachter doch immer wieder das Gefühl, mit seinen Blicken in das Leben anderer einzudringen. Salgado versichert aber, dass er sich für alle seine Besuche, seine Aufenthalte bei den indigenen Völkern Erlaubnis und Unterstützung bei der zuständigen Institution FUNAI geholt habe. Diese Organisation vertritt die Interessen der einheimischen Völker. Von dort aus wurden auch die Anfragen in den einzelnen Dörfern gestellt, ob die Bewohner überhaupt Kontakt zu einem Fremden, gar zu einem Fotografen haben wollen.
Und so konnte Sebastião Salgado Bilder aufnehmen, die uralte Völker, Sitten und Lebenssituationen vor dem Vergessenwerden schützen. Trotz der mitschwingenden Melodien in Moll vergisst Salgado weder bei seinen heutigen Naturaufnahmen noch bei seinen früheren sozialdokumentarischen Fotoprojekten aus Krisengebieten dieser Welt die ästhetische Dimension seiner Bilder. Manche Kritiker haben ihn deshalb unter Kitschverdacht gestellt.
Aber diese Kritik führt ins Leere: Selbst die Grauen dieser Welt lassen sich ästhetisch darstellen. Sie werden dadurch weder relativiert noch verharmlost noch verpuppt. Vielmehr ist die Attraktivität von Salgados Bildern das beste Treibmittel, um sich mit den gezeigten Problemen auseinanderzusetzen. Das Gute dieser Welt hat die Schönheit nicht allein gepachtet. Auch Schlimmes, Schreckliches, Böses, kann eine ästhetische Kategorie sein. Und auch gefährdete Völker dürfen, ja, sie sollten vielleicht sogar ästhetisch dargestellt werden.
Was bleibt, ist ein Werk, das die Verantwortung von uns Menschen für ihren Planeten genauso dokumentiert, wie es sie einfordert.
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Sebastião Salgado: „Amazônia“. Konzeption und Gestaltung von Lélia Wanick Salgado. Taschen Verlag. 528 Seiten, 100 Euro.
© Quelle: Sebastião SALGADO / Amazonas images
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Sebastião Salgado, brasilianischer Fotograf, während einer Pressekonferenz im Congress Center der Messe Frankfurt. Salgado erhält am 20. Oktober im Rahmen der Frankfurter Buchmesse den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
© Quelle: picture alliance/dpa