Gastbeitrag

Nur „eine kleine Operation“: In Russland läuft die „Kriegszensur“

Das von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik veröffentlichte Poolbild zeigt Wladimir Putin, der eine Sitzung des Sicherheitsrates leitet.

Das von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Sputnik veröffentlichte Poolbild zeigt Wladimir Putin, der eine Sitzung des Sicherheitsrates leitet.

Interessanterweise scheint Russland das einzige Land zu sein, wo über den Krieg überhaupt nicht berichtet wird, keine brennenden Panzer, keine abgeschossenen Flugzeuge werden gezeigt, keine Massendemonstrationen gegen den Krieg. Das ist eine kleine Operation, erzählte mir die Schwiegermutter am Telefon. Auf allen Fernsehkanälen in Russland wird nur die kurze Ansprache des Präsidenten jede Stunde aufs Neue gesendet.

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Laut staatlichen Sendern herrscht Frieden auf Erde. Im Land ist „die Kriegszensur“ eingeleitet worden, nur der Präsident in einer Endlosschleife erklärt, er habe befohlen, die längst überflüssige „Entnazifizierung und Entwaffnung der Ukraine“ durchzuführen und dafür einige Einheiten in das Nachbarland entsandt. Sein Ziel sei es, dem „Imperium der Lügen“, dem Westen also, eine gescheite Antwort auf seine Intervention gegen Russland zu geben.

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Dabei glauben die Politiker des Westens noch immer, es gehe bei diesem Krieg um eine interne Auseinandersetzung auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, Putin habe es auf die Ukraine abgesehen. Obwohl der russische Präsident mehrmals betonte, einen solchen Staat wie Ukraine gebe es für ihn gar nicht, der würde von Wladimir Lenin vor hundert Jahren erschaffen um seiner kommunistischen Diktatur den Machterhalt auf Dauer zu sichern. Und heute wird dieser Fehler der Geschichte vom Westen genutzt, um Russland zu bedrängen.

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Der Krieg, den Putin führt, ist nicht gegen die Ukraine, sondern gegen Europa und USA gerichtet, gegen die Nato, die an der militärischen Auseinandersetzung gar nicht teilgenommen und die 40 Millionen Ukrainer im Stich gelassen hat, als Opfergabe für den Erhalt des europäischen Friedens.

Sie sollten an Putin übergeben werden. Die Hoffnung, den Diktator zu besänftigen, ist naiv. Es gab in der menschlichen Geschichte jede Menge solcher Versuche und sie sind alle, ohne Ausnahme, schief gegangen. Aber diesmal wird es mit Sicherheit anders sein, denken die Europäer. Denn Putin will nur Ukraine haben, dann ist wieder Ruhe im Karton.

Frisch gewählte Führungskräfte des Westens neigen dazu, die Schuld für die Misere bei den Friedensverhandlungen mit der Autokratie im Kreml ihren Vorgängern in die Schuhe zu schieben. Die Vorgänger konnten keine gemeinsame Sprache mit dem Autokraten finden, weil sie zu stumpf, zu unflexibel an ihren alten Vorsätzen festhielten und überhaupt am Ende ihrer Amtszeit keine zusätzlichen Schwierigkeiten haben wollten.

Aber die neuen, die werden es schaffen, sie werden schon diese harte Nuss knacken können. Biden, Scholz, Macron standen Schlange, um mit dem Mann im Kreml zu sprechen und waren guter Dinge nach Hause gefahren. Biden hatte ihm versichert, es werde kein einziger amerikanischer Soldat auf dem ukrainischen Boden sein und er hat sein Wort gehalten. Amerikanische Öffentlichkeit ist durch den Abzug der Amerikaner aus Afghanistan schwer gekränkt worden, kein amerikanisches Leben darf auf fremdem Boden zu Tode kommen.

In November hat Biden Kongresswahlen, er könnte nun damit punkten, kein einziges amerikanisches Leben im Ausland verschwendet zu haben. Der Nato-Generalsekretär hatte Putin ebenfalls versichert, die Nato wird auf keinen Fall in der Ukraine Fuß fassen. Heute stellt sich heraus, zum Zeitpunkt dieser Gespräche war Putins Kriegserklärung bereits aufgenommen worden, er hat seine westlichen „Partner“ an der Nase herumgeführt. Ohne diese Versprechen des Westens hätten wir den Krieg vielleicht nicht aufhalten, aber verschieben können. Es sah beinahe aus, als würden die westlichen „Partner“ Putin in die Ukraine locken. Er kündigte den Krieg an und seine Feinde verhalfen ihm zum Sieg.

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Meine ukrainischen Freunde in Kiew, die ich im Sommer bei der Buchmesse das letzte Mal besucht habe, sitzen nun in der Metro, Kiew wird bombardiert.

Die Ukrainer reagieren unterschiedlich auf den Krieg. Die einen haben das Land bereits vor Wochen verlassen, ihre Kinder evakuiert, die anderen haben sich bei den Mobilisierungspunkten gemeldet, sie wollen für ihre Freiheit kämpfen. Alle Jagdgeschäfte in Kiew und Charkiv sind ausverkauft, man kann keine Munition mehr kaufen, nirgends.

Die russische Artillerie beschießt Tschernobyl, dort liegen noch immer die radioaktiven Reste der vergangenen Katastrophe. Ich habe mit einem Freund telefoniert, der in der Nähe wohnt. Er steht ganz offensichtlich unter Schock, vor langer Zeit, erzählte er, hat die Ukraine auf ihre Atomwaffen verzichtet, im Gegenzug bekam das Land Versprechen von Russland und Europa, für ihre Sicherheit zu sorgen. Heute hätten die Ukrainer all diese Versprechen gegen einen Atomsprengkörper getauscht und ihn an einen Esel mit Klebeband gebunden, das hätte der Sicherheit des Landes mehr genutzt als leere Versprechen des Westens, sagte er.

Meine Kollegen in Charkiv, Dichter und Musiker sind untergetaucht. Sie stehen angeblich auf den „Entsorgungslisten der Russlandfeinde“, solche Papiere werden von den russischen Geheimdiensten fertig gestellt, gleich nach der Machtübernahme sollen diese Menschen interniert und erledigt werden.

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Der Westen droht mit harten Sanktionen, es werden möglicherweise Konten von den russischen Oligarchen, Putins Freunden eingefroren, als wüssten sie nicht, dass diese „Freunde“ nur Strohpuppen sind, austauschbar und nicht wertvoll in Putins Sklavenreich.

„Sehr geehrte Kollegen“ schrieb die Leitung des Majakowski Theater in Moskau in einem Brief an seine Mitarbeiter. „Bitte, äußert Euch nicht zu politischen Themen. Eure Äußerungen werden nichts außer Ärger bringen, Ihr werdet verhaftet und das Theater wird geschlossen. Unsere Aufgabe besteht jedoch darin, uns selbst zu erhalten.“

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Meine ukrainischen Freunde protestieren seit Monaten in Berlin am Brandenburger Tor vor der russischen Botschaft gegen den Krieg. Tausende in Berlin lebende Russen stießen in den letzten Tagen dazu. Das ist erstaunlich, sagt mein Freund aus Charkiv, der in Berlin wohnt, wie viele Russen jetzt zu uns kommen, wo waren sie früher?

Die russische Community hatte sich bis heute nicht sonderlich für den Krieg interessiert. Für die Ukrainer hat der Krieg nicht erst diese Woche begonnen, der Krieg geht schon seit acht Jahren, seit 2014, 15.000 Ukrainer haben ihr Leben an der ostukrainischen Front gelassen. Auch in Russland wachen die Menschen aus ihrer Lethargie auf, in Moskau, Novosibirsk und St. Petersburg gehen sie auf die Straße.

Lange Zeit hatte das Volk voller Misstrauen und Gleichgültigkeit zum Kreml geschaut. Doppelt enttäuscht von dem schnellen Zerfall des Sozialismus und von dem hinterhältigen Turbokapitalismus, der danach kam, waren die Bürger Russlands zur Überzeugung gelangt, es sind immer Schurken, die an die Macht kommen, egal was man tut.

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Man kann jedes Kaninchen in den Kreml setzten, es wird sich nichts ändern, meinten viele halb ironisch, ganz im Sinne der Postmoderne. Jetzt haben sie aber ein ganz böses Kaninchen bekommen, das nach dem Leben ihrer Kinder greift.

Am Anfang des Krieges erzählte man sich, es seien nur Berufssoldaten in die Ukraine geschickt worden. Nachdem die ukrainische Armee die ersten Angreifer gefangen genommen hat, stellte sich heraus, das sind doch die Frischlinge, die gerade einberufen wurden. Was sagen die Mamas dazu? Und wie sollen wir in Europa darauf reagieren, was in der Ukraine passiert? Eine militärische Auseinandersetzung mit einer Atommacht kommt nicht infrage. Wir haben auch sonst jede Menge zu tun.

Wir müssen Corona bekämpfen und CO₂-Ausstoß reduzieren. Wir wollen lieber gegen den Klimawandel kämpfen und nicht gegen einen Tyrannen aus dem vorigen Jahrhundert. Das stehe gar nicht auf unserer Tagesordnung, sagte die deutsche Außenministerin und der Kanzler hat ihr zugestimmt.

Aber wir müssen trotzdem etwas tun.

Liebe Eltern, schrieb die Grundschule in Prenzlauer Berg in einer Rundmail, wir sind geschockt und können nicht tatenlos zusehen, wie der Frieden in Europa gefährdet wird. Wir müssen uns für den Frieden einsetzen! Zu diesem Zweck wollen wir die Bettlaken und großformatige Stoffe bemalen und am Schulgebäude aushängen. Unterstützen sie unsere Aktion. Ähnliche Aufrufe erwarte ich demnächst von der Uno, der Weltbank und dem Weltsicherheitsrat, die Bettlaken können helfen.

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Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und RND-Kolumnist.

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