„Petite Maman“ – eine märchenhafte Familiengeschichte
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Die eine ist die Mutter der anderen: Marion und Nelly (Joséphine und Gabrielle Sanz) im Wald. Szene aus „Petite Maman“.
© Quelle: Alamode
Eine einfache Geschichte wird im gerade 72 Minuten kurzen Film „Petite Maman“ erzählt – und zugleich eine rätselhafte, märchenhafte, wunderbare. Man wünschte sich, den Film mit Kinderaugen sehen zu können. Denn aus deren Perspektive erzählt die französische Drehbuchautorin und Regisseurin Céline Sciamma. Die Erwachsenen bleiben bloße Randfiguren – oder sie verwandeln sich schwuppdiwupp in Kinder.
Das Vermächtnis der Großmutter wird gesichtet
Die Handlung beginnt nüchtern-realistisch: Nellys geliebte Großmutter ist gestorben. Nun ist die Achtjährige mit ihren Eltern in das düstere Haus der Oma im Wald gefahren, um die letzten Habseligkeiten auszuräumen. Schränke werden durchforstet und Bücherstapel gesichtet.
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Für Nellys Mutter Marion (Nina Meurisse) ist das eine schwere Aufgabe, verbunden mit viel Schmerz und Trauer. Sie ist in dem Haus im Wald aufgewachsen. Es scheint, als sei ihre Kindheit nicht nur glücklich gewesen.
Am nächsten Morgen ist Nellys Mutter verschwunden
Marion und Nelly schauen sich gemeinsam alte Schulhefte an, doch die Mutter bleibt aus Nellys Sicht seltsam distanziert. Und dann ist da eine Spannung zwischen ihren Eltern zu spüren. Am nächsten Morgen ist Nellys Mutter verschwunden, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben. Marion habe plötzlich abreisen müssen, erklärt der Vater kurz und knapp.
Nelly hat nun Zeit, um durch den Wald zu streifen, in dem ihre Mutter einst Hütten aus Ästen baute. Davon hat Marion ihr erzählt. Und dann trifft Nelly auf ein gleichaltriges Mädchen namens Marion. Die beiden (gespielt von den Schwestern Joséphine und Gabrielle Sanz) freunden sich an. Ist das nur ein seltsamer Zufall?
Nelly begegnet ihrer eigenen Mutter als Kind
Man darf es getrost verraten, denn auch die Regisseurin Sciamma tut es: Alsbald stellt sich heraus, dass Nelly ihrer eigenen Mutter als Kind begegnet ist. Die beiden Mädchen wissen genau, wen sie vor sich haben. Aber das ist keinesfalls etwas, was sie aus der Ruhe bringen könnte. „Ich bin deine Tochter“, sagt Nelly. „Kommst du aus der Zukunft?“, fragt Marion zurück.
Andere Filmemacher als die seit ihrer lesbischen Liebesgeschichte „Porträt einer jungen Frau in Flammen“ (2019) international gefeierte Französin Sciamma wären bei dieser Ausgangssituation womöglich ins Mysterygenre abgebogen und hätten mit den Elementen Horror und Fantasy gespielt. Besonders im deutschen Kino rauschen Bäume im mythisch aufgeladenen Wald gern bedeutungsvoll.
Regisseurin Sciamma will anderes als Gruselstoff und Mysterybilder
Sciamma dagegen versenkt sich liebevoll in die Lebenswirklichkeit ihrer Protagonistinnen – und das ist die von Kindern. Als es zu regnen beginnt, flüchten die beiden Mädchen in Marions Zuhause. Es sieht exakt so aus wie das von Nellys Großmutter.
Die Mädchen albern herum und veranstalten ein Krimirollenspiel (oder so etwas Ähnliches). Sie backen gemeinsam begeistert Pfannkuchen und kleckern dabei ordentlich die Küche voll.
Die Begegnung weckt Verständnis für die Trauer der Mutter
Die fantastische und doch so selbstverständlich wirkende Begegnung mit der „kleinen Mutter“ hilft Nelly, die in ihrer Trauer verkapselte (erwachsene) Mutter besser zu verstehen. Nelly schöpft aus der Begegnung Trost – auch mit Blick auf den Tod der Großmutter, von der sie sich nicht wirklich hat verabschieden können, wie sie beklagt. Das tun jetzt Mutter und Tochter im Wald gemeinsam.
Gänzlich unangestrengt lösen sich die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf. Wir wandeln mit Nelly durch die Zeit, unprätentiös und auch ohne jedes Technikbrimborium, wie es in Zeitreisefilmen üblich ist.
Die Mädchen kommen gar nicht auf die Idee, die Zukunft verändern zu wollen. Nur einmal greift Marion zu Nellys Kopfhörern, will die „Musik der Zukunft“ hören – und lauscht der von Sciammas Stammkomponist Jean-Baptiste de Laubier komponierten „La Musique du Futur“.
Nelly: „Wir wollen keine Geheimnisse hüten“
Eine Tochter trifft auf ihre Mutter, die vom Alter her ihre Schwester sein könnte: Das eröffnet die Möglichkeit, sich mit größtem gegenseitigen Verständnis auszutauschen, wie es zwischen Generationen sonst nicht unbedingt immer möglich ist: „Wir wollen keine Geheimnisse hüten, wir wissen nur nicht, wem wir sie erzählen sollen“, sagt Nelly einmal. Nun hat sie eine Gesprächspartnerin, die ganz ähnlich wie sie selbst denkt und fühlt.
Zu sehen war die wundersame Familiengeschichte „Petite Maman“ bereits bei der ins Internet verlagerten Berlinale im vorigen März. Die Regisseurin verstehe ihren Film, so sagte sie damals, auch als indirekten Kommentar zur Situation in der Corona-Pandemie: Nach ihren Ängsten und Nöten seien Kinder damals zu wenig gefragt worden. Céline Sciamma hört nun besonders genau hin.
„Petite Maman – Als wir Kinder waren“, Regie: Céline Sciamma, mit Joséphine Sanz, Gabrielle Sanz, Nina Meurisse, 72 Minuten, FSK 0