Als sich Roger Waters auf der dunklen Seite des Mondes verirrte
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Roger Waters, Sänger, Komponist und Mitbegründer der Rockgruppe Pink Floyd.
© Quelle: Chris Pizzello/Invision/AP/dpa
Die legendären EMI-Studios an der Abbey Road im Norden Londons vor 50 Jahren: Vier britische Musiker, alle zwischen 27 und 30 Jahren jung, arbeiten fieberhaft an einem neuen Album, das einmal Geschichte schreiben wird.
Pink Floyd gibt es zu diesem Zeitpunkt bereits über acht Jahre, eine Ewigkeit, in einem Jahrzehnt geradezu explodierender Kreativität, zudem geprägt von ständig wechselnden Stilrichtungen. Das neue Album sollte erstmals in der Bandgeschichte die Handschrift eines Mannes tragen: Roger Waters, Gründungsmitglied und Bassgitarrist.
Die Band hatte schwere Zeiten hinter sich: An den Start gegangen mit Psychedelic-Rock, war Pink Floyd früh sein kreatives Hirn abhandengekommen. Syd Barrett, Gründer und Namensfinder der Band, hatte sich – auch durch den reichlichen Konsum psychedelischer Drogen – auf eine Reise begeben, von der es keine Rückkehr mehr gab. Er litt mutmaßlich an Schizophrenie und blieb geistig umnachtet.
Für die verblieben drei Bandmitglieder, alsbald verstärkt durch den drei Jahre jüngeren David Gilmour, der als Schüler in Cambridge zusammen mit Barrett gelegentlich auf der Straße musiziert hatte, begann eine Suche – nach einem neuen kreativen Kraftfeld, einer neuen Bandhandschrift, einer Einzigartigkeit auf einem zunehmend hart umkämpften Markt.
Mit neuen, experimentellen Platten, die noch als gemeinsame Produktionen entstanden, erreichte die Band ordentliche, aber nicht übermäßige Verkaufszahlen. Pink Floyd entwickelte sich schleichend zum wichtigsten Vertreter des neuen Artrock. Mit dem neuen Album ließ sich die Band Zeit – und sie überließ es erst mal allein dem egozentrischen Waters, sich künstlerisch vor allem als Texter zu verwirklichen.
Schon damals war Roger Waters ein Einzelgänger, streitsüchtig, apodiktisch – aber eben auch unglaublich kreativ, ideenreich, experimentierfreudig, was neue Techniken, aber auch Klangexperimente betraf. Waters war als Halbwaise in einer Kleinstadt südöstlich von London aufgewachsen. Sein schwieriger Charakter muss vor dem Hintergrund eines Traumas verstanden werden, das den Musiker bis heute beschäftigt – und sich auch in seiner Musik widerspiegelte: dem Tod seines Vaters 1944 im Zweiten Weltkrieg, als Roger gerade fünf Monate jung war.
Das Fehlen des Vaters, die Erzählungen der Mutter, die den jungen Roger Waters mit auf kommunistische Versammlungen nahm, und diese bedrückende Stimmung im Nachkriegsengland unter dem Eindruck vom drohenden Atomtod und Kaltem Krieg führten bei Waters zu einer Verbitterung, die der junge Künstler in Musik umsetzte.
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Dave Gilmour, Roger Waters, Nick Mason and Richard Wrigth (von links) bei der historischen Wiedervereinigung von Pink Floyd für das „Live 8“-Konzert in London (Archivbild vom 2. Oktober 2005). Drei Jahre später starb Wright – die anderen Pink-Floyd-Mitglieder gehen seitdem separate Wege.
© Quelle: picture-alliance/ dpa
Zurück im Studio in der Abbey Road Ende des Jahres 1972: Roger Waters setzte die tief sitzende Verbitterung über den Verlust des Vaters nunmehr verstärkt durch den Verlust des Freundes Syd Barrett – für beides machte er die Gesellschaft, besser das „gnadenlose System“, verantwortlich – in eine Klang- und Textsprache um, die dem Zeitgeist eines rebellischen Jahrzehnts entsprach.
Die Aufbruchstimmung der späten 60er-Jahre war zu diesem Zeitpunkt längst einer pessimistischen, fundamentalen Gesellschaftskritik gewichen: Vietnam-Krieg, wirtschaftliche Verwerfungen (Ölkrise) und die ersten Warnungen vor einer sich anbahnenden ökologischen Katastrophe durch den Club of Rome ließen wenig Raum für Zuversicht.
„The Dark Side of the Moon“ übertraf alle irdischen Erwartungen
„The Dark Side of the Moon“, das neue Album, das dann im März 1973 erstmals an den Ladentheken verkauft wurde, trug dieser Grundstimmung Rechnung – und übertraf alle irdischen Erwartungen. Bis heute wurden weltweit weit mehr als 50 Millionen Tonträger verkauft. Lange Zeit war es das weltweit am meisten verkaufte Album, es wurde später nur noch von Michael Jacksons „Thriller“ und AC/DCs „Back in Black“ übertroffen. Das von Storm Thorgerson designte Cover – auf schwarzem Hintergrund ein dreieckiges Prisma, welches Licht in Farben des Regenbogens zerstreute – ist vermutlich das bekannteste Motiv der Musikgeschichte.
Doch Roger Waters hat nicht nur das Wunder geschafft, der Menschheit ein Meisterwerk zu schenken, von welchem noch heute eine Viertelmillionen Exemplare jährlich verkauft werden. Er zeigt bis heute, fast 80-jährig, musikalisch Omnipräsenz – und sorgt für Schlagzeilen – allerdings auf weniger schmeichelhafte Art.
So ist Waters Anhänger der israelfeindlichen BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions), deren Ziel es ist, Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch zu isolieren. Viele halten diese Bewegung für antisemitisch. Und als bedürfe es noch eines Beweises, ließ Waters 2013 bei einem Konzert in Belgien einen Luftballon in Gestalt des Schweins vom Cover des Pink-Floyd-Albums „Animals“ aufsteigen, auf dem diesmal ein Davidstern abgebildet war.
Er schürt das Feuer in der Ukraine – das ist ein großes Verbrechen.
Roger Waters über US-Präsident Joe Biden
Jüngst hat er sich auch zum Krieg in der Ukraine geäußert, wobei er indirekt dem angegriffenen Land sowie der Nato die Schuld an Russlands Angriff zuschrieb. Im August sagte er in einem Interview über US-Präsident Joe Biden: „Er schürt das Feuer in der Ukraine – das ist ein großes Verbrechen.“ Was umgehend bei Russlands Ex-Präsident Dmitri Medwedew wahre Jubelstürme auslöste: „Es gibt noch adäquate Leute im Westen. Pink Floyd forever“, schrieb er im sozialen Netzwerk vkontakte.
Umgehend forderten Antisemitismusbeauftragte in Berlin und Köln vom Konzertveranstalter FKP Scorpio eine Absage der 2023er-Tour. Eine Forderung, der sich der renommierte Popkritiker Jens Balzer, Autor des Buches „Pop und Populismus. Über Verantwortung in der Musik“ so nicht anschließen möchte.
Mit Verboten oder Absagen lässt sich dem Phänomen problematischer Gesinnungen in der populären Musik nicht beikommen.
Jens Balzer,
Popkritiker
„Mit Verboten oder Absagen lässt sich dem Phänomen problematischer Gesinnungen in der populären Musik nicht beikommen“, sagt Balzer zum RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Ich fand es überfällig, aber konsequent und richtig, als Anstalten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks 2018 entschieden haben, auf die Präsentation der Konzerte von Roger Waters zu verzichten. Wer aber Verbote fordert, muss dann konsequenterweise auch jedes zweite deutsche Hip-Hop-Konzert verbieten, wo Israel-Hass, Homophobie und Sexismus traurige Normalität sind“, so Balzer.
Bei deutschen Rappern wie Kollegah, Farid Bang und Haftbefehl sind problematische Texte bis hin zu Verschwörungstheorien längst Teil des Geschäftsmodells. „Schließlich bleibt es als starkes Statement jedem selbst unbenommen, solche Konzerte zu meiden“, ist Jens Balzer überzeugt.
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2006: Roger Waters fordert Israels damaligen Ministerpräsidenten Olmert auf, die Mauer im Land einzureißen.
© Quelle: picture-alliance/ dpa
Alexander Gorkow, Buchautor und Feuilletonchef der „Süddeutschen Zeitung“, sieht das ähnlich: „Waters fordert die Besucher zu Beginn seiner Konzerte neuerdings auf, man soll sich an die Bar verpissen, falls man seine Messages nicht teilt. Das wäre für mich dann eine verbindliche Aufforderung, ich weiß jetzt, wo mein Platz ist“, sagte der Mann, den die Musik von Pink Floyd seit seiner Kindheit begleitet und der darüber ein Buch geschrieben hat (Die Kinder hören Pink Floyd).
Vier Interviews hat Alexander Gorkow mit Roger Waters über die Jahre verteilt geführt. Beim letzten, 2018 im Münchner Hotel Bayerischer Hof, „haben wir uns ziemlich in die Wolle gekriegt“, so Gorkow zum RND.
In dem Fall hatte Waters’ Manager Mark Fenwick den Journalisten Gorkow kontaktiert, nachdem Waters tagelang rund um seine Konzerte in München für sein BDS-Engagement kritisiert worden war: „Ich hatte mit Waters bei einem gemeinsamen Abendessen mit seinem Veranstalter Marek Lieberberg ein paar Jahre schön über Politik gestritten, da haben er und Fenwick sich wohl 2018 dran erinnert. Bei unserem Streitgespräch, das ja dann zum Finale meines Buches wurde, musste ich mir irgendwann eingestehen, dass ich hier nicht mit einem Künstler streite, der eine kontroverse Meinung vertritt, sondern dass da ein Aktivist sitzt, der für Argumente teilweise nicht mehr zugänglich ist.“
Für die Generation der Babyboomer, die heute 50- bis 65-Jährigen, war es einst ein Bedürfnis, dass die Helden ihrer Jugend „Haltung zeigten“, sich in politisch bewegten Zeiten positionierten – was allerdings nur wenige wie Neil Young, Bob Geldof und eben Roger Waters tatsächlich beherzigten.
„Bei Waters war es dann irgendwann so, dass ich neben Etlichem, worin vermutlich viele übereinstimmen, etwa seinem Widerstand gegen Figuren wie Trump oder Bolsonaro, mehr und mehr über seine Empathielosigkeit gegenüber Israel erstaunt war, dazu über anderes abstruses Zeug“, beschreibt Gorkow: „Formal blieb das übrigens all die Stunden im Sommer 2018 völlig okay, mitunter wirklich laut, aber er war verbindlich, freundlich, das Gegenteil von arrogant. Er ist aber nun mal ein absoluter Egoshooter, Sturheit ist dafür ein kleines Wort. Und man bekommt schnell ein Gefühl dafür, warum bei Pink Floyd zwischen ihm und dem maliziös lächelnden David Gilmour derart die Fetzen flogen.“
Traumata, Ängste, Zwänge wurden zu gefühlvollen Texten
In den EMI-Studios an der Abbey Road begann Roger Waters vor 50 Jahren, diese Ichbezogenheit in kosmische Musik zu verwandeln – seine Traumata, Ängste, Zwänge wurden zu gefühlvollen Texten und Schauer auslösenden Klangerlebnissen. Es gelang ihm, dieses Konzept nach „The Dark Side of the Moon“ auf vergleichbarem Niveau fortzusetzen. Mit „Wish You Were Here“, „Ainmals“ und „The Wall“ schuf er drei weitere Platten, die Musikgeschichte schrieben. Der Erfolg schien ihm recht zu geben, Pink Floyd verkaufte bis heute geschätzt eine viertel Milliarde Tonträger jedes Jahr. Als brillanter Künstler blieb sich Roger Waters treu, als Mensch ist er irgendwann falsch abgebogen – um sich dann hoffnungslos zu verirren.