Thomas Vinterberg: Der Film ist ein Denkmal für meine tote Tochter
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Regisseur Thomas Vinterberg.
© Quelle: picture alliance / Ritzau Scanpix
Thomas Vinterbergs gnadenloser Film „Das Fest“ wurde schon bei der Premiere 1998 in Cannes gefeiert. In beinahe dokumentarischer Manier leuchtete der 1969 geborene Regisseur in familiäre Abhängigkeitsverhältnisse hinein: Bei einer Familienfeier werden die sexuellen Verbrechen aufgedeckt, die ein Vater an seinen Kindern begangen hat. „Das Fest“ verhalf der dänischen Dogma-95-Bewegung zu weltweitem Ruhm.
Mit seinem aktuellen Film „Der Rausch“ (angepeilter deutscher Kinostart: 15. Juli) über vier dänische Lehrer in der Midlife-Crisis hat Vinterberg so ziemlich jede Trophäe gewonnen, die es zu gewinnen gibt, darunter vier europäische Filmpreise. Nun ist er in den Kategorien Internationaler Film und Regie für den Oscar nominiert. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) spricht Vinterberg über die 0,5-Promille-Theorie, das Andenken an seine tödlich verunglückte Tochter und die Zukunft des Kinos.
Herr Vinterberg, ich würde gern mit einer unhöflichen Frage beginnen: Wie viel Alkohol haben Sie konsumiert, bis Ihnen die Idee zum Film „Der Rausch“ kam?
Leider haben wir viel zu viel Coca-Cola Zero getrunken. Mein Drehbuchpartner Tobias Lindholm und ich führen ein reiches Familienleben mit vielen Kindern, und wir haben unsere Arbeit. Uns fehlt einfach die Muße zum Trinken. Dabei hätten wir es mit dem ein oder anderen Cognac womöglich sogar ein wenig schneller geschafft, die Geschichte von den vier frustrierten dänischen Lehrern zu schreiben, die sich mit einem permanenten Alkohollevel von 0,5 Promille wieder fürs Leben begeistern wollen.
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Dann hätten Sie sich doch einen Cognac gönnen können!
Oh, ich genieße es durchaus zu trinken, wenn es passt. Als ich zum Beispiel meinen Film „Die Jagd“ über einen Erzieher geschrieben habe, der sich nach falschen pädophilen Vorwürfen einer Hexenjagd ausgesetzt sieht, habe ich ein paar Gläschen getrunken. Ich bin damals wunderbar vorangekommen. Aber ich war nicht betrunken, ich war nur nicht nüchtern. Und was Sie hier in meiner Hand sehen, ist übrigens ein Becher Tee ohne Alkohol.
Sie sind Anfang 50: Wie sind Sie in jungen Jahren mit Alkohol umgegangen?
Ich würde sagen, wie jeder andere dänische Teenager auch. Ich hatte an den Wochenenden meinen Spaß. Ich bin in einer Hippiekommune aufgewachsen – und habe, inspiriert von dieser Zeit, ja auch den Film „Die Kommune“ gedreht. In der Kommune konnte ich so ziemlich alles machen, was ich wollte. Es gab kaum Vorschriften, deshalb habe ich das für mich allein regeln müssen. Meine Freunde waren draufgängerischer und haben im Großen und Ganzen auch mehr getrunken. Ich war immer der Vorsichtige, Moralisierende.
Für „Der Rausch“ haben Sie sich von dem finnischen Psychotherapeuten Finn Skarderud inspirieren lassen: Vertritt er wirklich die 0,5-Promille-Theorie, die das Leben leichter machen soll?
Um in der akademischen Welt eine Theorie zu vertreten, braucht es mehr als einen mal eben dahingesagten Satz. Skarderud hat das eher polemisch und nicht nur auf Alkohol gemünzt gemeint. Es ging ihm darum, wie wir unser Leben leben.
Und worum geht es Ihnen in „Der Rausch“?
Keinesfalls nur um Alkohol: Der Film hat sich zu einer Untersuchung über das Trinken entwickelt – und über ein Leben, das mehr sein soll, als einfach nur zu existieren. Es geht darum, sich für Neugier, Risiko und Inspiration zu entscheiden – in letzterem Begriff steckt übrigens „Spirit“, und bei diesem englischen Wort geht es um mehr als nur um Alkohol. Kurz: Wir wollten einen lebensbejahenden Film machen.
Und das soll über Alkoholkonsum funktionieren?
Ich weiß nicht, wie es in Ihrem Leben zugeht: Aber ich finde mich in einer Art Performancekultur wieder, der ich nicht entkommen kann. Vermutlich werden auch Sie als Journalist bewertet nach der Summe der Klicks auf Ihre Artikel. Meine Filme jedenfalls werden nach verkauften Tickets und Auszeichnungen bemessen und wie viele Herzen und Sterne unter den Kritiken stehen. Darin steckt etwas Erdrückendes. Unser ganzes Verhalten wird dadurch definiert. Mein Film „Der Rausch“ widersetzt sich dem gewissermaßen.
Wie das?
Hier geht es um das Unkontrollierbare, um das, was sich nicht messen lässt, auch nicht in Klickzahlen im Internet. Was in dem Film passiert, ist so, als wenn sich jemand verliebt. Es lässt sich schlecht im Kalender vermerken, an welchem Wochentag sich jemand verlieben will. Schon wenn du nur eine Flasche Alkohol an die Lippen setzt, öffnest du die Tür zu etwas Unkontrollierbarem. Das kann in einem Streit enden, in Sex, aber jedenfalls in etwas Unkontrollierbarem. Schon eine normale Unterhaltung wird unter Einfluss von Alkohol aufregender. Lassen Sie es mich so sagen: Der Film ist eine Kampagne für das Unkontrollierbare.
Liegt darin ein Grund für den sensationellen Erfolg – so nach dem Motto: Endlich spricht es mal jemand aus?
Da kann ich nur spekulieren. 800.000 Dänen sind jedenfalls in den Film gelaufen. Das sind sehr viele in meinem kleinen Land – für mich war es ein Rekord. Aber ja, der ständige Zwang zur Performance und dann noch die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie obendrauf: Der Film könnte durchaus als Befreiungsversuch gesehen werden – auch wenn wir beim Drehen von Corona noch keine Ahnung hatten. Für mich hat „Der Rausch“ etwas sehr Ehrliches. Alberne Szenen und traurige liegen dicht beieinander, so als hätten wir zwei Filme zu einem Cocktail vermischt. Eben noch angeln die vier ausgelassen Kabeljau, und dann sitzt Mads Mikkelsen als Geschichtslehrer Martin weinend da.
Welche Rolle spielt Alkohol bei Ihren dänischen Landsleuten?
Wir Dänen sind ein sehr vernünftiges Volk – und doch läuft hier viel mit Alkohol. Dann verwandeln sich Dänen in Wikinger. Da ist ein großer Graben zwischen dem, wie wir uns benehmen möchten, und wie wir uns tatsächlich benehmen. Ich würde aber wetten, dass das in anderen Ländern gar nicht so viel anders ist.
Zu Beginn der Dreharbeiten starb Ihre Tochter Ida. Wie haben Sie es geschafft, danach weiterzumachen?
Zwei Monate zuvor hatte meine Tochter das Drehbuch gelesen. Sie mochte das Skript, sie schrieb mir einen regelrechten Liebesbrief. Der Film spielte an ihrer Schule, sie hätte eine Rolle darin gehabt, er war sozusagen ein Teil von ihr. Und schon zu diesem Zeitpunkt hatten wir den Ehrgeiz, einen lebensbejahenden Film zu drehen.
Und dann?
Als sie bei dem Verkehrsunfall starb, war ich dem Wahnsinn nahe. Die Alternative war der freie Fall oder Weitermachen. In all diesem Nebel und in all dieser Dunkelheit schien es mir bedeutsam, den Film für sie zu Ende zu bringen.
Sahen das alle Beteiligten so?
Wir standen plötzlich ungeschützt und irgendwie nackt da. Im Team waren viele Freunde, die meine Tochter von Geburt an kannten. Sie trugen mich, und sie trugen sich gegenseitig. Es herrschte eine freundliche, liebende Atmosphäre am Set – und gleichzeitig so viel Trauer. Das ist auf der Leinwand zu sehen. Wenn jemand lacht in diesem Film, dann will er auch mich zum Lachen bringen – in einer Zeit, in der das für mich beinahe unmöglich war. Ich weiß nicht, wie der Film ausgesehen hätte, wenn meine Tochter noch am Leben wäre. Ganz sicher anders. Aus dem Ehrgeiz, einen lebensbejahenden Film zu drehen, wurde für uns eine Verpflichtung.
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Wie sind die Schauspieler mit der schwierigen Situation klargekommen?
Sie haben mir vertraut, und ich habe ihnen vertraut. Das funktionierte nur, weil wir uns so gut kannten und eine geradezu intime Atmosphäre vorherrschte. Mads Mikkelsen hatte bei dem Film schon zugesagt, bevor es überhaupt ein Drehbuch gab. Das bedeutete viel. Die Schauspieler haben mir in gewisser Weise das Leben gerettet. Sie konnten mir meine Tochter nicht zurückbringen. Aber sie haben mich wieder auf die Beine gebracht.
Ist dieser Film Ihr persönlichster?
Auf jeden Fall. Und es ist mein wichtigster. So viel von meiner Tochter steckt darin. Der Film ist ein Denkmal für sie. Wir wollten das Leben feiern, das gerade verloren gegangen war.
Wenn ich über Ihre Filmografie schaue, angefangen von dem gefeierten Dogma-Film „Das Fest“ über „Die Jagd“ bis zur „Kommune“: Lieben Sie es, Leute zu provozieren?
Früher war das auf jeden Fall so. Wenn ich diesen Film vor 30 Jahren gedreht hätte, hätte ich den Alkohol gefeiert. Das wäre bestimmt provokativ geworden. Aber nun hatte ich das Gefühl, dass der Film an Gewicht gewinnen würde, wenn ich beide Seiten erzähle, auch von der dunklen Seite des Trinkens. Darin habe ich eine moralische Verpflichtung gesehen. Provokativ ist vielleicht die erste Filmhälfte, aber es gibt noch eine zweite. Und darin ändert sich der Tonfall.
Ob die Zuschauer das auch so wahrnehmen?
Wir wollen keine Botschaft vermitteln, und die Reaktionen fallen auch komplett unterschiedlich aus: 19-Jährige haben den Film geschaut und sind danach mit einem Bierkasten in die Nacht gezogen. Anonyme Alkoholiker dachten, „Der Rausch“ handele von ihnen. Manche wollten danach fliegen, andere haben vor allem den tiefen Absturz wahrgenommen.
Sehen Sie eine Verbindung zwischen „Der Rausch“ und Ihren Anfängen als Regisseur der dänischen Dogma-Bewegung?
Mitte der Neunziger war das eine Art Brüderschaft. Wir suchten das Reine, Minimalistische, das Pure. Aus damaliger Sicht ist dieser Film dekadent. So viel Musik und Make-up und lauter Flaschen, die mit Wasser und nicht mit Alkohol gefüllt sind – für diesen Fake wäre ich gekreuzigt worden. Aber immerhin: Es steckt viel Handkamera drin, es gibt keinen eigentlichen Score, nur ein paar Musikstücke. Auch die Rauheit des Erzählens, die vielen Ecken und Kanten – das hat Ähnlichkeiten mit dem, was wir in Dogma-Zeiten taten.
Haben Sie den Dogma-Touch bewusst gewählt?
Bei jedem Film wieder frage ich mich für den Bruchteil einer Sekunde, ob ich nach den Dogma-Regeln vorgehen sollte. Ich durchlaufe immer wieder denselben Prozess. „Das Fest“ von 1998 ist der Startpunkt für so vieles, was kam. Aber die Zeiten sind vorbei. Dogma haftet heute nichts Riskantes mehr an. Diese Art, Filme zu machen, ist inzwischen Mode geworden – und damit schon längst wieder altmodisch.
Sie arbeiten gerade an einer Fernsehserie: Ist das Verrat am Kino?
Eine Serie wollte ich schon in den Neunzigern machen. Die Story, die ich erzählen möchte, würde nicht zu einem Film passen. Das hat nichts mit Kapitulation meinerseits oder mit einem Statement zu tun.
Glauben Sie noch ans Kino?
Da bin ich Optimist! Irgendwer hat kürzlich gesagt, es brauche mehr als eine Pandemie, um die Welt zu verändern. Die Leute werden zurückkommen ins Kino – und sie werden unglücklicherweise genauso wieder in dem Moment in die Flugzeuge steigen, in dem dies möglich ist. Aber was das Kino betrifft: Dasselbe Gefühl zur selben Zeit mit anderen zu teilen ist mächtig. Das fühlt sich genauso an wie bei einem Fußballspiel im Stadion oder bei Musik in einem Konzert. Kino lässt sich nicht durch Kopfhörer und Monitor ersetzen. Ich glaube ans Kino, aber wer weiß? Vielleicht bin ich ja auch nur naiv.
Bevor die Leute zurückkommen ins Kino, werden Ende April erst mal die Oscars unter schwierigen Bedingungen vergeben: Sie sind gleich zweimal nominiert, für den besten fremdsprachigen Film und für die Regie. Wo werden Sie den Abend der Abende verbringen?
Ich fliege nach Los Angeles! Wir werden dort wegen der Abstands- und Hygieneregeln nur wenige sein. Aus Dänemark reisen nur meine Frau und ich an, das war’s. Ob das eine Party wird, weiß ich nicht. Aber ich freue mich drauf. Die Oscar-Academy hat auch Treffen in London oder Paris für Nominierte angeboten, aber ich will vor Ort sein.
Wie schwierig ist die Anreise?
Wenn dieses Interview erscheint, befinde ich mich wohl schon in Los Angeles in Quarantäne. Meine Frau und ich müssen Mitte des Monats los. Aber wissen Sie was? Quarantäne mit Swimmingpool in Los Angeles schien mir verlockender als Quarantäne mit einer Tasse Tee in London.