Kritik an Ulrich Seidl: Was darf ein Regisseur am Set?
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Die Dreharbeiten bei diesem Film haben eine Debatte ausgelöst: Szene aus Ulrich Seidls „Sparta“.
© Quelle: Ulrich Seidl Film/APA/dpa
Bislang stehen nur Vorwürfe im Raum. Der Regisseur hat diesen widersprochen. Ob sie sich jemals erhärten, womöglich gar juristische Folgen haben, ist offen. Aber schon jetzt zeichnet sich ab, dass die Kritik an dem Österreicher Ulrich Seidl über diesen individuellen Fall hinausreicht.
Der Reihe nach: Seidl, Schöpfer ebenso provokativer wie gepriesener Werke, soll für seinen jüngsten Film „Sparta“ rumänische Kinder „ausgebeutet“ haben. Bei den Dreharbeiten im Sommer 2019 sollen Jungen zwischen neun und 16 Jahren emotional schwer erträglichen Situationen ausgesetzt gewesen sein. Regeln zur Arbeit mit Kindern sollen nicht eingehalten worden sein. Eltern sei der Zutritt zum Set nicht gestattet worden. Sie seien auch nicht über den genauen Inhalt des Films informiert gewesen.
Stimmen für und gegen den Regisseur
So hatte es zunächst der „Spiegel“ berichtet. Die Anschuldigungen stammten von namentlich nicht genannten Beteiligten. Inzwischen haben andere aus dem „Sparta“-Umfeld sowohl für als auch gegen den Regisseur Partei ergriffen.
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Seidl, 69 Jahre alt, sagt: „Ich habe größten Respekt vor allen Darstellerinnen und Darstellern, und niemals würde ich Entscheidungen treffen, die ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden in irgendeiner Art und Weise gefährden.“ In seinem gesamten künstlerischen Werk verlange er „nach Empathie für die Angeschlagenen und Abgestürzten, für die Abgedrängten und Geächteten“.
In „Sparta“ verkörpert der Schauspieler Georg Friedrich einen Mann, der mit Kindern in Rumänien eine alte Schule in eine Art Burg umbaut, die als Judoklub dienen soll. Friedrichs Figur wird dabei von pädophilen Neigungen gepeinigt.
In Toronto wieder ausgeladen
Die Vorwürfe wurden erhoben, bevor der Film überhaupt zu sehen war. Und das hatte gravierende Folgen für Seidl. Ursprünglich war die Premiere beim Festival im kanadischen Toronto geplant. Das lud den Regisseur kurzfristig wieder aus. So erlebte das Werk seine Uraufführung am Sonntagabend beim Festival in San Sebastian.
Das gesamte Filmteam inklusive Seidl hatte die Teilnahme abgesagt. Ein Skandal blieb aus, wie Festivalbesucher berichten. Im Gegenteil: Der Film sei unter warmherzigem Applaus aufgenommen worden. Missbrauchshandlungen oder auch nur Andeutungen davon seien auf der Leinwand nicht zu erkennen gewesen.
Der Regisseur hatte eine Grußbotschaft geschickt, darin hieß es: „Ich bin im Moment in Rumänien, wo ich den Film den Eltern und ihren Kindern gezeigt habe, die im Film sind.“
Hamburg zeigt nur den Film
„Sparta“ soll auch beim Festival in Hamburg Anfang Oktober zu sehen sein. Der Film sei „aufgrund seiner herausragenden Qualität“ ins Programm aufgenommen worden, heißt es dort. Die Vorwürfe gegen Seidl richteten „sich gegen die Bedingungen während der Dreharbeiten und explizit nicht gegen seinen Film“. Lassen sich Entstehung und Ergebnis tatsächlich voneinander trennen?
Gleichzeitig wollen die Veranstalter jedoch Seidl nicht wie geplant den renommierten Douglas-Sirk-Preis verleihen. Sie befürchten, dass die Vorwürfe die Preisverleihung „überschatten“ würden.
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Seidl zählt zu den Grenzgängern im Kino. Gerade das Anstößige ist es, was ihn auszeichnet und wofür er international ausgezeichnet wurde. Wohlfühlkino sollte niemand von ihm erwarten. Er erzählt von persönlichen Obsessionen, von Einsamkeit, Begehren und Sexualität in einer Radikalität, wie es viele andere kaum wagen würden.
In „Tierische Liebe“ (1995) sezierte er die seltsamen Beziehungen zwischen Menschen und ihren Hausgenossen inklusive Zungenkuss mit Hund. In „Im Keller“ (2014) legte er sadomasochistische und Nazi-Obsessionen bloß. In „Import Export“ (2007) setzte er Altenheimbewohnern bunte Hüte auf und ließ sie zu Musik tanzen. Er erzählte genauso von einer deutschen Sextouristin in Kenia wie von reichen Großwildjägern in Afrika.
„Das drehe ich einfach“
Manchmal ist zwischen Empathie und Voyeurismus bei Seidl schwer zu unterscheiden. Ebenso ist die Linie zwischen Fiktion und Dokumentarischem kaum zu ziehen.
Auch schon in „Paradies: Hoffnung“ (2016), dem Abschluss einer Trilogie, beschlich einen das bange Gefühl, dass Seidl seinen Film womöglich auf Kosten seiner übergewichtigen jugendlichen Laiendarstellerinnen gedreht hatte. Im Gespräch sagte der Regisseur damals: „Ausbeutung von Schauspielern gibt es nicht, die müssen das schon freiwillig spielen.“ Und die Szene, in der die Mädchen wie nasse Säcke an einer Turnwand hängen? „Die Mädchen wissen, auf was sie sich einlassen. Die sind ja nicht blöd. Das drehe ich einfach.“
Er sei sich aber bewusst gewesen, dass er mit Minderjährigen arbeite. Die Scham- und Schmerzgrenze sei eine andere als bei Profischauspielerinnen.
„Paradies: Hoffnung“ lief 2013 bei der Berlinale. Damals wurde Seidl für seinen mitleidlosen Blick gerühmt. Ob das im Jahr 2022 noch genauso wäre? „Ich mache die Welt nicht schockierend und unerträglich, ich versuche nur, sie realistisch zu zeigen“, hat er 2016 gesagt.
Seidls „Rimini“ in deutschen Kinos
Von Seidl kommt am 6. Oktober erst einmal der Film „Rimini“ über einen abgehalfterten Schlagerstar in die deutschen Kinos, der inhaltlich lose mit „Sparta“ verknüpft ist. Die zuständige PR-Agentur sagt, dass Seidl „aus für uns nachvollziehbaren Gründen“ momentan für Interviews nicht zur Verfügung stehe.
Ob etwas an den aktuellen Vorwürfen dran ist oder auch nicht: Offenkundig ist, dass Filmemacher und Filmemacherinnen bei Dreharbeiten heute stärker unter Beobachtung stehen als in der Vergangenheit. Das gilt auch dann, wenn es nicht um sexuelles Fehlverhalten wie in der #MeToo-Debatte geht. Vermutlich hat aber erst diese Debatte die Sensibilität im Filmgeschäft gestärkt.
In der Vergangenheit fühlten sich Regisseure – Regisseurinnen waren in der absoluten Minderzahl – am Set oft genug allmächtig. Das Genialische und nicht selten das Cholerische umwehte sie. Da wurden ihnen menschliche Schwächen zugestanden.
Prototyp war der im Juli verstorbene Regisseur Dieter Wedel („Der große Bellheim“). Über ihn häuften sich die Berichte über Tyrannei und Egomanie. Später räumte er ein, Schauspieler und Schauspielerinnen „manchmal überharter, wohl auch verletzender Kritik ausgesetzt“ zu haben.
Lars von Triers Geständnis
In der Filmgeschichte finden sich namhaftere Beispiele als Wedel: Die Isländerin Björk bezichtigte den dänischen Regisseur Lars von Trier bei den Dreharbeiten von „Dancer in the Dark“ (2000), Grenzen überschritten zu haben. Die Schauspieldebütantin Björk erlitt damals vor laufenden Kameras Nervenzusammenbrüche.
Von Trier bekannte später: „Schauspieler verarbeiten alles mit ihrer Technik. Björk besaß keine Technik. Ich habe sie trotzdem mit Methoden ‚bearbeitet‘, die ich bei einem Schauspieler anwenden würde.“
„Dancer in the Dark“ gewann erst die Goldene Palme in Cannes und danach zahllose andere Auszeichnungen. Heimsen also gerade die rücksichtslosen Regisseure die meisten Preise ein? Und heißt das in der Folge, dass stärkere Reglementierungen extreme Kunst verhindern?
Da würden wohl viele Kolleginnen und Kollegen widersprechen. Sie setzen alles daran, ihren Schauspielerinnen und Schauspielern einen geschützten Raum zur Verfügung zu stellen. Nur dann seien diese auch bereit, sich der Szene ganz auszuliefern. Regisseur Andreas Dresen („Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“) hat mal in einem Interview gesagt: Am Set müsse ein „möglichst umfassendes, verlässliches Gemeinschaftsgefühl“ herrschen, „idealerweise wie in einer Familie“.
Doris Dörrie hat jüngst ihren Film „Freibad“ in einem ebensolchen gedreht. Naturgemäß war dabei viel nackte Haut zu sehen, weshalb sie betont: „Alle hatten die Gewissheit, dass ich sie beschützen würde in ihrer physischen und psychischen Offenheit, was, wie ich finde, eine der Hauptaufgaben der Regie ist.“
Im Zuge der #MeToo-Debatte hat sich der Beruf des „Intimitätskoordinators“ entwickelt: Er oder sie soll sicherstellen, dass bei Sexszenen ein respektvoller und sicherer Umgang zwischen den Beteiligten vorherrscht. Es dürfte nicht ganz einfach sein, solch ein Sicherheitsnetz über eine komplette Filmproduktion zu werfen. Aber schutzlos sind Schauspielerinnen und Schauspieler nicht mehr.