Vor der Frankfurter Buchmesse

Vom Stapel lassen: Wann wird die Bücherliebe zur Sucht?

Sind so viele Bücher: Manchmal weiß man kaum noch, wohin damit.

So viele Bücher: Manchmal weiß man kaum noch, wohin damit.

Ist es noch Liebe oder schon krankhafte Sucht? Die Wohnungen von Büchernarren sehen im besten Fall aus wie eine wohlgeordnete Bibliothek. Regale stehen an der Wand, oft stehen sie sogar an jeder Wand – und ja, natürlich ist die Frage zulässig, ob nicht hier und dort auch ein Bild die Wohnung verschönern könnte.

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Aber ein Bild an der Wand, dafür ist einfach kein Platz. Jede Wand ist ein potenzieller Platz für Regale. Und jedes Regal hat seine Berechtigung, da die gekauften Bücher ja irgendwo hin müssen – früher oder später wird in bibliophilen Haushalten jeder Quadratzentimeter für Druckerzeugnisse aller Art benötigt. Bei Bücherliebhabern, männlich wie weiblich, bestimmen Bände, Folianten, Zeitschriften, Romane, Sachbücher, Graphic Novels, Bildbände die Wohnung. Und das Leben.

Aber noch einmal: Ist das noch Liebe oder schon krankhafte Sucht?

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Der Bücherliebende – oder altgriechisch-entlehnt: der Bibliophile – sammelt Bücher in der Regel, um sich eine Privatbibliothek aufzubauen. Er stöbert durch Buchhandlungen und Antiquariate, er verfolgt die Neuerscheinungen, er sättigt seinen Informationshunger. Dabei muss es in seiner privaten Bücherei überhaupt nicht so ordentlich aussehen wie in öffentlichen Bibliotheken.

Was sich hier eher findet als dort, sind Bücherstapel. Und wenn in wenigen Tagen die Frankfurter Buchmesse ihre Pforten öffnet und auch in diesem Herbst wieder Zehntausende neue Bücher erscheinen, werden auch die heimischen Bücherberge wieder in die Höhe wachsen.

Getürmte Hoffnungen auf die Zukunft

Bücherstapel sind getürmte Hoffnungen auf die Zukunft. Ein Buch, das auf einem solchen Stapel landet, soll irgendwann noch einmal gelesen werden. Bücherstapel sind also Wetten gegen die Zeit. Was dort liegt, hat zunächst einmal keine Chance gegen jene Bücher, bei denen der oder die Lektürewütige sofort die Folie abreißt und am besten stante pede – auf dem Flur, im Auto vor dem Buchladen, gedankenverloren auf einer Bank im Park – beginnt zu lesen. Lesestoff auf dem Bücherstapel hingegen muss warten, bis seine Zeit kommt. Und Zeit ist der größte Feind der Bibliophilen, der Lesesüchtigen. Arthur Schopenhauer hatte natürlich wie so oft recht, als er schrieb: „Es wäre gut, Bücher zu kaufen, wenn man die Zeit, sie zu lesen, mitkaufen könnte.“

Schopenhauers Zitat geht aber noch weiter. Er sagte: „(…) aber man verwechselt meistens den Ankauf der Bücher mit dem Aneignen ihres Inhalts.“ Und damit sind wir bei einer entscheidenden Differenz zwischen dem Buchliebhaber und dem Bibliomanen, dem Büchersüchtigen, dem wahnhaften Buchsammler.

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Denn der Büchersüchtige will das Objekt seiner Begierde haben, er will es häufig nicht mal lesen. Selbstverständlich wird auch der Bibliophile immer mehr Lesestoff zu Hause haben, als er je lesen kann. Aber in der Regel wissen die wachen Liebenden, welche Bücher bei ihnen stehen, sie interessieren sich dafür, was in ihnen steht, sie blättern nach dem Erwerb zumindest schon einmal ein wenig darin herum. Und sie wollen sie irgendwann lesen. Auch wenn das ein Wettlauf mit der Zeit ist.

Hast du alles gelesen?

Besucher eines Besitzers, ja, eines Bewohners einer Privatbibliothek stellen in der Regel eine von zwei Fragen. Entweder: „Hast du das alles gelesen?“ Oder abgeschwächt: „Wie viel hast du davon gelesen?“ Diese Fragen verkennen aber, dass man nicht immer gleich alles gelesen haben muss. Es gibt Bücher, deren Zeit erst noch kommen wird, weil sich deren Besitzerin gerade noch nicht mit diesem oder jenem Thema befassen will. Aber der Tag wird kommen. Ganz sicher!

Dann ist das Interesse geweckt und die Privatbibliothekarin erinnert sich, dass sie vor Jahren doch einmal dieses oder jenes Buch zu dem Thema gekauft hat. Und das Schöne ist: Das Buch ist dann da. Es breitet seine Arme aus, hüpft aus dem Regal und sagt: „Ich wusste, dass du eines Tages zu mir kommen wirst.“ Spätestens dann wird klar, dass das Wegschmeißen oder das Weggeben von Büchern keine Option sein kann. Oder ist das dann schon der Übergang zur Sucht?

Damit zurück zur dunklen Seite der Büchersammelleidenschaft. Süchtige Sammler, die Lesestoff horten, aber nicht des Lesens, sondern des Stoffs wegen, sind seit Jahrhunderten bekannt. Der deutsche Humanist und Jurist Sebastian Brant ließ auf seinem Narrenschiff – die gleichnamige Satire erschien 1494 – Büchernarren mitfahren und sie sagen: „Von buechern hab ich grossen hort / Verstand doch drynn gar wenig wort.“ Frei aus dem Frühneuhochdeutschen also übersetzt: Ich habe viele Bücher gesammelt, aber verstanden habe ich in ihnen so gut wie gar nichts.

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Auch das berühmteste Wörterbuch der Aufklärung, Denis Diderots und Jean Baptiste D’Alemberts „Encyclopédie“, kennt den Büchersüchtigen: „Ein Bibliomane ist also nicht etwa ein Mensch, der sich Bücher anschafft, um sich zu bilden – er ist von einem solchen Gedanken weit entfernt, da er sie überhaupt nicht liest. Er hat Bücher, nur um sie zu besitzen, um sich an ihrem Anblick zu weiden; sein ganzes Wissen beschränkt sich darauf, zu erkennen, ob es gute Ausgaben sind und ob sie gut gebunden sind“, heißt es dort. Und weiter: „Diese Besessenheit, die man Bibliomanie nennt, ist oft ebenso kostspielig wie Ehrgeiz und Wollust. Ein solcher Mensch hat nur noch soviel Vermögen übrig, wie nötig ist, um in einer wohlanständigen Mittelmäßigkeit leben zu können.“ Jene Menschen sind wohl manchmal ganz kurz davor, Bücher auf andere Weise zu verschlingen als die üblichen Lesehungrigen.

Doch die Sammelwut der Bibliomanen kann sich zur ernsthaften psychischen Krankheit entwickeln. Bibliomanie kann Ausdruck zwanghaften Verhaltens sein, Messis müssen nicht unbedingt Müll horten, es können auch Bücher sein.

Kunst aus Spanien: Passend zum Gastland der diesjährigen Buchmesse zeigt der Frankfurter Kunstverein Kunst aus dem Land, etwa Andrea Muniáins Arbeit „Digital Intercontinental Large Supermarkets“.

Kunst aus Spanien: Passend zum Gastland der diesjährigen Buchmesse zeigt der Frankfurter Kunstverein Kunst aus dem Land, etwa Andrea Muniáins Arbeit „Digital Intercontinental Large Supermarkets“.

Der Schriftsteller Flann O’Brien hingegen hat eine ganz andere Gruppe von Büchersammlern im Blick. Der Ire hat mit „Buchhandhabung“ eine herrliche kleine Polemik auf jene reichen Menschen geschrieben, die meinen, sich mit Büchern und Bildung umgeben zu müssen, rein aus Imagegründen. Der Erzähler besucht darin einen Bekannten, der „sehr vermögend und sehr vulgär“ ist. „Ob er lesen kann, weiß ich nicht, aber irgendeine primitive Beobachtungsgabe sagte ihm, dass die meisten Menschen mit Rang und Ansehen jede Menge Bücher im Haus haben.“

Doch ungelesene Bücher haben oft einen Nachteil: Man sieht ihnen ihre Ungelesenheit an. Deswegen bietet O‘Briens Erzähler als Dienstleistung an, ungelesene Bücher so zu behandeln, als habe der Besitzer intensiv mit ihnen gelebt. Vier Handhabungen hat er im Angebot, unter anderem die „volkstümliche“ und die „erstklassige“. Bei der erstklassigen wird jeder Band „vollendet gehandhabt, vier Blatt pro Stück mit Eselsohren versehen, in nicht weniger als 25 Bänden wird eine geeignete Passage mit Rotstift unterstrichen“. Der Preis? „Das kommt dann 2 Pfund 17 Shilling Sixpence. 5 Prozent Rabatt für Literaturstudenten, Staatsbeamte und Sozialarbeiterinnen.“

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Ob der spanische König Felipe VI. und seine Frau, Königin Letizia, auch einen solchen Buchhandhaber am Hof beschäftigen, ist unbekannt. Die beiden werden aber am kommenden Dienstag gemeinsam mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die diesjährige Frankfurter Buchmesse eröffnen. Die Großveranstaltung, bei der Spanien das aktuelle Gastland ist, wird von Mittwoch bis Sonntag wieder als Präsenzmesse Verleger und Schriftstellerinnen, Buchhändler und Leserinnen anziehen.

Den Festvortrag hält die spanische Autorin und Literaturwissenschaftlerin Irene Vallejo. Wer ihr Buch „Papyrus. Die Geschichte der Welt in Büchern“ (Diogenes, 752 Seiten, 28 Euro) gelesen hat, weiß: Die 43-Jährige braucht garantiert niemanden, der ihr aus Prestigegründen Eselsohren in die Bücher faltet. Das macht sie schon selbst. Vallejo schreibt in ihrer wunderbaren Kulturgeschichte: „Die Erfindung der Bücher war vielleicht der größte Triumph in unserem hartnäckigen Kampf gegen Zerstörung; wir vertrauten dem Schilf, den Häuten, den Leinenfetzen, dem Holz und dem Licht jene Weisheit an, die zu verlieren wir nicht bereit waren.“

Diese alte und neue Weisheit, all das Wissen kann in Zeiten des Krieges, der Inflation und anderer weltweiter Probleme Orientierung geben. Bücher können aber auch einfach helfen, in andere Welten zu fliehen, sie unterhalten im besten Sinne. Das Angebot ist riesig. Und damit beginnt das Problem der Büchersüchtigen, die alles haben wollen, genauso wie das der Bücherliebenden, die alles lesen möchten. Aber zugegeben: Es gibt schlimmere Probleme.

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