Yayoi Kusama: Wunde Punkte einer Ausnahmekünstlerin
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Erstmals zu sehen: Yayoi Kusamas Werk „The Eternally Infinite Light of the Universe Illuminating the Quest for Truth“.
© Quelle: imago images/Eberhard Thonfeld
Endlich ein Teil der Unendlichkeit sein. Sich im Schönen verlieren, alles andere vergessen, Corona genauso hinter sich lassen wie Konflikte, Ängste und übersteigerte Hoffnungen: Der Betrachter steckt seinen Kopf in eine Box und blickt auf gelbe Kürbisse mit schwarzen Punkten. So weit das Auge reicht und darüber hinaus. Denn Spiegel multiplizieren die Kürbisse ins Unbegreifliche. Und sie vermehren auch uns, die Betrachter. So wird klar: Das Ende ist nicht nah, weil es kein Ende gibt.
Für die heute 92-jährige Künstlerin Yayoi Kusama gehört es zu den Fundamenten ihrer Kunst, Grenzen zwischen dem Selbst und dem Anderen zu verwischen, zwischen dem Innenleben und der Außenwelt, zwischen dem Individuum und der Kunst, zwischen Wahrnehmung und Abbildung. Ein Ursprung sind ihre psychischen Probleme – ein Zustand der Depersonalisation, bei der man sich losgelöst von sich selbst empfindet.
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Pink-schwarze Schlangen: Bereits im Foyer des Gropius-Baus deutet alles auf die Ausstellung zu Yayoi Kusama hin.
© Quelle: imago images/Eberhard Thonfeld
Eine der beliebtesten und bedeutendsten Künstlerinnen der Welt
Yayoi Kusama gehört heute zu den beliebtesten und bedeutendsten Künstlerinnen der Welt. Geboren 1929 in Matsumoto als Tochter eines Saathändlers, leidet sie bereits im Alter von zehn Jahren unter Halluzinationen. In einem Feld beginnt ihr Unheil, Blumen sprechen mit ihr, so laut, dass sie es nicht aushält und einen Zusammenbruch erleidet. Später tanzen Punkte vor ihrem inneren Auge, Spiralen drehen sich. Und all dies wird Teil der von ihr wahrgenommenen äußeren Welt.
Sie beginnt zu malen und zu zeichnen, später entwirft sie Skulpturen und Mode. Sie projiziert ihre Innenwelten mithilfe ihrer Kunst nach außen. Es wird ihre Form, sich zu äußern. Es ist die Kunst, „ohne die ich die Welt um mich herum nicht ertragen könnte“, wird Kusama in der in Leben und Werk einführenden Graphic Novel „Kusama“ (Laurence-King-Verlag) zitiert.
Ende der Fünfzigerjahre flieht sie in eine andere Welt. Zwölf Jahre nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki geht die junge Japanerin aus ihrem Heimatland in die USA. Dort will sich Yayoi Kusama als Künstlerin entwickeln und sogar „die Kunst revolutionieren“, wie sie selbst sagt.
Vorbild für Künstler wie Warhol und Oldenburg
Anfang der Sechzigerjahre besuchen junge Popkünstler wie Andy Warhol und Claes Oldenburg ihre Ausstellungen – und kupfern ab. Man sieht die Ähnlichkeit zwischen Oldenburgs „Soft Calendar for the Month of August 1962“ (1962) und Kusamas „Accumulation No 1“, man vergleiche Lucas Samaras‘ „Mirrored Room“ (Herbst 1965) mit Kusamas „Infinity Mirror Room (Phalli’s Field)“ aus dem Frühling desselben Jahres.
Ähnlich wie im Fall der wiederentdeckten Schwedin Hilma af Klint, die ein lange vergessenes Vorbild für die Kunst von Männern wie Kandinsky und Malewitsch ist, sehen wir auch hier mit Yayoi Kusama eine Frau als Pionierin von Ausdrucksformen – und doch haben sich lange Zeit nur die Namen der nachfolgenden und von ihr inspirierten Männer in der Erinnerung gehalten.
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Immer wieder Punkte: Bei Yayoi Kusama werden ihre Halluzinationen auch äußerlich sichtbar.
© Quelle: imago images/Eberhard Thonfeld
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© Quelle: imago images/Eberhard Thonfeld
Klar, Kusama war von diesem Ideenklau nicht erfreut. Nachdem Andy Warhol 1963 begeistert ihre Einzelausstellung mit dem berühmt gewordenen Ruderboot voller Stoffphalli besucht hatte, habe er ein paar Jahre später „die Decke und Wände der Leo Castelli Gallery komplett mit Siebdrucken eines Rinderkopfs beklebt und damit ohne Frage meine ‚One Thousand Boats Show‘ wieder aufgelegt beziehungsweise kopiert“ schreibt sie in ihrer berührenden Autobiografie „Infinity Net“ (Piet-Meyer-Verlag).
Uneingeschränkt mit der Japanerin verknüpft sind hingegen zum einen ihre „Infinity“-Werke, die sich durch Spiegelungen in die Unendlichkeit potenzieren, und zum anderen ihre „Polka Dots“. Diese bunten Punkte finden sich überall in Kusamas Werken, sie hat sie auf Leinwände und auf Menschen gemalt, sie hat Kürbisse und Skulpturen mit ihnen verschönert, sie hat politische Aktionen gegen den Vietnam-Krieg und die Wall Street initiiert, Happenings organisiert und hat ausgestopfte Weichplastikpenisse mit ihnen gesprenkelt, die ihre Angst vor Sex ausdrücken und überwinden sollten.
1968 bemalt Kusama nackte Körper mit diesen bunten Punkten, sie nennt die Aktion „Anatomic Explosion“, also „anatomische Explosion“. Aber das Wort lässt sich auch als „An-Atomic Explosion“, also als „Nicht atomare Explosion“, lesen. Ein klares pazifistisches Statement der Japanerin im Land des ehemaligen Feindes und zugleich ein Bekenntnis zur Freiheit des nackten Körpers.
Als in den Siebzigerjahren bei ihr die Halluzinationen und psychischen Probleme immer mehr zunehmen, kehrt Yayoi Kusama zurück in ihre Heimat. Dort weist sie sich 1977 selbst in die Psychiatrie ein, wo sie seitdem lebt – und bis heute Kunstwerke von zum Teil grenzenloser Faszination schafft, auch wenn sie zwischendurch lange 20 Jahre im Kunstmarkt vergessen war.
Ausstellung im Berliner Gropius-Bau
Die Ausstellung im Berliner Gropius-Bau, die noch bis zum 15. August zu sehen sein wird, ist die erste große Retrospektive der Künstlerin in Deutschland. Das Kartenkontingent ist momentan immer noch pandemiebedingt begrenzt, dafür haben die Besucher und Besucherinnen viel Platz und Zeit, sich in Kusamas Kunst fallen zu lassen.
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Ein bisschen wie in der Spielhalle: Auch dieses Werk ist in Berlin zu sehen.
© Quelle: imago images/Eberhard Thonfeld
Dort zeigt sich auch, wie modern, ja geradezu prophetisch diese Kunst ist. Denn ein wichtiges Phänomen unserer Zeit, die Immersion, also das Gefühl einer kompletten Einbettung unseres Selbst in die eigene Umwelt, findet sich bei Kusama schon lange. Mit und ohne Spiegel. Auch ihre endlosen Netze haben die Entwicklung des Internets und heutiger vernetzter Strukturen schon vor Jahrzehnten vorweggenommen.
Dazu kommen nun in Berlin Werke wie das erstmals gezeigte „The Eternally Infinite Light of the Universe Illuminating the Quest for Truth“ (2020), in dem sich die Selfie-Generation fühlen darf wie im Paradies. Alles leuchtet und spiegelt, die Farben changieren und mittendrin – wieder als immersiver Kunstansatz – steht der Betrachter oder die Betrachterin und kann eigentlich gar nicht anders, als (sich selbst) zu fotografieren oder zu filmen.
Beobachten wir bei Kusama das alte Klischee von Genie und Wahnsinn? Nein, sagt der hervorragende 350-Seiten-Katalog der Ausstellung (Prestel-Verlag). Wir sollten, heißt es da, „an dieser Stelle nicht in die Falle eines monokausalen Erklärungszugangs tappen, der künstlerisches Schaffen zum zwar hilfreichen, aber bloß instrumentellen Therapiekonstrukt macht“. Vielmehr habe mindestens ein weiterer Faktor Berücksichtigung verdient. „Nennen wir ihn das Anarbeiten gegen den Tod, das Bewusstsein um den Tod selbst zu einer Energiequelle machend.“
Auch hier könnte man von einer Grenzüberschreitung sprechen, von einer Einbettung des Abwesenden und doch Präsenten in die eigene Gegenwart. „Ich schiebe den Tod nicht wie andere vor mir her, als müsste man nicht darüber nachdenken“, schreibt die Japanerin in ihrer Autobiografie. Yayoi Kusama verschließt nicht die Augen vor der Zukunft. Der Tod ist der letzte Punkt des Lebens.