Schüler sprechen mit Zeitzeugen über die Nachkriegszeit in Kaltenkirchen
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Sie haben die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt: Die Zeitzeugen Rolf Schröder und Hans Georg Schütt (links) werden von den 17-jährigen Schülern Lukas Schaar, Jeron Haack und Ante Stein (von links) interviewt.
© Quelle: Sylvana Lublow
Kaltenkirchen. Flüchtlinge und Vertriebene, Lebensmittelknappheit und Wohnraummangel: Die ersten Jahre nach 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, waren hart und schwierig für die meisten Deutschen. Aber auch Neuanfang und Aufbau hingen in der Luft – nur wenige Jahre nach Kriegsende befand sich Deutschland bereits im „Wirtschaftswunder“.
Rolf Schröder (87) und Hans Georg Schütt (78) haben diese Zeit als Kinder miterlebt. In einem Geschichtsprojekt ließen sich die beiden Senioren von Kaltenkirchener Gymnasiasten des 11. Jahrgangs (Q 1) interviewen.
Diese Zeitzeugen-Interviews werden später in Gerhard Braas' neuem Buch "Kaltenkirchen in der Nachkriegszeit" Platz finden. Bereits sein voriges Buch "Kaltenkirchen wird nicht verteidigt – das Ende des Zweiten Weltkrieges und der NS-Herrschaft in Kaltenkirchen", das vor gut zwei Jahren erschien, enthielt Gespräche zwischen Schülern und Zeitzeugen. Damals startete Braas dieses Projekt gemeinsam mit Schülern und Schülerinnen aus dem Geschichtsprofil am Gymnasium Kaltenkirchen. Geschichtslehrer Tobias Thiel hatte die Jugendlichen sowohl beim ersten Mal als auch aktuell mit der Methodik vertraut gemacht, Zeitzeugen zu interviewen.
In der Landwirtschaft waren Flüchtlinge als Helfer willkommen
Mit Rolf Schröder und Hans Georg Schütt hatte der Historiker Gerhard Braas zwei Zeitzeugen ausgesucht, die eine komplett gegensätzliche Kindheit erlebt hatten. Beide freuten sich sehr darüber, dass die junge Generation Interesse an der alten zeigt. „Kontakte zur älteren Generation, das ist auch eine Art von Reichtum“, meinte Schröder.
Der 87-Jährige wuchs relativ gut situiert auf einem Bauernhof in Lentföhrden auf. „Wir haben nach dem Krieg zwei vierköpfige Flüchtlingsfamilien aufgenommen.“ Das sei ein Geben und Nehmen gewesen: Die Flüchtigen halfen bei der Landarbeit und bekamen dafür Verpflegung und Unterkunft. „Für uns war es toll, Menschen aus anderen Teilen des Landes im Haus zu haben“, sagte Schröder. Das habe seinen Horizont erweitert: „Wir waren alle zusammen eine tolle Gemeinschaft. Es war keine Last, sondern eine Bereicherung.“
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Der Historiker und pensionierte Lehrer Gerhard Braas schreibt ein Buch über die Nachkriegszeit in Kaltenkirchen.
© Quelle: Sylvana Lublow
Schröder ist über den zweiten Bildungsweg „im Physikalischen“ gelandet und hat im Management bei dem Unternehmen Philips gearbeitet. Er hat drei lebende Töchter. Eine vierte Tochter sei im Alter von vier Jahren tödlich verunglückt. Das habe sein Leben geprägt und seine soziale Einstellung verändert, erzählt er den Jugendlichen.
Flüchtlinge hatten mit Ablehnung und Vorbehalten zu kämpfen
Hans Georg Schütt gehörte 1945 zu den Flüchtlingen. „Meine Familie kommt aus Stolp in Pommern und musste nach dem Krieg fliehen.“ Er selbst war damals erst vier Jahre alt, er könne sich nur an einzelne Bilder von Eisenbahnwaggons erinnern, berichtete Schütt. Nach einem Zwischenstopp in Magdeburg habe sein Vater die Familie 1947 dann in den Westen gebracht, „so sind wir dann auf der besseren Seite gelandet“, sagte Schütt. Und zwar in einer der Baracken in Moorkaten, Kaltenkirchen, wo die vierköpfige Familie einige Jahre lebte. „Später sind wir immer wieder umgezogen und haben uns Stück für Stück verbessert und vergrößert.“ Sein Vater hatte einen Job bei einem Steuerberater.
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Zeitzeugen Rolf Schröder (87, rechts) und Hans Georg Schütt (78) berichten über ihr Leben in der Nachkriegszeit.
© Quelle: Sylvana Lublow
Die interessiert zuhörenden Schüler wollten wissen, wie die beiden damals den Umgang mit Flüchtlingen erlebt haben. Schütt, der zu ihnen gehörte, meinte: „Der Vorteil damals war, dass wir eine Nation waren und eine Sprache gesprochen haben. Aber Vorbehalte und Ablehnung gab es trotzdem.“ Auf dem Land habe das etwas anders ausgesehen, erzählte Rolf Schröder: „In der Landwirtschaft wurden dringend Hilfskräfte benötigt, deshalb waren die Flüchtlinge willkommen. Aber es gabt auch im Dorf kritische Personen.“
Hauptquelle für historisches Buch ist die Segeberger Zeitung
Viel schlimmer sei die Ablehnung Fremder während der Nazi-Herrschaft gewesen. Schröder erinnert sich an eine Situation aus seiner Kindheit. „Wir hatten einen Hilfsarbeiter aus der Ukraine bei uns. Der durfte immer mit an unserem Tisch sitzen und mit uns gemeinsam essen.“ Das sei aber eigentlich verboten gewesen.
Als die Dorfbewohner sich wegen eines Angriffs Gasmasken holen sollten, habe sein Vater auch eine für den Ukrainer mitgebracht. Das habe den Nazis nicht gefallen. „Sie kamen zu uns und meine Mutter musste auf Knien weinend um unser Leben flehen“, erzählt Schröder, dem bei der schlimmen Erinnerung selbst die Tränen kamen.
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Rund zwei Stunden lang befragten die drei Interviewer Lukas Schaar, Jeron Haack und Ante Stein (alle 17) ihre zwei Zeitzeugen. Der Geschichtskurs hörte aufmerksam zu. Den beiden Männern gefiel es, die junge Generation an ihren Erlebnissen und Erfahrung teilhaben zu lassen.
Die Ergebnisse dieser Befragung werden demnächst in Gerhard Braas’ neuem Buch zu finden sein. „Das ist regionalgeschichtlich Neuland“, sagt Braas. „Über die ersten 50 Jahre nach dem Krieg gibt es aus der Region kaum Literatur.“ Der Historiker hat für sein neues Buch über 9000 Dateien ausgewertet, die alle aus der Segeberger Zeitung stammen. Braas freut sich über die vielen erhaltenen Quellen: „Der damalige Reporter Heinz Friedrich Kamecke hat in den Nachkriegsjahren sehr lebendig über Kaltenkirchen geschrieben.“
KN