Coming-out von Karin Hanczewski: Wer darf eigentlich queere Rollen spielen?
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Am Ende aller Verbrecherjagden: Kommissarin Henni Sieland (Alwara Höfels, links) will keine Polizistin mehr sein. Kollegin Gorniak (Karin Hanczewski) kann’s nicht fassen.
© Quelle: MDR/HA Kommunikation
Hannover. Über Jahrzehnte hinweg waren TV- und Filmproduktionen eine ziemlich heteronormative Angelegenheit. Nicht nur hinter der Kamera standen häufig heterosexuelle Männer – auch in ihren Werken auf dem Bildschirm wurden stets die immer gleichen Mama-Papa-Kinder-Geschichten gezeigt, wenn man von einigen einschlägigen Ausnahmen wie „Brokeback Mountain“ einmal absieht.
Heute ist das anders. Filme und Serien mit queeren Darstellerinnen und Darstellern müssen keine Sonderkategorie mehr sein. Netflix-Serien wie etwa die britische Produktion „Sex Education“ haben gezeigt, wie einfach und natürlich sich queere Lebenswelten in Serienhandlungen integrieren lassen, ohne dass es gleich belehrend oder anbiedernd wirkt. LGBT+-Charaktere sind immer wieder in neuen Produktionen zu sehen, und TV-Sender im In- und Ausland haben sich quer durch die Bank das Thema Diversität auf die Fahnen geschrieben.
Ende gut, alles gut? Nicht ganz. Denn die neu entdeckte Diversität der TV‑Sender und Produktionsfirmen bringt nun ganz neue Probleme mit sich. Probleme, die auch unter queeren Menschen für hitzige Debatten sorgen. Und Probleme, für die es aktuell keine zufriedenstellende Lösung zu geben scheint. Es geht um nicht weniger als die Frage: Wer darf heterosexuelle, schwule, lesbische, transsexuelle oder behinderte Menschen überhaupt auf dem Bildschirm darstellen?
Hanczewski werden nur noch lesbische Rollen angeboten
Neuen Zündstoff in die Debatte hat am Montag die „Tatort“-Schauspielerin Karin Hanczewski gebracht. Die 39-Jährige war im Frühjahr dieses Jahres eine von insgesamt 185 lesbischen, schwulen, bisexuellen, queeren, nicht binären und trans Schauspielerinnen und Schauspielern, die sich im Rahmen der Kampagne #ActOut geoutet hatten. Für Hanczewski blieb das offenbar nicht ohne Folgen.
„Die Rollen, die ich seit #ActOut angeboten bekomme, sind allesamt lesbisch“, so Hanczewski in einem Interview mit der „Augsburger Allgemeinen“. Das gehe an dem vorbei, was die Kampagne #ActOut eigentlich bezwecken wollte. „Wir sind Schauspieler:innen, wir müssen nicht sein, was wir spielen, wir tun so, als wären wir es. Das ist unser Beruf. Dass ich jetzt nur noch lesbische Rollen angeboten bekomme, ist ein Missverständnis dessen, was wir tatsächlich gesagt haben: nämlich, genau diese Grenzen zu sprengen. Ich will nicht in Schubladen gedacht werden. Mein Beruf ist das Gegenteil.“
In ihrem Manifest hatten die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner seinerzeit geschrieben: „Bisher konnten wir in unserem Beruf mit unserem Privatleben nicht offen umgehen, ohne dabei berufliche Konsequenzen zu fürchten. (…) Das ist jetzt vorbei. (…) Wir sind Schauspieler*innen. Wir müssen nicht sein, was wir spielen. Wir spielen, als wären wir es – das ist unser Beruf.“
So könnten „Ehefrauen und Familienväter, Liebende und Staatsleute, Sympathieträger*innen und Ekel“ selbstverständlich auch von queeren Darstellerinnen und Darstellern verkörpert werden – schließlich könne man auch Mörder spielen, ohne gleich gemordet zu haben.
Amazon hat eine andere Meinung
Doch es gibt zu diesem Thema auch eine diametral andere Haltung – und die kommt ausgerechnet von einem der größten Film- und Serienproduzenten überhaupt: den Amazon Studios in den USA.
Laut einem neuen Leitfaden, dem sogenannten Inclusion Playbook sollen hier nur noch Schauspielerinnen und Schauspieler für eine Produktion engagiert werden, „deren Identität (Geschlecht, Geschlechtsidentität, Nationalität, Ethnizität, sexuelle Orientierung, Behinderung) mit den Figuren, die sie spielen, übereinstimmt.“ Amazon selbst verspricht sich dadurch, „authentische Geschichten erzählen zu können“.
Eine verpflichtende Regel sollen diese Leitlinien zwar nicht sein, sie sind vielmehr eine Empfehlung. Doch sie könnten die Schauspielerei nachhaltig verändern.
Kein „Brokeback Mountain“ mit Heteros
Karin Hanczewski beispielsweise war vor ihrer „Tatort“-Karriere bereits in der NDR-Serie „Der Tatortreiniger“ zu sehen – und zwar als Frau im Rollstuhl. Einen solchen Auftritt hätte es nach den neuen Amazon-Regeln wohl nicht gegeben. Neil Patrick Harris wurde als Womanizer in der Serie „How I Met Your Mother“ zum Star. Nicht so nach den neuen Amazon-Leitlinien – Harris ist nämlich im echten Leben schwul. Und ja, auch „Brokeback Mountain“ mit zwei eigentlich heterosexuellen Hauptdarstellern hätte es nach dieser Auffassung von Diversität wohl nie gegeben.
Selbstverständlich sorgten die Pläne des Onlineriesen nach der Bekanntgabe im Sommer für zahlreiche Reaktionen. Inklusion bejahende Verbände beispielsweise begrüßten den Vorstoß, während es von anderer Stelle massive Kritik hagelte.
Die „Bild“-Zeitung polterte etwa im Juni, bei der Entscheidung der Amazon Studios handele es sich um nicht weniger als „Woke-Wahnsinn“. Mit dem Wort „woke“ sind Menschen gemeint, die sich als besonders sensibel gegenüber sozialen Ungerechtigkeiten begreifen und dementsprechend handeln. Die Schauspielerinnen und Schauspieler würden bei Amazon künftig nicht mehr nach ihrer Kompetenz eingestellt, „sondern nach ihrer Nationalität, ihrer Hautfarbe, ja sogar nach ihrer Art der Sexualität“, heißt es beim Boulevardblatt.
Das Ende der Schauspielkunst
In der „Zeit“ kritisierte der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard die neuen Amazon-Leitlinien als paradox. Ein Beharren auf einer Übereinstimmung von Rolle und Identität bringe „nicht nur unbeholfene Kunst“ hervor, sondern verkürze und begradige auch die verschlungenen Pfade zwischen Wirklichkeit und Fiktion. „Die Fähigkeit des Schauspielers, die unterschiedlichsten Charaktere auf der Bühne oder Leinwand zu verkörpern, sein Talent, sich in fremde Figuren hineinzuversetzen, gilt als verdächtig. An die Stelle von ästhetischen Prozessen tritt ein autoritäres kulturhygienisches Programm.“
Und „taz“-Autorin Erica Zingher bescheinigte dem Amazon-Konzern schlichtweg „keine Ahnung vom Beruf“ des Schauspielers oder der Schauspielerin – vielmehr begünstigten die Regeln die „Abschaffung der Schauspielerei“.
Und noch einen Punkt griff die Autorin auf: Wer soll die Identität der Schauspielerinnen und Schauspieler überhaupt überprüfen? „Wird man Nachweise verlangen, die belegen, dass eine Schauspielerin auch wirklich lesbisch ist wie die Rolle, die sie spielen soll? Was ist mit all den ungeouteten Schauspielerinnen? Werden sie auf diese Weise indirekt zum öffentlichen Outing gezwungen, weil sie ansonsten keine Rollen annehmen können, die nicht ihrer Identität entsprechen?“
Diversität fürs Unternehmensimage
Die schwarze Synchronsprecherin und Schauspielerin Pia Amofa-Antwi sagte dem Bayerischen Rundfunk seinerzeit, sie halte die Richtlinien von Amazon für „Schwachsinn“. „Der Ansatz ist vielleicht gut gemeint, aber die Umsetzung ist meiner Meinung nach einfach nur schlecht: Das, was mich am Schauspiel so reizt, ist, in eine andere Rolle zu schlüpfen und eine Figur spielen, die nicht so nah an mir ist. Deshalb macht das für mich überhaupt keinen Sinn.“
In Medien in den USA liest man derartige Debattenbeiträge über die Amazon-Richtlinien kaum bis gar nicht – und das könnte einen Grund haben. Der Konsens für derartige Ideen dürfte in dem Land deutlich höher sein als etwa hierzulande. Die von Kritikern abfällig als „woke“ beschriebene Haltung wird von zahlreichen US-Großkonzernen gern genutzt, um das eigene Image aufzubessern – wie etwa vom Unternehmen Amazon, das mit seinen Arbeitsbedingungen nicht gerade zu den Vorzeigekonzernen gehört.
Große Verwirrung bei Produktionsfirmen
In Deutschland sorgt die Debatte um Identität in Filmen und Serien offenbar zunehmend für Verwirrung statt für eine Lösung des Problems. „Es gibt eine Verwirrtheit und Vorsicht, etwas falsch zu machen. Die Verantwortlichen wollen, so scheint es mir, alles richtig machen, wenn sie die Rolle eines Schwulen oder einer Lesbe jetzt homosexuellen Schauspieler:innen geben“, sagt Hanczewski in dem Interview.
Von den Plänen der Amazon-Studios hält sie derweil nicht viel: „Für mich steht das im Widerspruch zu meinem Beruf. Ich habe ihn begonnen, weil ich mich mit etwas anderem auseinandersetzen wollte als mit mir selbst. Mit anderen Biografien, anderen Lebensrealitäten.“ Für sie höre der Beruf auf, wenn sie nur noch das spielen könne, was sie sei, sagt sie in dem Interview. „Die Kunst eröffnet neue Sichtweisen, schafft Sichtbarkeit und vermag vermeintliche Grenzen zu sprengen. Deshalb liebe ich Kunst.“
Und doch bleibt die Debatte hoch kompliziert, das muss auch Hanczewski zugeben. Transpersonen hätten aktuell nicht das Problem, das schwule und lesbische Schauspieler hätten – sie würden nämlich derzeit fast gar keine Rollen bekommen. „Und wenn dann mal eine Transperson in einem Film erzählt wird, spielt das auch eine heterosexuelle Person. Dann gibt es für diese Künstler:innen gar keinen Raum“, so die Schauspielerin.
Keine Reaktionen aus der Branche
Wäre eine Regel, wie die von Amazon, also vielleicht doch ein gutes Konzept? Für den Übergang? Ein radikaler Schritt, um irgendwann zu mehr Diversität auf dem Bildschirm zu gelangen?
Andere queere Schauspielerinnen und Schauspieler halten sich in dieser Frage bedeckt. Bei der Pressestelle der Kampagne #ActOut bleibt eine Anfrage des RedaktionsNetzwerks Deutschland zu der Thematik am Mittwoch unbeantwortet. Angefragte Schauspielerinnen und Schauspieler reagieren gar nicht, oder winken durch ihr Management ab: Keine Zeit, zu viel zu tun. Auch der Bundesverband Schauspiel (BFFS) will sich nicht zur Thematik äußern.
Das Management von Netflix-Star Maximilian Mundt („How to Sell Drugs Online (Fast)“), der sich ebenfalls an #ActOut beteiligte, lässt aber durchblicken, dass nicht jeder queere Schauspieler die Probleme von Karin Hanczewski teilt. Mundt werde „in den Anfragen für Rollen absolut nicht festgelegt“, sagt Managerin Christiane Dreikauss dem RND. Für die kommenden zwei Jahre habe der 25-Jährige verschiedenste Rollen angenommen, alle seien heterosexuell. (Update, 26. Oktober: Inzwischen hat sich auch #ActOut-Unterzeichner Jannik Schümann zur Thematik geäußert.)
Hanczewski erhofft sich nun eine „Diskussion innerhalb der Filmbranche“. Das Geschäft müsse „auf allen Ebenen selbstverständlich divers sein, bei den Leuten, die Filme und Serien schreiben, die sie produzieren, die spielen. Wir müssen gemeinsam darüber nachdenken, wie wir das schaffen. Und letztendlich wird das eine Bereicherung sein. Davon bin ich zutiefst überzeugt.“ Bis dahin sei es aber noch „ein weiter Weg“.