Der Boom der ZDF-Debattenformate – mehr als nur extreme Unterhaltung?
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Die Moderatoren Salwa Houmsi (rechts) und Jo Schück bei der Aufzeichnung der Debattenreihe „13 Fragen“.
© Quelle: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild
Hannover. Zwei junge Männer sitzen einander gegenüber. Im Hintergrund: Ein grauer Vorhang und türkise Dekoelemente – dieselbe Farbe haben auch die Ganzkörperanzüge der beiden Protagonisten. Das Outfit erinnert an die Netflix-Erfolgsserie „Squid Game“. Sterben soll bei diesem TV-Experiment aber niemand, ganz im Gegenteil: Bestenfalls geben beide Männer am Ende einander versöhnlich die Hand.
„Sag’s mir“ heißt das neue Debattenformat des ZDF, bei dem sich zwei Menschen einander mit gänzlich unterschiedlichen Meinungen „emotional annähern“ sollen, wie der Teaser der Sendung verspricht. Beide kennen einander nicht, beide sind gleich gekleidet, um mögliche Rückschlüsse auf die eigenen Identität zu erschweren.
Und auch das mögliche Konfliktpotenzial ist beiden Protagonisten vorher nicht bekannt: Erst im Laufe des Gesprächs soll beiden klar werden, warum man da einander eigentlich gegenübersitzt – und die Meinungsverschiedenheit gemeinsam aus der Welt geräumt werden.
Streiten ohne Blockfunktion
In diesem Fall lautet die Konfliktlinie: Flugreisen. Elias möchte Kurzstreckenflüge verbieten und hat eine Website gegründet, die internationale Bahnreisen vereinfachen soll. Christopher hingegen ist Flugbegleiter und demnach vom gut frequentierten Flugverkehr abhängig – abgesehen davon kann er sich auch nichts Schöneres vorstellen, als mit dem Flugzeug in den Urlaub zu fliegen.
Das Konzept von „Sag’s mir“ verleitet beide Protagonisten zu einer sachlichen Diskussion, indem sie einander zunächst kennenlernen und Gemeinsamkeiten entdecken. Später wird dann der Streitpunkt bekannt gegeben und es kommt zu einem ungewöhnlich friedlichen Austausch.
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Die Lehre aus dem Format: Obwohl beide Protagonisten völlig anderer Meinung sind, gehen sie am Ende trotzdem versöhnlich auseinander – wollen sogar gemeinsam ein Bierchen trinken und weiterdiskutieren. Es ist ein konstruktiver Gegenentwurf zu all dem, was sich in den sozialen Netzwerken abspielt. Dort, wo Menschen mit gegenteiligen Positionen unaufhörlich brüllen und einander beschimpfen und als letzte Maßnahme die Blockfunktion einsetzen.
Man könnte „Sag’s mir“ auch als eine kleine Fernsehrevolution bezeichnen – sind doch die allabendlichen Polittalkshows eher auf Krawall und Konfrontation statt auf Konsens gebürstet. Tatsächlich aber ist die Idee des Formates nicht ganz neu. Inzwischen gibt es nämlich ganze vier Formate im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, die alle ein ganz ähnliches Konzept verfolgen. Und der Boom dieser Sendungen scheint gerade erst begonnen zu haben.
Vier Formate, ein Ziel
Die Formate heißen „13 Fragen“ (ZDF), „Auf der Couch“ (ZDF) und „Mixtalk“ (SWR). Sie alle laufen vor allem im Internet und in den Mediatheken statt im Fernsehen – und sie haben alle dasselbe Ziel: Echokammern aufbrechen und der Spaltung der Gesellschaft mit konstruktiven Debatten entgegenwirken. Alle Formate verfolgen dabei einen spielerischen Ansatz – und sie alle behandeln ganz ähnliche Themen. Das ZDF hat mit unbubble nun einen eigenen Youtube-Kanal gegründet, für den noch weitere Formate des Genres produziert werden sollen.
„Auf der Couch“ mit dem Psychologen Leon Windscheid spielt im Gegensatz zu „Sag’s mir“ nicht in einer „Squid Game“-Kulisse, sondern ist aufgebaut wie eine Paartherapie. Windscheid lässt die Protagonistinnen und Protagonisten Linien auf den Boden kleben, um zu schauen, wie weit sich ihre Positionen voneinander entfernen. Mal sollen sie Zettel an Pinnwände kleben, um über verschiedene Positionen zu diskutieren. Mal sollen sie sich an den Händen fassen und sich gegenseitig sagen, was man am jeweils anderen gut findet. Mal sollen sie für den jeweils anderen Reden schreiben, um sich in dessen Lage hineinzuversetzen.
Das Ergebnis ist immer dasselbe: Die Protagonistinnen und Protagonisten nähern sich an – und überwinden ihre Diskrepanzen zumindest insofern, dass am Ende aus einer aufgebrachten Diskussion ein freundlicher Austausch wird.
Der Erfolg von „13 Fragen“
Das älteste und bislang erfolgreichste Format des Genres ist die ZDF-Sendung „13 Fragen“. Hier wird der konstruktive Streit nicht in einem Therapieraum, sondern auf zwei Spielfeldern ausgetragen. Insgesamt sechs Kandidatinnen und Kandidaten mit unterschiedlichen Positionen diskutieren. Auf den Spielfeldern sind Kästchen aufgemalt – wer eine Position des anderen Lagers teilt, soll einen Schritt nach vorne machen. Ziel der Sendung: Bis zum Ende sollen möglichst viele Kandidatinnen und Kandidaten aufeinander zugehen.
„13 Fragen“ ist ein absoluter Klickhit im Netz: Jede Folge der Sendung hat mindestens sechsstellige Aufrufzahlen auf Youtube – einige der Episoden, etwa über politisch korrekte Sprache, kulturelle Aneignung oder die Corona-Impfung haben weit mehr als eine Million Aufrufe, manchmal sogar zwei.
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Von dem Erfolg hat inzwischen auch die ARD mitbekommen. Mit „Mixtalk“ ist im SWR ebenfalls ein Format mit ganz ähnlichem Ansatz gestartet. Hier findet die Diskussion zwischen den verschiedenen Lagern weder im Therapieraum noch auf dem Spielfeld statt, sondern ganz virtuell über die Webcam: Ein Moderator oder eine Moderatorin führt zwei Personen mit unterschiedlichen Meinungen durch die Sendung – damit alles anständig abläuft, sollen eine rote und eine gelbe Karte weiterhelfen.
Man wolle der „Verrohung des Tons im öffentlichen Raum“ etwas entgegensetzen, so SWR-Intendant Kai Gniffke gegenüber der „Süddeutschen Zeitung“ zum Start des Formats. Ein ZDF-Sprecher erklärt derweil dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), „viele Menschen“ würden die „Gesellschaft zunehmend als zersplittert und von Konfliktlinien geprägt wahrnehmen“. Das Netz bilde unzählige Communities, die dann vorwiegend innerhalb ihrer eigenen Filter Bubble kommunizierten. Genau die wolle man mit den Formaten aufbrechen.
Häufig ähnliche Themen
Stellt sich nur die Frage: Gelingt diesen Formaten das eigentlich? Helfen Therapiesitzungen und bunte Spielfelder, die wichtigen Diskussionen unserer Zeit zu versachlichen? Und: Bilden diese Formate diese Diskussionen überhaupt ab?
Eines zumindest ist auffällig: Alle genannten Formate behandeln nahezu dieselben Themen. Man könnte sagen, die Themenvielfalt ist eine Art Rekonstruktion der täglichen Twitter-Trends. Es sind Themen mit Zündstoff, Themen die in den sozialen Netzwerken die Emotionen hochkochen lassen und verlässlich zu Entrüstungsstürmen führen. Diskutiert wird häufig mit Protagonistinnen und Protagonisten, die selbst auf dieser Plattform aktiv sind. Die Debatten wirken wie ein Schlagabtausch unter Aktivistinnen und Aktivisten verschiedener Glaubensrichtungen – spiegeln aber nicht unbedingt die vielfältigen Debatten der Gesamtgesellschaft wider.
Um ein Beispiel zu nennen: Das Thema Pflege wird bislang in keinem der genannten Formate behandelt. Gleiches gilt für komplexere politische Themen. Auch Dinge, die Menschen aus dem nichtakademischen Milieu interessieren könnten, finden sich in den Debattenformaten selten wieder.
Von Gendern bis „Cancel Culture“
Stattdessen geht es oft um aktivistische Themen. In nahezu allen Sendungen wird etwa über das Thema gendergerechte Sprache diskutiert, gleiches gilt für die Legalisierung von Drogen beziehungsweise Cannabis. Ebenso häufig spielen identitätspolitische Fragen eine Rolle: Das Format „13 Fragen“ behandelt im verlässlichen Rhythmus Themen wie „Cancel Culture“, „kulturelle Aneignung“, „Identitätspolitik“ und „politisch korrekte Sprache“ – und lädt dafür Aktivistinnen und Aktivisten mit häufig radikalen Positionen ein.
Immerhin: Manche der Formate greifen auch das Thema Armut auf – doch auch dieses wird dann oft mit einem provokanten Twist aufgeladen. „Sollten Reiche mehr abgeben?“, fragt etwa das Format „Mixtalk“ – und macht es damit wieder zu einem Schlagabtausch zweier politischer Lager. Ebenso bei „Auf der Couch“: Da stehen sich ein SPD- und ein CDU-Mitglied gegenüber, die darüber streiten, ob es in Deutschland jeder schaffen kann oder nicht.
Vermutlich sollen die Formate aber auch genau das sein: Ein Abbild von Internetdebatten. Diskussionen, die sich an eine ganz bestimmte Zielgruppe richten. Um zu zeigen, dass es auch anders geht, dass das tägliche Gebrüll auf Twitter gar nicht nötig ist.
ZDF will Themenvielfalt erhöhen
Man könnte aber auch kritisieren: Mit dem Weg auf die ganz große Bühne blasen die Formate unseriöse Twitter-Diskussionen über Randthemen zu riesigen Debatten auf – und schaffen sich damit selbst eine eigene kleine Filterblase, die mit der Realität nur bedingt etwas zu tun hat.
Das ZDF erklärt auf RND-Anfrage, es sei eine „große Herausforderung“, in den Formaten auch Diskussionsthemen anderer Milieus abzubilden – man habe das in Zukunft aber vor. „Für dieses Jahr haben wir uns formatübergreifend etwa noch die Themen ‚soziale Ungerechtigkeit‘, ‚Pornographie‘, ‚künstliche Befruchtung‘, ‚Alkohol‘ und ‚Organspenden‘ vorgenommen“, heißt es vom Sender. „Wir versuchen prinzipiell, über die Eingeladenen und ihre Perspektiven alle relevanten Milieus abzubilden.“
Eines sei aber auch klar: „Im Kern richten sich unsere Formate an 25- bis 34-jährige Menschen, bei denen wir ein besonderes Bedürfnis an einem Perspektivwechsel ausgemacht haben und die raus wollen aus ihrer Echokammer.“
Die Zwischentöne fehlen
Ob es den Formaten gelingt, genau diese Echokammern tatsächlich aufzubrechen, ist derweil fraglich. Denn dafür fehlt es – neben einer gewissen Themenvielfalt – auch an Zwischentönen. Selbst beim Erfolgsformat „13 Fragen“ werden aus sechs Kandidatinnen und Kandidaten einzig und allein zwei Lager gebildet. Dort müssen sie sich dann irgendwie positionieren – als gäbe es zu einem kontroversen Thema gar nicht mehr als nur zwei Meinungen.
Auf den Spielfeldern treffen dann besonders radikale Positionen aufeinander. Radikale Umweltaktivistinnen und -aktivisten treffen auf radikale Atomkraftfans, politisch inkorrekte Youtuber auf Autorinnen, die sich von politisch inkorrekter Sprache verletzt fühlen. Konservative Kolumnistinnen und Kolumnisten treffen auf Aktivistinnen, die den Foxeye-Schmink-Trend als kulturelle Aneignung empfinden – und zum Thema „MeToo“ treffen Feministinnen auf Désirée Nick und Ulf Poschardt.
All das ist wahnsinnig unterhaltsam und spannend, nicht ohne Grund hat die Sendung enorme Aufrufzahlen. Aber liefert sie wirklich einen Mehrwert, der über Unterhaltung hinausgeht?
Weitere Formate geplant
Das ZDF zumindest sieht das so. „Nicht nur die Aufrufe, auch das Kommentaraufkommen ist extrem hoch, meist im vierstelligen Bereich“, teilt der Sender mit. Die Diskussion auf dem Bildschirm werde also auch nachträglich weitergeführt – mit den eigenen Nutzerinnen und Nutzern sei man im permanenten Austausch und entwickele die Formate auch weiter.
„Die Debattenkultur in einer fragmentierten Öffentlichkeit anzuregen und zu fördern liegt im Kern des öffentlich-rechtlichen Auftrags“, so das ZDF weiter – dem komme man mit den neuen Debattenformaten nach. Unterhaltung spiele dabei aber durchaus eine Rolle: Es gehe darum, einen „Perspektivwechsel zu ermöglichen“. „Das darf gerne unterhaltsam sein und soll auch Spaß machen.“
Für den neuen Youtube-Kanal unbubble habe man zum Ende des Jahres noch ein weiteres Format dieser Art geplant.
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