„Die Passion“: Das hat Jesus nicht verdient
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Alexander Klaws (Mitte) steht als Jesus bei RTL-Osterproduktion „Die Passion“ auf dem Burgplatz auf der Bühne.
© Quelle: Rolf Vennenbernd/dpa
Essen. Was zum Teufel war das? Was habe ich mir da gerade angesehen? Wer verdammt noch mal hat dieses Drehbuch geschrieben? Wer hat diese Schauspielerinnen und Schauspieler engagiert? Und warum hat nicht irgendjemand an irgendeiner Stelle gesagt: „Ach Leute, komm, wir lassen das besser“?
Es sind nur einige dieser vielen Fragen, die mir nach dem denkwürdigen Fernsehabend bei RTL durch den Kopf gehen. „Die Passion“ wollte die Leidensgeschichte Jesu Christis in ein modernes Gewand packen, in Form eines Musicals auf dem Essener Burgplatz – moderiert von Thomas Gottschalk, und live übertragen im Privatfernsehen. Was schließlich aufgeführt wurde, war jedoch vielmehr ein verstörendes Schauspiel, das viele Fragezeichen hinterlässt.
Eigentlich sollte an dieser Stelle eine Rezension der RTL-Sendung stehen. Aber ich finde, Sie sollen genauso leiden, wie ich es in den vergangenen zwei Stunden getan habe. Es folgt daher das Protokoll eines Fernsehabends, der sich selbst anfühlte wie ein Gang zum Kreuz.
Unverhofftes Comeback von Gil Ofarim
20.15 Uhr: Eine Drohne fliegt über die mit Feinstaub verzierte Innenstadt von Essen, ehe Thomas Gottschalk die Bühne betritt. Er fungiert heute als Erzähler der Passionsgeschichte, als eine Art Priester sozusagen – und er hat ganz offensichtlich eine neue Frisur. Kaum zu glauben, aber sie wird das geschmackvollste Detail des heutigen Abends bleiben.
20.20 Uhr: Der erste Auftritt von Jesus, gespielt von „DSDS“-Schnulzensänger und Musicalstar Alexander Klaws. „Die Passion“ soll eine moderne Nacherzählung der Auferstehung Jesu Christi sein, erklärt Gottschalk seinem Publikum – also fährt der Star des heutigen Abends mit seinen Jüngern umweltbewusst mit dem Bus in die Stadt. Und als wäre das nicht schon bescheuert genug, singt er dabei den wohl schlimmsten deutschen Popsong aller Zeiten: „Auf uns“ von Andreas Bourani.
Das klingt für Sie schon verstörend? Nein, es geht noch schlimmer. Mit im Bus steht breit lächelnd ausgerechnet Gil Ofarim, der einen der zwölf Jünger spielt. All das wirkt unfassbar skurril: Der Sänger war Ende März von der Staatsanwaltschaft Leipzig wegen Verleumdung und falscher Verdächtigung angeklagt worden – die Hotelgeschichte, Sie wissen schon. Man könnte auch sagen: Durch seine Anwesenheit wird diese ganze Passionsgeschichte nicht gerade glaubwürdiger.
Worst-of deutscher Liedkunst
Mindestens genauso befremdlich: Weder Jesus noch seine Gefolgschaft tragen im Bus eine Maske. Und keiner wird dafür rausgeschmissen. Mario-Barth-Fans bemerken zu recht, dass das eigentlich so nicht geht.
Des Rätsels Lösung ist aber ganz einfach: Die gezeigten Szenen sind bereits zwei Jahre alt und wurden im Winter 2020 aufgezeichnet, also kurz vor der Pandemie. Das erklärt übrigens auch das Auftauchen von Gil Ofarim im Cast der Sendung. Ein bisschen schade ist es schon, dass man ihn nicht rausgeschnitten oder gar verpixelt hat, wie einst beim Abgang des Wendlers bei „DSDS“. Das hätte der Sendung noch mal einen ganz speziellen Vibe verliehen.
20.25 Uhr: Die Sängerin Ella Endlich betritt die Bühne am Essener Burgplatz. Sie spielt an diesem Abend die Maria und wird uns im Laufe dessen mehrfach mit dem Worst-of deutscher Liedkunst beglücken. Alles beginnt mit „Wie schön du bist“ von Sarah Connor und endet schließlich mit (kein Scherz) einem Song von Xavier Naidoo – aber dazu später mehr.
Die Aerosole singen mit
20.30 Uhr: Jesus und seine Jünger erreichen das Einkaufszentrum Limbecker Platz in Essen, wo gleich ein paar euphorische Jugendliche auf den Star des Abends warten und Selfies machen wollen. Ich bin zwar kein Jugendlicher, aber ich glaube, man nennt das cringe.
Ebenfalls im Einkaufszentrum stimmt Jesus seinen nächsten Song an, diesmal im Duett mit Petrus, gespielt von Laith Al-Deen. Man hat sich den Nervsong „Du erinnerst mich an Liebe“ von Adel Tawil ausgesucht, weil der wirklich viel zu selten im deutschen Radio und Fernsehen läuft.
Auffällig: Jesus kommt seinen Jüngern beim Sprechen und Singen immer wieder unangenehm nah. Die Aerosole singen förmlich mit. Bislang war man davon ausgegangen, dass die Corona-Pandemie ihren Ursprung in China hat, und nicht am Limbecker Platz in Essen. Ob die Theorie nach diesem Abend noch haltbar ist?
Ein sehr schweres Kreuz
20.35 Uhr: Endlich eine Mitmachaktion. Ein paar Bürgerinnen und Bürger aus Essen und Umgebung haben sich bereit erklärt, ein sehr schweres, leuchtendes Kreuz für RTL quer durch die Stadt zu schleppen.
Währenddessen müssen sie einer Reporterin erklären, warum sie an Gott glauben. Ein Vater hat sichtlich Mühe, all das unter einen Hut zu kriegen – das Kreuz scheint wirklich sehr schwer zu sein.
Eine Frau namens Janina erzählt derweil einen sehr langen und ausschweifenden Erfahrungsbericht von einer Erleuchtung, der einfach kein Ende zu nehmen scheint. Die Kreuzträgerinnen und Kreuzträger rennen derweil mehrfach fast den Kameramann um. Ja, hier stimmt einfach alles.
Letztes Abendmahl im Flauschpulli
20.40 Uhr: Zeit fürs Abendmahl. Jesus macht einen Abstecher zu einer Imbissbude, die natürlich von Starkoch Nelson Müller betrieben wird. Dort holt er mehrere Fladenbrote und zwei Currywürste ab, Reiner Calmund blickt der illustren Truppe nach. Auch diese Szenen sind aufgezeichnet. Stundenlang geht das so – während das Publikum an der Bühne am Essener Burgplatz sinnlos in der Kälte auf Bildschirme starrt.
Im weißen Flauschpulli findet sich Jesus schließlich in einem Restaurant wieder, wo er das Brot verteilt und schließlich einen Streit mit Judas anzettelt. Klar, dass der irgendwann sauer ist und flüchtet. Gil Ofarim beobachtet die Szenerie mit einem unangenehmen Lächeln im Hintergrund.
Die Stimmung kippt deutlich, als Jesus schon wieder anfängt zu singen. Ich kann mir nicht helfen, aber an diesem Punkt wünscht man sich tatsächlich, dass er diesen Abend nicht überlebt.
Mental Breakdown im Birkenwald
20.50 Uhr: Judas, sichtlich gekränkt von seinem Streit mit Jesus, liegt auf einem Essener Vordach und singt „Durch den Monsun“ von Tokio Hotel. Keine Pointe.
20.55 Uhr: Gottschalk moderiert wieder. Eins muss man ihm lassen: Er macht an diesem Abend mit Abstand den seriösesten Job hier.
21.05 Uhr: Fast eine ganze Stunde dauert es, bis uns Thomas Gottschalk endlich und erstmals mit einer Werbeunterbrechung erlöst. Ich weiß nicht, wann ich mich zuletzt so sehr über Werbung gefreut habe und wäre sogar mit der Check24-Familie einverstanden.
21.15 Uhr: Jesus kommt an der Zeche Zollverein an. Dort, wo einst die Bergmänner fürs deutsche Wirtschaftswachstum sorgten, stehen nun er und Gil Ofarim mit aufgeknöpftem Hemd in der Kälte und machen ein riesiges Drama. Jesus redet davon, dass er nicht mehr leben will – und erleidet dann einen mental Breakdown in einem Birkenwald, der mit einem weiteren Song von Adel Tawil endet – man kennt das.
Unübersichtliche Handlung
21.25 Uhr: Jesus hat sich beruhigt und findet seine Jünger schließlich vor der Kulisse der imposanten Essener Zeche vor. Dort haben sie ein Feuer gezündet, was laut Brandschutzverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen bestimmt nicht erlaubt ist.
Glücklicherweise kommt auch wenig später die Polizei vorbei, die sich jedoch gar nicht für die Ordnungswidrigkeit zu interessieren scheint. Stattdessen nehmen die Beamten ausgerechnet den von Judas verratenen Jesus mit.
Doch was wird ihm eigentlich vorgeworfen? Ist sein scheußlicher Gesang das Problem? Allmählich wird die Handlung unübersichtlich.
Maria singt Xavier Naidoo
21.30 Uhr: Die folgenden Minuten sind ein Wechselbad der Gefühle. Petrus läuft die durch die (in der Tat sehr schöne) Essener Margarethenhöhe und schämt sich für seinen Freund. Gottschalk kündigt an, dass wir gleich endlich live miterleben werden, wie Jesus ans Kreuz geschlagen wird. Und Maria singt auf der Bühne ausgerechnet einen Song von Xavier Naidoo.
Man mag das alles gar nicht glauben: Der Sänger, der inzwischen mit den unmöglichsten Verschwörungserzählungen auffällt, hatte den Song „Und wenn ein Lied“ im Jahre 2004 mitgeschrieben. Die Neuinterpretation von Ella Endlich dürfte daher seine Haushaltskasse mit neuen GEMA-Tantiemen klingeln lassen.
Und an dieser Stelle kann man sich auch wirklich nicht mehr herausreden, dass die Szenen aufgezeichnet sind. Ella Endlich steht an diesem Abend live auf der Bühne und singt das Lied eines der schlimmsten Verschwörungspromis der vergangenen zwei Jahre. Wie kann so etwas passieren? Und was kommt als nächstes? Kocht Attila Hildmann das nächste Abendmahl?
Die Polizei, dein Freund und Henker
21.45 Uhr: Wieder werden Bürgerinnen und Bürger beim Kreuztragen interviewt, wieder wird gesungen. Und schließlich wird Jesus ausgerechnet von der Essener Polizei zum Kreuz geführt. Wirklich, was soll der Quatsch? Seit wann führt die deutsche Polizei irgendjemanden zur Hinrichtung? Hat irgendjemand dieses Drehbuch vorher mal gelesen? Und warum wurde der Autor noch nicht verhaftet?
22.00 Uhr: Das große Voting beginnt. Das Volk vor der Bühne am Essener Burgplatz darf, nachdem es stundenlang auf Bildschirme gestarrt hat, entscheiden, ob Jesus freigelassen wird oder elendig verrecken soll. Das Ende der Geschichte ist bekannt.
22.15 Uhr: „Der letzte Bulle“ Henning Baum erklärt derweil in seiner Rolle als Pontius Pilatus, dass man Jesus nun 18 Zentimeter lange Nägel in die Hände rammen werde, woraufhin er elendig ersticken wird.
Das hat Jesus nicht verdient
22.30 Uhr: Ein Glück: Von der Kreuzigung sieht man an diesem Abend nicht viel, dafür von der Auferstehung umso mehr. Jesus alias Alexander Klaws steht auf dem Dach eines Gebäudes am Essener Burgplatz, sein Haar weht im leichten Wind und Rauch umgibt ihn.
Zum Song „Halt dich an mir fest“ kommt schließlich noch einmal das gesamte Ensemble auf die Bühne. Nur einer fehlt: Gil Ofarim.
Es ist das Ende eines Fernsehabends, von dem vor allem Verwirrung, Verstörung und viele offene Fragen bleiben. Eines jedoch ist völlig klar: Jesus hat all das ganz sicher nicht verdient.