„Inventing Anna“ bei Netflix: Vielschichtiges Porträt der schillernden Betrügerin Anna Sorokin
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Julia Garner als Anna Delvey in der Netflix-Serie „Inventing Anna“.
© Quelle: Nicole Rivelli/Netflix
„Eine Visionärin wie mich trifft man nicht jeden Tag. Genies sind rar“, erklärt Anna. Bescheidenheit war nie ihre Sache. Dabei wäre gerade jetzt ein wenig Demut angesagt. Immerhin sitzt sie auf der falschen Seite der Glasscheibe im Besucherraum einer New Yorker Haftanstalt.
Mit betont arroganter Mine blickt sie durch die schwarze Designerbrille, die ihr als einziges Indiz des verschwenderischen Lifestyles geblieben ist. Aber Anna hört nicht auf zu blenden. Sie kann es einfach zu gut. Und sie ist sehr weit damit gekommen.
Anna Sorokin schlich sich systematisch in New Yorker Highsociety ein
Von 2013 bis 2017 schlich sich die deutsch-russische Hochstaplerin Anna Sorokin systematisch in die New Yorker Highsociety ein und lebte dort in Saus und Braus. Die Mittzwanzigerin gab sich als deutsche Erbin mit einen Treuhandvermögen von 60 Millionen Euro aus. Mehrmonatige Aufenthalte in Nobelhotels, sündhaft teure Designerklamotten, Besuche in den angesagtesten Restaurants der Stadt ergaunerte sie sich. Fast hätte sie es sogar geschafft, einen Kredit von 28 Millionen Dollar bei einer der größten Investmentbanken der USA zu bekommen.
Schon während des Prozesses gegen Sorokin sicherte sich Netflix 2019 für 320.000 Dollar die Rechte. Nun hat die angesehene Stoffentwicklerin Shonda Rhimes („Grey‘s Anatomy“/„Bridgerton“) die Story ins Serienformat übersetzt. In die Welt der Hochstaplerin führt die Figur der hochschwangeren Journalistin Vivian (Anna Chlumsky) und in den ersten Folgen tut die Serie, was Anna Sorokin auch getan hat: Sie blendet.
Ausflüge in die Welt der Superreichen
Ausflüge in die Welt der Superreichen führen in geräumige Stadtvillen, edle Restaurants, hippe Galerien und auf Yachten vor Ibiza. Wer mit dem Personalbestand des New Yorker Geldadels und den Markennamen elitärer Modelabels nicht vertraut ist, wird sich in den ersten Folgen ein wenig langweilen. Aber ab der Mitte gewinnt die neunteilige Serie deutlich an Tiefe, wenn sie nicht nur weiter in die Psyche der Hochstaplerin eintaucht, sondern auch zeigt, wie sich erfahrene Banker des Hochfinanzwesens von der 25-Jährigen nur zu gerne täuschen ließen.
Immerhin will Anna (Julia Garner – „Ozark“) an der teuren Adresse der 281 Park Avenue einen Club für Superreiche im Soho-House-Format eröffnen. Die angesagtesten Architektinnen und Architekten, Designerinnen und Designer, Galeristinnen und Galeristen sowie Chefköchinnen und -köche sind mit im Boot und die großen Namen öffnen Anna auch die Türen zu den Investmentfirmen. Aber nicht nur auf dem Immobilienmarkt zieht Anna ihre Show ab. Auch im engsten Freundeskreis zahlt sie selten die Restaurantrechnung mit der eigenen Kreditkarte.
Schillernde Betrügerin weckt Lebensgeister ihrer Opfer
Die schillernde Betrügerin weckt die geschäftlichen wie privaten Lebensgeister ihrer Opfer, die in ihr auch den eigenen, zukünftigen Erfolg vorherzusehen glauben. Als Borderline-Persönlichkeit strahlt Anna eine selbstzerstörerische Faszinationskraft auf ihre Mitmenschen aus. Die Journalistin Vivian muss sich genauso gegen Annas Vereinnahmungen zur Wehr setzen wie deren Rechtsanwalt Todd (Arian Moayed).
„Inventing Anna“ tritt nicht an, das Geheimnis der Hochstaplerin aufzulösen. Aber Rhimes gelingt ein vielschichtiges Porträt, das seine widersprüchliche Protagonistin facettenreich ausleuchtet und weit über sie hinaus verweist. Auf die Ära Trump, in der Narzissmus und die Generierung alternativer Fakten zur politischen Unkultur gehörte. Auf männerdominierte Finanzmachtzirkel, die von Sorokin ebenso in die Irre geführt wurden wie von der eigenen Gier. Auf eine US-Justiz, die eine Hochstaplerin wegen Betrugs in Höhe von 275.000 Dollar zu einer vier- bis zwölfjährigen Haftstrafe verurteilt und Investmentbänker, die im letzten Börsencrash Milliardenverluste zu verantworten haben, nicht zur Rechenschaft zieht. Und schließlich auch auf einen Medienhype, der Anna Sorokin doch noch den ersehnten Ruhm brachte – und nun in einer Netflix-Serie seinen krönenden Abschluss findet.