TV-Goldstück „Babylon Berlin“ – ARD zeigt weitere Folgen
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Sehnsucht nach dem glitzernden Berlin: Charlotte Ritter (Liv Lisa Fries, r.) und ihre Schester Toni (Irene Böhm).
© Quelle: Foto: x Filme
Berlin. Stellen wir uns kurz vor, wir hätten einen sehr teuren Bildband gekauft, ein golden schimmerndes Coffeetable-Prachtstück über die Zwanzigerjahre in Berlin. Aber wir dürfen das Buch noch nicht ansehen. Wir müssen warten. Ein Jahr lang. Der Bildband ist längst gedruckt, das Geld abgebucht. Es tut sich: nichts. „Nix da!“, sagt der Verlag – „erst sind die anderen Kunden dran.“ – „Aber es ist doch unser Bildband!?“, sagen wir. „Wir haben ihn schließlich bezahlt!“ – „Tja, Pech gehabt“, sagt der Verlag. „Die anderen haben mehr bezahlt, deshalb müsst ihr warten.“
Die Zuschauer der ARD genießen mit einem Jahr Verzug
Im Oktober 2017 lief die 38 Millionen Euro teure Serie „Babylon Berlin“ beim Bezahlsender Sky. Sie wurde koproduziert von Sky und der ARD. ARD-Zuschauer, die das Mammutwerk mit ihren Gebühren mitfinanziert haben, kommen aber erst jetzt in den Genuss des Werkes. Es ist nicht unüblich, dass ein Film eine lange Vorlaufzeit hat, bevor ein Sender ihn zeigt. Unüblich aber ist, dass er dann bereits anderswo mit enormem Marketinggetöse gefeiert wurde.
Das macht ARD-Zuschauer in diesem speziellen Fall zu Kunden zweiter Klasse. „Wir wünschen der ARD für die Ausstrahlung das Allerbeste“, sagte Sky-Chef Carsten Schmidt in diesen Tagen. Es klang ein bisschen süffisant. Er ist durch. 5,2 Millionen Sky-Kunden sind durch. Für ARD-Zuschauer aber beginnen die „BB“-Festspiele erst jetzt.
Der prominente „Tatort“-Sendeplatz wird selten geräumt
Es kommt nicht alle Tage vor, dass das Erste seinen „Tatort“ am Sonntagabend abräumt, um Platz zu schaffen für ein TV-Event. Es gibt keinen prominenteren Sendeplatz für Erzählfernsehen in Deutschland. Für die ersten drei Folgen von „Babylon Berlin“ aber wirft die ARD ihr heiliges Sendeschema tatsächlich über den Haufen. Man rechnet mit Zuschauerzahlen auf „Tatort“-Niveau.
Und zwar zu Recht. Denn was sich von Sonntag an auch im Free-TV entspinnen wird, ist ein gewaltiger, spektakulärer Bilderbogen, ein televisionärer Teufelsreigen, der Zeitläufte und Schicksale zu einem Meisterwerk verschmilzt. An der Qualität des Epos besteht kein Zweifel. In 80 Länder ist die Serie bereits verkauft worden. „Babylon Berlin“, diese monumentale Wette auf die Zukunftsfähigkeit des so lange verpennten deutschen Fernsehens, gehört zu den Perlen des Golden Age of Television – in eine Reihe mit globalen Hits.
„Rück zur Seite, ,Game of Thrones’!“, schrieb der „Daily Star“ in Großbritannien begeistert. Es sei das „sehenswerteste Drama seit ,The Crown’“, lobte die „Vogue“. „Sagenhaft und atemberaubend“, schwelgte der „Guardian“. „Diese Serie verändert das europäische Fernsehen“, schrieb der „Hollywood Reporter“.
Ein pralles Panoptikum der späten Weimarer Republik
Die Geschichte folgt Volker Kutschers Roman „Der nasse Fisch“: Der vom Stahlgewitter des Ersten Weltkriegs seelisch zerrüttete Kölner Kommissar Gereon Rath (wundervoll umrätselt: Volker Bruch) startet 1929 bei der „Sitte“ in Berlin. Er soll einen Erpressungsfall lösen, hebt einen Pornoring aus („So! Die Genitalien eingesammelt!“) und lernt bei einem Paternosterunfall die junge Aushilfssekretärin Lotte kennen (kraftvoll und sexy: Liv Lisa Fries). Die verkauft ihren Körper nachts an schwitzende Moppel, um das Rattenloch, in dem ihre Familie haust, bezahlen zu können – und träumt von einer Karriere als Kriminalermittlerin.
Es entfaltet sich ein pralles Panoptikum um die „schwarze Reichswehr“ – die heimlich die Wiederbewaffnung Deutschlands betreibt –, um eine Trotzkistentruppe, die mit einem Eisenbahnwaggon voller Gold die Konterrevolution in Russland finanzieren will, um Gangsterbosse, Flittchen, mordende Priester, schuftende Kinder, Spieler und Sünder. Ein farbsatter Bilderrausch voller extremer Gegensätze: Elend und Ekstase, Koks und Krankheit.
Ganz stark: Bruno Wolter als abgezockter Altbulle, Matthias Brandt als smarter Polizeichef und Fritzi Haberlandt als verblühte Kriegerwitwe.
Die Zwanzigerjahre sind ein weißer Fleck auf der TV-Landkarte
Die Reichen tanzen sich im Tanztempel „Moka Efti“ mit Charleston in kollektive Räusche, während in den Katakomben gevögelt wird – Analogien zum „Berghain“ sind kein Zufall. Absinth tropft auf Zuckerwürfel. Und mitten in diesem preußischen Babylon zwischen Todestaumel und Zukunftsbesoffenheit ermittelt, hadernd und schweigsam wie Philip Marlowe: Rath, der Katholik aus Köln.
Die Zwanzigerjahre sind ein fast weißer Fleck auf der TV-Landkarte, den die drei Regisseure Achim von Borries, Henk Handloetgen und Tom Tykwer mit Leben füllen. Die Vielfalt, die extremen Kontraste dieser Zeit und die beklemmenden Analogien zur Gegenwart seien ein Geschenk für jeden Regisseur, sagte Tom Tykwer dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Sich im Vergleich dazu vorzustellen, man würde am Set von ,House of Cards’ jeden Tag ins Weiße Haus marschieren und immer dieses Oval Office sehen…“
Er habe „schon beim Dreh das Gefühl gehabt: So etwas habe ich als Zuschauer noch nicht gesehen“, sagt Hauptdarsteller Volker Bruch. „Das ist herausragend und kann einzigartig werden.“ Für die Darstellung des „Kriegszitterns“ hat er Videomaterial aus der Zeit studiert. „Wenn man ,shell shock‘ oder ,PTSD’ googelt, findet man viele Schwarzweißfilme, die ,Zitterer‘ zeigen“, sagt Bruch. „Das sind sehr beeindruckende und bedrückende Zeitdokumente. Die Seele ist so verletzt, dass der Körper rebelliert und einfach nicht mehr gehorcht. Die Folge ist ein Zittern, Hüpfen, Wackeln.“
Das Beste im deutschen Fernsehen seit „Das Boot“
Die Entstehung der Geschichte war für Nicht-Pay-TV-Kunden ein Geduldsakt. Das Ergebnis aber, die Serie selbst, ist das Beste, was das deutsche Fernsehen seit „Das Boot“ hervorgebracht hat. Allein die Tanzszene am Ende der ersten Folge, die betörenden Bilder zum Song „Asche zu Asche“, sind ein Fernsehereignis.
Von Imre Grimm / RND