Völliger Realitätsverlust: Was Heidi Klums Interviewabsage über die Topmodelshow verrät
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Heidi Klum beim Finale der letzten Staffel „GNTM“.
© Quelle: dpa
Hannover. Woran denken Sie, wenn Sie an Heidi Klum und ihre Show „Germany‘s Next Topmodel“ denken? Vielleicht denken Sie an ein abgrundtief gehässiges Format, in dem junge Frauen seit 16 Jahren vorgeführt und von selbst ernannten Modeikonen mit realitätsfernen „Aufgaben“ gedemütigt werden. Vielleicht denken Sie an jahrelanges Bodyshaming vor laufender Kamera, an das Verbreiten veralteter Rollen- und Körperbilder, plumper Klischees und jede Menge Sexismus.
Vielleicht denken Sie auch an das inzwischen legendäre Zitat von Roger Willemsen, der „Germany‘s Next Topmodel“ einst als „Exzess der Nichtigkeit“ bezeichnete. „Eine unschöne Frau mit laubgesägtem Gouvernantenprofil bringt kleine Mädchen zum Weinen, indem sie ihre orthodoxe, hochgerüstete Belanglosigkeit zum Maßstab humaner Seinserfüllung hochschwindelt, über ‚Persönlichkeit‘ redet, sich aber kaum mehr erinnern kann, was das ist, und sollte diese je zum Vorschein kommen, sie mit Rauswurf bestraft.“
Interessante Eigenwahrnehmung
Heidi Klums eigener Blick auf sich selbst und ihr TV-Format könnte derweil unterschiedlicher kaum sein. Sie selbst sieht sich inzwischen als eine Art Vorreiterin in Sachen Diversität. „Alle reden davon, dass sie mehr Diversity haben möchten. Sie reden und reden und reden. Aber ich, ich bring‘s an den Start.“ Das ist – kein Scherz – ein Originalzitat aus den ersten 40 Sekunden der neuen Staffel „Germany‘s Next Topmodel“.
Im weiteren Verlauf werden dann demonstrativ große, kleine, dicke, dünne, schwarze, weiße, alte und junge Models gezeigt, die in den folgenden Episoden von „Modelmama“ Heidi gedrillt werden dürfen. Die Nachfrage nach „Diversity“ sei größer denn je, merkt Klum an. „Egal wie groß oder klein du bist, wen du liebst, woher du kommst, wie alt du bist, für mich gibt es keine Grenzen, für mich zählt nur, wer du bist.“
All das ist, mit Blick auf die vergangenen Jahre Primetime-Mobbing bei „Germany‘s Next Topmodel“, eine interessante Kehrtwende. In einem TV-Format, das jahrelang Menschen wegen ihres Aussehens diskriminierte, darf künftig jeder ganz er selbst sein. Und nicht nur das: Man gibt sich auch noch als Vorreiter. Grund genug, mal ein paar kritische Nachfragen zu stellen.
Klum sagt Interview ab
Das Medienmagazin „DWDL.de“ hat genau das versucht – stieß bei Heidi Klum jedoch an seine Grenzen. Wie Thomas Lückerath, Chef des Magazins, in einem Artikel verrät, habe man die Zusage für ein Interview mit Heidi Klum bekommen. Nach Absprache habe man sechs Fragen an die Pressestelle von Pro Sieben geschickt – und eine überraschende Antwort erhalten.
Klum sagte das Interview ab, weil „die Fragestellungen im Ganzen zu negativ seien“, wie Lückerath die Pressestelle zitiert. Ein bereits vereinbartes Interview, das wegen „negativer Fragen“ nachträglich abgesagt wird? Das sei nach mehr als 20 Jahren des Magazins noch nicht vorgekommen, schreibt der Chefredakteur.
Fragen zur Diversity-Offensive
Warum Klum das Interview absagte, weiß wohl nur das Model – aber die gestellten Fragen lassen viel Interpretationsspielraum.
Denn die beschäftigen sich auch mit dem neuen „Diversity“-Anstrich der Sendung – und anderen Kritikpunkten. So will das Magazin beispielsweise wissen, ob man es nicht bedauere, die Show nicht viel früher divers gemacht zu haben – schließlich seien die Schönheitsideale in der Show lange Zeit sehr normativ gewesen. Berechtigte Frage.
Dann will das Magazin wissen, warum die Diversität in der Show eigentlich so exzessiv betont werde. „Reicht es nicht, divers zu sein?“, lautet eine Frage. Und schließlich will das Magazin auch wissen, inwiefern die Models aus der Show eigentlich professionell begleitet werden, um dem Druck in den sozialen Medien standzuhalten.
Die Chance, Dinge geradezurücken
Ein Interview wie dieses hätte durchaus einen positiven Effekt haben können – auch für Heidi Klum. Es wäre eine Brücke gewesen zwischen der Eigenwahrnehmung und der scharfen Kritik an dem TV-Format. Klum hätte die Chance gehabt, sich und ihre Sendung zu erklären, vielleicht sogar Dinge geradezurücken.
Und natürlich hätte man all diese Fragen souverän beantworten können. Man hätte Einsicht zeigen können. Man hätte eingestehen können, dass man in den vergangenen Jahren Fehler gemacht und dass man dazugelernt hat. Oder man hätte einfach dazu stehen können, wenn man all das denn tatsächlich für gute Fernsehunterhaltung hält.
Bei einem schriftlichen Interview hätte Klum sogar alle Zügel in der Hand gehabt. Sie hätte sich ihre Antworten gut überlegen, ja sogar mehrere Berater drüberschauen lassen können.
Wenn Diversität nur ein Verkaufsargument ist
Die Interviewabsage aber zeigt: Heidi Klum hat ganz offensichtlich gar kein Interesse an einer Diskussion über Diversität, Rollen- und Körperbilder und Sexismus. All diese Themen sind für sie und den Sender offenbar nicht mehr als ein gutes Verkaufsargument, damit eine schrecklich rückständige Show noch irgendwie ins Jahr 2022 passt.
Genau das darf Klum auch in den kommenden Wochen weiter zur Schau stellen. Das Model ist nicht nur Gastgeberin, sondern auch Executive Producer der Show – kritisch hinterfragt wird die erstaunliche Diversity-Offensive weder bei „Germany‘s Next Topmodel“ selbst noch in den Begleitformaten des Senders Pro Sieben.
Und so baut man einfach gemeinsam weiter an seiner ganz eigenen Realität, ohne dass ein Journalist mit seinen nervigen, kritischen Fragen dabei stört. Das hat ja auch in den vergangenen 16 Jahren ganz gut geklappt.