Rekonstruktion der Amoktat: Schon vier Minuten nach dem ersten Notruf war die Polizei vor Ort
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Polizisten und Helfer sind in Hamburg im Einsatz.
© Quelle: Jonas Walzberg/dpa
Bei der verheerenden Amoktat in einem Gebäude der Hamburger Zeugen Jehovas sind acht Menschen gestorben, darunter ein ungeborenes Kind und der Täter selbst. Der 35 Jahre alte deutsche Todesschütze Philipp F. war früher ebenfalls Mitglied der Gemeinde, wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Innenbehörde am Freitag auf einer Pressekonferenz bestätigten. Auf Basis des Ermittlungsstandes, den die Behörden am Mittag vorgestellt haben, lässt sich der Ablauf des Abends grob rekonstruieren.
18.45 Uhr: vor dem Gottesdienst
Am Donnerstagabend treffen im Hamburger Stadtteil Alsterdorf die Mitglieder der Zeugen Jehovas ein, um ihren regulären Gottesdienst zu feiern. Der Amoktäter befand sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Gebäude.
19 Uhr: der Gottesdienst beginnt
36 Anhängerinnen und Anhänger der Zeugen Jehovas sind nach Angaben eines Sprechers der Glaubensgemeinschaft zum Gottesdienst in den Königreichssaal gekommen. Weitere 25 sollen sich digital zugeschaltet haben. Der Gottesdienst endetet gegen 20.45 Uhr. Anschließend blieben viele Menschen noch, um miteinander zu sprechen.
Augenzeugenvideo zeigt Schützen bei Amoktat in Hamburg
Der Schütze tötete bei seinem Amoklauf in Hamburg acht Menschen. Die Ermittler identifizierten ihn als Philipp F., der sich nach der Tat selbst richtete.
© Quelle: Reuters
Kurz vor 21 Uhr: Philipp F. nähert sich dem Gebäude
Kurz vor 21 Uhr nähert sich Philipp F., früheres Mitglied der Zeugen Jehovas, dem Versammlungsgebäude. Dort traf F. auf eine Besucherin des Gottesdienstes, die bereits zum Parkplatz gegangen war und mit ihrem Auto nach Hause fahren wollte. Der Täter schoss mehrfach auf die Frau und das Auto, teilte die Polizei mit. Sie konnte jedoch leicht verletzt flüchten und sich wenige Zeit später bei der Polizei melden. Zehn Einschüsse seien am Auto festgestellt worden, teilten die Ermittler mit.
Gegen 21 Uhr: Täter dringt ins Gebäude ein
Philipp F. geht zu einem Fenster und schießt durch die Scheibe auf die Gottesdienstbesucherinnen und ‑besucher im Saal. „Unter permanentem Schusswaffengebrauch“, so die Polizei, betritt F. dann das Versammlungsgebäude. Laut dem Leiter der Schutzpolizei, Matthias Tresp, befanden sich zum Zeitpunkt des Amoklaufs 50 Gäste in dem Versammlungsgebäude. Philipp F. eröffnet das Feuer. Es ist das „schlimmste Verbrechen in der jüngeren Geschichte Hamburgs“, sagt Innensenator Andy Grote später.
„Ich habe gegen zehn vor 9 Uhr mehrfach Schüsse vernommen. Die klangen sehr metallisch“, sagt Anwohnerin Lara Bauch. „Erst dachten wir, dass auf der Baustelle so spät noch Arbeiten sind. Es hat sich dann herausgestellt, dass das nicht der Fall ist.“ Die 23-jährige Studentin hat aus ihrer Dachwohnung direkte Sicht auf den Tatort an der viel befahrenen Straße.
21.04 Uhr: Dutzende Notrufe werden abgesetzt
Bei Polizei und Feuerwehr gehen 47 Notrufe ein. Mindestens eine Person, die den Notruf wählt, befindet sich laut den Ermittlern zu diesem Zeitpunkt noch im Gebäude. Philipp F. feuert offenbar wild um sich und gibt mehr als 100 Schüsse ab. Die Polizei findet später neun leergeschossene Magazine, in die jeweils 15 Patronen passen. Zwei weitere Magazine trug F. noch bei sich, 20 volle Magazine im Rucksack.
F. erschoss vier Männer und zwei Frauen im Alter von 33 bis 60 Jahren. Zudem tötete er ein ungeborenes Mädchen im Bauch ihrer Mutter, die im siebten Monat schwanger war. Die Mutter überlebte. Acht weitere Personen wurden bei dem Amoklauf verletzt, vier von ihnen schwer.
21.08 Uhr: Erste Einsatzkräfte erreichen den Tatort
Bereits vier Minuten nach dem ersten Notruf treffen nach späteren Polizeiangaben erste Einsatzkräfte am Versammlungsort der Zeugen Jehovas ein. „Die Tür war verschlossen“, sagt der Leiter der Hamburger Schutzpolizei, Matthias Tresp.
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21.09 Uhr: Spezialeinheit trifft ein
Die Spezialeinheit USE, eine Unterstützungseinheit für besondere Einsatzlagen, trifft am Tatort ein. Es sei laut Tresp ein „glücklicher Zufall“ gewesen, dass die USE-Einsatzkräfte, die speziell für Amok- und Terrorlagen ausgebildet sind, in der Nähe waren. Die Polizisten müssen auf die Glasscheibe der Tür schießen, um sich Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Zu diesem Zeitpunkt seien im Inneren zahlreiche Schüsse zu hören gewesen, sagte Tresp. Im Saal liegen Verletzte und Tote am Boden.
„Wir haben es mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit dem sehr, sehr schnellen und entschlossenen Eingreifen der Einsatzkräfte der Polizei zu verdanken, dass hier nicht noch mehr Opfer zu beklagen sind“, sagte Innensenator Grote später.
21.10 Uhr: F. flüchtet ins Obergeschoss
Nachdem die Polizei das Gebäude gestürmt hat, flüchtet der Täter ins Obergeschoss. Die Einsatzkräfte verfolgen ihn, dann hören sie einen Schuss. Nach Erkenntnissen der Ermittler hat sich der Täter selbst erschossen. Bei ersten Befragungen hatte ein Zeuge den Beamten ein Handyvideo gezeigt, auf dem eine zweite Gestalt im Dunkeln ganz in Schwarz zu sehen war.
21.11 Uhr: Polizei löst Großeinsatz aus
Die Polizei löst nun einen Großalarm aus, mehr als 950 Einsatzkräfte sind beteiligt. Im Fokus steht die Frage, ob es einen zweiten Täter gibt. Die Ermittler erklären später, dass es keinen zweiten Täter gibt und es sich bei den Beobachtungen der Zeugen um den Schatten von F. gehandelt haben muss.
Beamte mit Maschinenpistolen sichern den Bereich großräumig ab. Nach den Schüssen sind alle Fenster des Gebäudes hell erleuchtet, ein Hubschrauber ist in der Luft, zahlreiche Rettungswagen stehen in den Straßen.
Scholz „fassungslos“ nach Schüssen in Hamburg
Seine Gedanken seien bei den Opfern und ihren Angehörigen, sagte der Bundeskanzler am Rande einer Veranstaltung in München.
© Quelle: Reuters
22.30 Uhr: amtliche Gefahrenmeldung der Behörde für Inneres
Die Hamburger Polizei gibt die folgende Gefahrenmeldung der Behörde für Inneres heraus, Warn-Apps auf zahlreichen Handys im Hamburger Stadtgebiet zeigen eine Pushnachricht an.
Am heutigen Tage gegen 21.00 Uhr schoss(en) ein oder mehrere unbekannte Täter auf Personen in einer Kirche. Schadensort: Betroffen sind folgende Bereiche im Stadtteil (Hamburg Groß Borstel) Deelböge und Umgebung.
0.30 Uhr: Durchsuchung der Wohnung von F.
Einsatzkräfte durchsuchen die Wohnung von Philipp F. in Altona. Der leitende Staatsanwalt Ralf Anders erklärt später, die Polizisten hätten dort 15 geladene Magazine mit je 15 Patronen und vier Schachteln mit weiteren 200 Patronen gefunden. Außerdem seien Laptops und Smartphones sichergestellt worden.
3 Uhr: Aufhebung der Gefahrenmeldung
Es zeichnet sich ab, dass es keinen zweiten Täter gibt. Die Polizei hebt die Gefahrenmeldung auf und richtet ein Hinweisportal ein. Auf der Webseite hh.hinweisportal.de können Fotos und Videos zur Tat oder relevanten Ereignissen in diesem Zusammenhang hochgeladen werden, so die Polizei Hamburg.
Ersten Ermittlungen zufolge habe es im Vorfeld einen anonymen Hinweisbrief an die Polizei gegeben, mit der Bitte, die Erlaubnis für das Tragen einer Waffe bei Philipp F. zu überprüfen. Der Grund: Er könnte unter einer psychischen Erkrankung leiden, die aber nicht diagnostiziert wurde, weil sich Philipp F. nicht in Behandlung begeben wolle. Philipp F. hege „eine besondere Wut“ gegen religiöse Anhänger, besonders gegen die Zeugen Jehovas, und gegen seinen Arbeitgeber. Bei einer unangekündigten Kontrolle habe es aber „keine Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung“ gegeben, sagte Polizeipräsident Ralf Martin Meyer.