Wie ein Vergewaltigungsprozess Australiens Frauenpolitik ad absurdum führt
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Brittany Higgins (Mitte) erscheint zum Prozess vor dem Obersten Gericht in Canberra.
© Quelle: IMAGO/AAP
Sydney. Seit Tagen sind in Australien alle Augen auf den Obersten Gerichtshof in Canberra gerichtet. Dort ist ein junger Mann wegen der vermeintlichen Vergewaltigung einer Kollegin angeklagt. Das Verbrechen soll in den ehrwürdigen Hallen des australischen Parlaments stattgefunden haben. Als die Nachricht über die Anschuldigung im Februar 2021 erstmals an die australischen Medien gelangte, wurde die Geschichte rasch zu einem der größten Politdramen des Jahres.
Das Gesicht des mutmaßlichen Opfers Brittany Higgins war bald in allen Medien des Landes zu sehen. Nachdem etwa zeitgleich auch noch ein weiterer historischer Missbrauchsvorwurf ans Tageslicht gekommen war, bei dem es um den damaligen australischen Justizminister Christian Porter ging, trat dies eine Welle der Entrüstung in Australien los.
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Bruce Lehrmann erscheint zum Prozess vor dem Obersten Gericht Australiens. Ihm wird vorgeworfen, Brittany Higgins im australischen Parlament vergewaltigt zu haben.
© Quelle: IMAGO/AAP
Im März 2021 gingen mehrere Zehntausend Menschen, vor allem Frauen, in sämtlichen großen Städten Australiens auf die Straße. Sie protestierten gegen Gewalt gegen Frauen und für Gleichberechtigung. Die March-4-Justice-Bewegung – quasi Australiens #MeToo-Kampagne – formierte sich vor allem auch deswegen, da die damalige australische Regierung die Missbrauchsvorwürfe in ihren politischen Reihen nicht ernst genug nahm. Higgins beispielsweise machte klar, dass sie, nachdem sie den Vorfall gemeldet hatte, keine angemessene Unterstützung erhalten habe.
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Vergiftete Atmosphäre im Parlament
Zudem zeigte der damalige Premierminister Scott Morrison wenig Empathie oder gar Engagement – eine Reaktion, die die Stimmung im Land weiter aufwühlte. „Es ist sehr gefährlich für einen Premierminister, sich in sehr ernsten Fällen wie diesen als eine Art passiver Zuschauer darzustellen“, sagte die politische Redakteurin des „Guardian Australia“, Katharine Murphy, damals im Interview mit der BBC. „Denn die Botschaft, die an die Frauen in Australien gesendet wird, lautet: ‚Ich höre nicht zu – ich nehme das nicht ernst.‘“
Wie „vergiftet“ die Atmosphäre für Frauen im australischen Parlament über Jahre war, ging bereits 2012 um die Welt, als die damalige Premierministerin Julia Gillard eine leidenschaftliche Rede gegen Sexismus und Frauenfeindlichkeit hielt und dabei schwere Vorwürfe gegen den damaligen Oppositionsführer Tony Abbott erhob. Gillard war dabei bei Weitem nicht das einzige Opfer.
Ein liberaler Politiker beschimpfte im August 2012 eine Journalistin, die es wagte, eine kritische Frage zu stellen, als „Kuh“. Die damalige Finanzministerin und heutige Außenministerin Penny Wong musste sich 2011 Katzengeräusche von einem männlichen Oppositionspolitiker während einer Rede gefallen lassen und ein westaustralischer Politiker der Liberalen geriet in die Schlagzeilen, nachdem er am Stuhl einer Kollegin geschnüffelt hatte und als „Party-Trick“ den BH einer Frau aufschnippte.
Neue Blaupause gegen Gewalt
Doch Frauen sind in Australien nicht nur im politischen Umfeld Sexismus und sexuellen Übergriffen ausgesetzt. Das Problem ist tief in der Gesellschaft verwurzelt, wie die Statistik zeigt: Ein Drittel aller Frauen in Australien hat körperliche und jede fünfte Frau hat sexuelle Gewalt erfahren. Im Durchschnitt wird in Australien alle zehn Tage eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Vor allem während der Covid-Pandemie verzeichnete das Land eine drastische Zunahme häuslicher Gewalt.
Die neue australische Regierung unter Labor-Chef Anthony Albanese will dagegen vorgehen. Noch bevor ein Urteil im Higgins-Prozess gefallen ist, hat die Regierung eine Art Generalstabsplan vorgestellt, mit dessen Hilfe Gewalt gegen Frauen innerhalb einer Generation beendet werden soll.
So sollen beispielsweise bessere Notunterkünfte für Frauen eingerichtet werden. Außerdem soll Männern dabei geholfen werden, eine „gesunde Männlichkeit“ zu entwickeln. „Gewalt gegen Frauen und Kinder ist nicht unvermeidlich“, heißt es in einem Bericht, der am Montag in Australien veröffentlicht wurde. „Indem wir die sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Faktoren angehen, die diese geschlechtsspezifische Gewalt antreiben, können wir sie innerhalb von einer Generation beenden.“
Öffentlicher Schauprozess
Doch so lobenswert die neue Blaupause der aktuellen Regierung ist, so sehr wird sie in der augenblicklichen Situation zum Paradoxon. Nicht nur mangelt es ihr an konkreten Zielen und vor allem an einem Budget, wie einige Fachleute schnell anmerkten. Fragwürdig wird der neue Plan auch durch den Prozess, der zeitgleich in Canberra stattfindet.
Dieser ist zu einer Art Schauprozess verkommen, bei dem die Medien jedes noch so kleine Detail berichten. Die „penible“ Berichterstattung über die Verhandlungen stellt die Klägerin Higgins geradezu bloß: Denn der Ablauf der vermeintlichen Vergewaltigung und damit das persönliche Trauma der jungen Frau werden haarklein „nachgespielt“ und dementsprechend von der Internetgemeinde kommentiert.
„Ich habe immer gedacht, dass Brittany Higgins mutig war, sich zu Wort zu melden“, schrieb die Aktivistin Kate Hayford auf Twitter. Sie sei „von einem gehässigen Premierminister in den Hintergrund gedrängt“ worden, der nicht bereit gewesen sei, die Kultur der Frauenfeindlichkeit zu korrigieren. Und jetzt reiße „eine Armee von moralisch Überlegenen sie in Stücke, als würde ihre Glaubwürdigkeit vor Gericht stehen und nicht ihr mutmaßlicher Vergewaltiger“, schrieb Hayford. Für den Kampf gegen Gewalt und Sexismus ist der öffentliche Umgang mit dem derzeitigen Prozess damit geradezu kontraproduktiv geworden. „Nur wenige Frauen würden sich dem aussetzen“, schrieb eine Australierin als Antwort auf Hayfords Tweet.