Religiöse Geste oder sexueller Übergriff? Was die herausgestreckte Zunge des Dalai Lama bedeutet
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Der Dalai Lama, das geistliche Oberhaupt der Tibeter, entschuldigt sich, nachdem ein Video von ihm und einem Jungen viral gegangen ist.
© Quelle: picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Der Dalai Lama hebt den Kopf eines Jungen hoch, ihre Lippen berühren sich. Das Publikum, das dieser Szene zusieht, beginnt zu applaudieren und zu lachen. Danach sagt der Dalai Lama zu dem Jungen: „Lutsch meine Zunge.“ Die Aufregung um die Bilder, die am 28. Februar in Indien entstanden sind, ist groß. Der Dalai Lama entschuldigte sich mittlerweile für sein Verhalten, das massiv in der Kritik steht. Die einen sehen darin ein grenzwertiges, teilweise sogar missbräuchliches Verhalten.
Michael von Brück kennt sich mit dem Buddhismus aus. Der studierte Religionswissenschaftler und jahrelanger Gesprächspartner des Dalai Lama sieht keinen Skandal im Video des Geistlichen. „Die herausgestreckte Zunge ist eine tibetische Eigenart“, sagt von Brück im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Das Herausstrecken der Zunge signalisiere Reinheit, denn eine dunkle Zunge sei ein Zeichen „negativer Energien“. Zur tibetischen Tradition gehöre auch die gegenseitige Berührung der Stirn, der Nase und Küsse auf Mund und Wangen.
„Ganz klarer sexueller Übergriff“
Ursula Enders sieht das anders. Die Traumatherapeutin und Mitbegründerin von „Zartbitter“ Köln, einer Kontakt- und Informationsstelle gegen sexuellen Missbrauch an Mädchen und Jungen, bewertet die Szene gegenüber dem RND als „ganz klaren sexuellen Übergriff“. Ein Zungenkuss zwischen einem Erwachsenen und einem Kind sei keine reguläre Zärtlichkeit – es überschreite die Grenze zwischen den Generationen. Weiterer Druck erzeuge die Rolle des Dalai Lama als „seine Heiligkeit“, die die Widerstandskraft eines Kindes herausfordere.
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Gerade die Rolle als höchster Geistlicher mache die Begegnung zwischen dem Dalai Lama und dem Kind gerade besonders, meint der Religionswissenschaftler Michael von Brück. Denn die Gesten seien ein „Segenszeichen“: „Vom Dalai Lama umarmt zu werden, das ist für einen Menschen aus dieser Kultur, ganz egal, ob Kind oder erwachsen, das Höchste, was einem passieren kann. Da ist überhaupt nichts Erotisches bei.“ Es sei vergleichbar mit einer Umarmung eines frommen Katholiken durch den Papst. Und: „Es gibt unzählige Bilder des Dalai Lama, beispielsweise mit Erzbischof Tutu, auf denen sie sich umarmen und küssen. Die Körperlichkeit ist also kein Unikat“, sagt von Brück.
Der Westen, der Maßstab aller Dinge?
Für die Traumatherapeutin Ursula Enders macht es keinen Unterschied, wie sich der Dalai Lama mit anderen Menschen verhält. Bei einem Kind ist für sie eine Grenze überschritten: „Es ist nicht normal, dass ein Mensch ein Kind auffordert, an der Zunge zu lutschen. Das hinterher noch als spielerisch darzustellen und zu tun, als wäre es beim Dalai Lama üblich, ist ungeheuerlich.“
Von Brück sieht das anders. Dass das Verhalten des Dalai Lama skandalisiert wird, liege vor allem an westlichen Werten. „Es geht eben nicht, dass wir unsere Werte universalisieren“, sagt er. „Es ist eine Form von europäischer Dominanz.“ Der Dalai Lama versuche politische und religiöse Hierarchien zu durchbrechen, die Menschen (wieder) miteinander in Kontakt zu bringen. Und dafür nutze er laut von Brück auch Körpersprache, um zu signalisieren: „Wir sind zutiefst miteinander verbunden.“