Mindestens sieben Tote

Gletschersturz in Dolomiten: Bergretter berichten von „unvorstellbaren“ Szenen

Blick auf den abgebrochenen Gletscher am Berg Marmolata vom Passo Fedaia in den Dolomiten in Südtirol.

Blick auf den abgebrochenen Gletscher am Berg Marmolata vom Passo Fedaia in den Dolomiten in Südtirol.

Rom. Den Bergrettern bietet die Unglücksstelle in den Dolomiten ein schreckliches Bild, sie haben Mühe, ihre Emotionen zurückzuhalten. „Auf einer Länge von mehr als Tausend Metern haben wir Leichenteile inmitten eines Meeres aus Eisblöcken und Felsen gefunden“, berichtete Gino Comelli vom „Soccorso Alpino“. In den vielen Jahren, in denen er als Bergretter tätig sei, habe er noch nie eine so schlimme Szene gesehen. Sandro Raimondi, der Staatsanwalt von Trient, des Hauptorts der autonomen Provinz Trentino, sprach von einem „unvorstellbaren Massaker“.

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Die vorläufige Bilanz des schlimmsten Bergunfalls der letzten Jahrzehnte in Italien: sieben Tote, acht Verletzte und noch zehn bis 15 Vermisste. Auch zwei Deutsche wurden von der Lawine erwischt, sagte eine Sprecherin des Auswärtigen Amtes der Deutschen Presse-Agentur. Die zwei sind verletzt und werden in einem Krankenhaus von Belluno, südöstlich des Unglücksortes, behandelt. Laut Staatsanwalt Raimondi kann sich die Zahl der Todesopfer noch mehr als verdoppeln, zumal die Wahrscheinlichkeit, die Vermissten noch lebend zu finden, laut den Behörden „praktisch gleich null“ ist.

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Wer in die Lawine aus Eis und Fels geraten war, hatte kaum eine Chance: Die Eis- und Felsmassen donnerten mit rund 300 km/h ins Tal und kamen erst nach etwa 1,5 Kilometern zum Stehen. Das Trümmerfeld hat eine Dicke von zehn bis 15 Metern – und stellt für die Bergretter ein äußerst schwieriges Terrain dar: Bei weiterhin überdurchschnittlich hohen Temperaturen können sich oben beim Gletscher jederzeit neue Blöcke lösen – sie stellen für die Retter eine tödliche Bedrohung dar. Die Suche nach weiteren Toten und Vermissten erfolgt deswegen wo immer möglich aus der Luft, aus dem Hubschrauber und auch mit Drohnen. Die Verletzten waren nicht in die Lawine geraten, sondern von der Druckwelle weggeschleudert worden. Regierungschef Mario Draghi reiste am Montag ins Unglücksgebiet und sprach den Angehörigen das Beileid der Behörden aus.

Fachleute sehen Klimawandel als Ursache

Das Unglück hatte sich am Sonntag um 13.45 Uhr unweit des höchsten Gipfels der Dolomiten, der 3343 Meter hohen Marmolada, ereignet. Einige Hundert Meter oberhalb des nicht allzu schwierigen Weges zum Gipfel löste sich auf einer Front von etwa 200 Metern Breite und 60 Metern Höhe ein riesiger Eisblock vom Marmolada-Gletscher und riss eine oder mehrere Seilschaften mit sich in die Tiefe. „Wir hörten einen lauten, dumpfen Knall, dann sahen wir, wie wenige Meter unter uns drei Bergsteiger von den Eis- und Felsmassen erfasst wurden“, berichtete der Augenzeuge Mauro Baldessari. Er und seine Seilschaft hätten nur dank eines Zufalls überlebt: Sie hätten auf einen Kameraden warten müssen, der zurückgeblieben sei. „Das war unsere Rettung: Ohne ihn lägen wir jetzt auch alle da unten begraben“, betonte er sichtlich geschockt. Der ganze Berg wurde nach dem Unfall gesperrt, Dutzende Bergsteigerinnen und Bergsteiger sowie Wanderinnen und Wanderer, die sich noch auf dem Gipfel befanden, wurden mit Hubschraubern ins Tal geflogen.

Während die genaue Zahl der Todesopfer am Montag weiterhin unklar war, steht die zentrale Ursache für den Gletschersturz laut den Fachleuten fest: „Solche Ereignisse haben zwar meist mehrere Ursachen, aber es ist offensichtlich, dass der Abbruch von gestern auf den Klimawandel zurückzuführen ist“, erklärte der Glaziologe Renato Colucci von der Universität Triest gegenüber der Zeitung „Corriere della Sera“. Am Tag des Unglücks habe die Null-Grad-Grenze bei 4400 Metern gelegen, auf dem Marmolada-Gipfel betrug die Temperatur sieben Grad, am Tag zuvor sogar zehn Grad. Schon den ganzen Mai und den ganzen Juni seien in den Dolomiten und in großen Teilen der Südalpen weit überdurchschnittliche Temperaturen registriert worden. Im Winter habe es außerdem kaum geschneit, und somit fehle nun die Schneedecke, die die Gletscher im Sommer normalerweise vor der starken Sonnen­einstrahlung schütze. Die Eismassen seien dadurch sehr instabil geworden.

„Unglücke wie dieses werden sich wiederholen“

Colucci und seine Kolleginnen und Kollegen vom nationalen Forschungsinstitut CNR hatten schon vor einigen Jahren darauf hingewiesen, dass der Marmolada-Gletscher zwischen 2004 und 2015 – also in nur zwölf Jahren – 30 Prozent seines Volumens und 22 Prozent seiner Fläche verloren habe. „Auf 3500 Meter Höhe ist ein Klima entstanden, das die Präsenz von Gletschern bereits mittelfristig ausschließt: Der Marmolada-Gletscher wird 2050 nicht mehr existieren, vielleicht verschwindet er auch schon mehrere Jahre früher“, betont Colucci. Der beschleunigte Schwund der Gletscher werde zu einer immer größeren Gefahr für die Bergsteigerinnen und ‑steiger und Bergwandernde: „Unglücke wie dieses werden sich wiederholen.“

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Ganz Italien leidet seit Wochen unter einer extremen Trockenheit und Hitze. Sechs Regionen – das Piemont, die Lombardei, Venetien, die Emilia-Romagna, das Friaul und die Hauptstadtregion Latium – haben den Notstand ausgerufen und Maßnahmen zur Rationierung von Wasser angeordnet. Für die Expertinnen und Experten kommt die Dürre nicht überraschend: Italien gilt als Hotspot des Klimawandels. Letzten Sommer wurde auf Sizilien mit 48,8 Grad Celsius die höchste je in Europa gemessene Temperatur registriert; in Städten wie Rom und Perugia sind die Durchschnittstemperaturen seit dem Jahr 2000 um zwei Grad angestiegen. Bei insgesamt geringeren Jahresniederschlagsmengen nehmen gleichzeitig die Extremereignisse zu: Sintflutartige Wolkenbrüche mit 500 Millimetern Niederschlag in 24 Stunden sind keine Seltenheit mehr. Wurden in Italien im Jahr 2009 noch rund 300 Extremwetterphänomene gezählt, waren es im Jahr 2019 laut der European Severe Weather Database mehr als 1600 – eine Verfünffachung innerhalb von zehn Jahren.

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