Inklusionsaktivist Raúl Krauthausen: „Inklusion ist nicht Bullerbü“
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Raúl Aguayo-Krauthausen hat nun ein Buch zum Thema Inklusion veröffentlicht.
© Quelle: picture alliance/dpa
Raúl Krauthausen (42) setzt sich als Inklusionsaktivist für zahlreiche soziale Projekte ein. Unter anderem gründete er den gemeinnützigen Verein Sozialheld*innen, mit dem er etwa das Wiki-Projekt Wheelmap.org startete – wo Nutzende weltweit die Rollstuhlgängigkeit von Orten überprüfen und eintragen können – sowie das Projekt Leidmedien.de, ein Leitfaden für Journalistinnen und Journalisten bei der Berichterstattung über Menschen mit Behinderung. Er war auch schon mehrfach im TV zu sehen, unter anderem bei „Team Wallraff – Reporter undercover“. Außerdem hat er seit 2022 seinen eigenen Podcast „Im Aufzug“. Nun veröffentlicht er am 14. März sein Buch „Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden“. Krauthausen hat die sogenannte Glasknochenkrankheit, ist kleinwüchsig und sitzt im Rollstuhl.
Herr Krauthausen, fangen wir mit einer grundlegenden Frage an: Was bedeutet selbstbestimmtes Leben für Sie?
Selbstbestimmung ist für mich, alles machen zu können, was ich für möglich und erreichbar halte, ohne dabei von anderen Menschen aufgehalten zu werden oder von Vorurteilen oder Annahmen. Natürlich kann nicht jeder Astronaut*in werden, was nicht zwangsläufig mit der Behinderung zu tun haben muss, sondern auch mit der Eignung und Qualifizierung.
Wäre diese Selbstbestimmung dann Ergebnis erfolgreicher Inklusion?
Erfolgreiche Inklusion wäre, erst mal die menschliche Vielfalt anzuerkennen. Also dass alle Menschen anders sind und die Konzepte von Mehrheit und Minderheit nur Konstrukte. Von da ausgehend muss man auch anerkennen: Inklusion ist nicht Bullerbü. Das Regenbogen-Einhornland wird Inklusion nie sein, sondern ein Ort, an dem wir gemeinsam einander kennenlernen, uns aushalten, respektieren, akzeptieren und auch Konflikte lernen auszutragen, ohne dass es gewaltvoll ist.
In Ihrem Buch steht dennoch, dass behinderte Menschen mit 1,2 Milliarden Menschen weltweit die größte „Minderheit“ bilden. Warum haben Sie weniger Aufmerksamkeit als etwa People of Colour oder queere Menschen?
Das hat damit zu tun, dass sowohl queere Menschen, People of Colour als auch Nichtbetroffene sich von Kindesbeinen an kennengelernt haben und weniger selektiert wurden. Sobald du aber eine Behinderung hast, landest du auf einer Schule für Behinderte. Natürlich haben Schwarze oder queere Menschen trotzdem ihre Probleme – das Outing, Diskriminierung, Rassismus. Nur konnten diese Menschen sich ermächtigen und wehren. Das können behinderte Menschen oft nicht, weil sie in separierten Räumen sind. Außerdem hat die mediale Repräsentation von queeren und schwarzen Menschen viel dazu beigetragen, dass sie sichtbarer wurden. Es gibt Nachrichtensprecher*innen mit anderer Hautfarbe oder die queer sind. Aber es gibt keine Nachrichtensprecher*innen mit Behinderung.
Sie zitieren in Ihrem Buch den Satz: „Aus Sonderschulen kommt man behinderter raus als rein.“ Was ist das Problem mit den Sonderschulen?
Man nennt es die Schonraumfalle. Untersuchungen haben herausgefunden, dass sich bei Kindern der Abstand zur Mehrheitsgesellschaft immer mehr vergrößert, umso länger sie an Förderschulen sind. Unter dem Aspekt der Förderung und des Schutzes halten wir sie aus der Mehrheitsgesellschaft heraus, weil wir glauben, es wäre dort besser für sie, aber in Wirklichkeit geht es ihnen dort schlechter. Wir schützen eher die Mehrheitsgesellschaft davor, sich mit dem Thema Behinderung auseinanderzusetzen. Es wird gesagt: Die nicht behinderten Kindern werden langsamer, sobald ein behindertes Kind in der Klasse ist. Oder: Das behinderte Kind kann keinen Sport machen. Natürlich gibt es Kinder, die keinen Sport machen können. Es gibt auch Kinder, die kein Mathe können. Es müssen auch nicht alle das Gleiche machen. Aber man hat ein Recht darauf, gemeinsam zu lernen. Ein geistig behindertes Mädchen in meiner Grundschule wollte unbedingt schreiben und lesen lernen, wir anderen Schüler*innen haben nicht daran geglaubt, aber am Ende des Jahres konnte sie ihren Namen schreiben und lesen. Ich bin davon überzeugt, dass sie das nur wollte, weil alle um sie herum geschrieben und gelesen haben.
Weil sie nicht in einem Schonraum war?
Genau. Manchmal betüddeln wir Menschen mit Behinderung so sehr, dass sie nicht lernen, mit Herausforderungen umzugehen. Natürlich war es schmerzhaft für mich, nicht am Sportunterricht teilnehmen zu können. Ich saß immer mit den Mädchen, die gerade ihre Tage hatten, auf der Ersatzbank. Irgendwann wurde ich vom Sportunterricht freigestellt. Aber es hätte auch so enden können, dass es heißt: Weil du keinen Sport machen kannst, kannst du auch diese Schule nicht besuchen. Heutzutage könnte man auch die Frage stellen, wie Sportunterricht inklusiv sein kann. Bis zur fünften Klasse war es kein Problem, gemeinsam Sport zu machen. Da haben wir auf Rollbrettern oder mit Bändern oder Tüchern getobt, und jeder hat es gemacht, wie er wollte und konnte. Aber sobald es um Zeiten und Geschwindigkeiten ging, war ich raus. Das kann man anders modellieren. Wichtig ist, nicht von vornherein zu sagen: Weil du behindert bist, kannst du das nicht.
Wie sähe Ihr inklusives Wunsch-Schulsystem aus?
Das ist keine Raketenwissenschaft. 90 Prozent der Inklusionsherausforderungen könnten wir mit kleineren Klassen und mehr Lehrkräften lösen. Das würde dazu führen, dass der Unterricht differenter ablaufen könnte und jedes Kind da gefördert wird, wo es gerade ist. Dann ist es egal, ob das Kind blind ist oder Legasthenie hat oder einfach normal talentiert ist oder übertalentiert. Das Interessante ist, dass wir auch nach oben selektieren. Gymnasien sind auch eine Art Förderschule für Talentierte. Es bräuchte eine Schule für alle, also Gesamtschulen, wo Kinder aller Art gemeinsam lernen.
In der Schulzeit kommt auch irgendwann das Thema Sexualität auf. Im Buch schreiben Sie, dass behinderte Menschen immer wieder gefragt werden, ob sie überhaupt Sex haben können. Wie oft wurden Sie das schon gefragt – und wie gehen Sie damit um?
Ich werde ehrlich gesagt sehr häufig gefragt, ob ich Sex haben kann. Nicht täglich, aber doch öfter mal und witzigerweise auch oft, bevor überhaupt nach meinem Namen gefragt wird. Ich habe mich daran gewöhnt und weiß mittlerweile, was ich darauf antworten kann.
Was antworten Sie?
Oft stelle ich mich erst mal mit Namen vor, um klarzumachen, dass die Frage zu früh war. Und dann frage ich zurück: „Warum wollen Sie das wissen?“ Und: „Wie sieht das mit Ihrer Sexualität aus?“ Das funktioniert ganz gut. Das Thema Sexualität und Behinderung ist zudem sehr männlich dominiert, oft geht es nur um das Technische, das Rein-Raus. Dass auch Gefühle damit verbunden sind und Dating und Liebe hat gar keinen Platz bei solchen Fragen. Zudem liest man immer wieder von Sexualbegleiter*innen, wo jemand mit Behinderung zu einer Art Prostituierten geht. Aber wir lesen nur sehr wenig über Frauen mit Behinderung und wie sie ihre Sexualität und Lust zu entdecken, jenseits von Fortpflanzung. Für die gibt es weniger Beratungsangebote und Unterstützung. Deswegen rede ich zu diesem Thema immer weniger und versuche Frauen zu Wort kommen zu lassen.
Menschen fühlen sich auch oft unsicher in der Kommunikation mit und über behinderte Personen. Darf man nun eigentlich „behindert“ sagen oder nicht? Welche Ausdrücke in Bezug auf behinderte Menschen stören Sie am meisten?
Ich finde es immer erst mal wichtig, nach den Gemeinsamkeiten zu schauen. Dann ist die Wortwahl am Ende nicht so kriegsentscheidend. Wenn wir einander gut verstehen, verzeiht man auch mal, nicht 100-prozentig sprachlich korrekt zu sein. Ich bevorzuge „Menschen mit Behinderung“ oder „behinderte Menschen“. Wörter wie „anders begabt“, „herausgefordert“ oder „Handicap“ verharmlosen Dinge und machen einen Eiertanz um das Wort „behindert“. Viele haben nie gelernt, was das richtige Wording ist. Das sollte Thema in den Schulen sein. Wir haben in der Schule ja auch gelernt, dass man das N-Wort nicht mehr sagt.
Wir haben über Sonderschulen gesprochen, danach landen viele in Behindertenwerkstätten, die Sie stark kritisieren, genau wie die Wohlfahrtverbände. Wieso?
Wir haben in Deutschland ein etabliertes Wohlfahrtssystem, das nach dem Zweiten Weltkrieg eine sinnvolle Errungenschaft war, die sicherstellen sollte, dass bestimmte Aufgaben für die Gesellschaft, wie Kindergärten und Krankenhäuser, nicht mehr unter totaler Kontrolle des Staates liegen. Allerdings sind diese Wohlfahrtsbetriebe und -organisationen in den letzten Jahrzehnten zu eigenen Industrien geworden, in denen es vor allem um Auslastung und Geld geht und nicht mehr um die ursprüngliche Motivation, Menschen zu befähigen.
Wie zeigt sich das?
Das sehen wir an „totalen Institutionen“: Einrichtungen, in denen Menschen mit Behinderung wohnen, arbeiten, zur Schule gehen, und die Einrichtung gar nicht mehr verlassen müssen. Die sind zwar nicht eingesperrt, aber in einer Art mentalem Gefängnis. Wir wissen aus britischen Untersuchungen, dass dadurch die Missbrauchsquote steigt, weil die Menschen, die da wohnen, kaum Kontakte zur Außenwelt haben und das Personal sich im Falle einer Misshandlung tendenziell eher gegenseitig deckt als aufzuklären. Das heißt nicht, dass alle Menschen, die dort arbeiten, Täter*innen sind. Das heißt, dass diese Strukturen das begünstigen.
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Was muss sich da ändern?
Eine Forderung der Behindertenbewegung ist, dass solche Einrichtungen mindestens von behinderten Menschen geführt werden sollten, weil wir auch keine Frauenhäuser haben, die von Männern geführt werden. Wenn die Bewohner*innen nicht mitentscheiden können, wofür die Gelder verwendet werden oder wer ihnen auf die Toilette hilft, ist das auch eine Art Misshandlung. Ich habe selbst fünf Tage undercover in einem Behindertenheim verbracht. Mir wurde keine Gewalt angetan, aber nicht entscheiden zu können, wer mich zum Duschen auszieht, ist auch eine Form der Misshandlung.
Aber Sie fordern generell die Abschaffung solcher Heime?
Genau, deswegen sage ich „mindestens“. Jeder sollte das recht haben, so zu wohnen, wie er oder sie möchte. Und wenn jemand sagt, er möchte gerne in einer Wohneinrichtung wohnen, wo andere Menschen mit Behinderung sind, wo vielleicht auch die Personalabrechnung jemand für mich macht, besser ist, als wenn man alles selbst organisiert, dann ist das sein bzw. ihr gutes Recht. Aber die Alternative muss gleichwertig sein. Im Moment gibt es diese Wunsch- und Wahlfreiheit zwar auf dem Papier, aber in der Praxis nicht.
Welche Länder sind Deutschland da voraus?
Skandinavien und vor allem Schweden. Da gibt es ein Recht auf Teilhabe, das so stark ist, dass schwer- und mehrfach-behinderte Menschen sich auch aussuchen können, ob sie in den eigenen vier Wänden wohnen wollen oder in einer kleinen Wohngruppe oder in einem Heim.
Gibt es da auch Behindertenwerkstätten?
Nein, nicht mehr. Da gibt es jetzt die Struktur, dass Menschen mit Behinderung vom Staat bezahlt werden und die Firmen verpflichtet sind, behinderte Menschen zu beschäftigen. Sobald die Person etwas leisten kann in dem Betrieb, zahlt der Staat weniger und die Firma übernimmt. So etwas gibt es in Deutschland in der Ausprägung nicht.
Aber in Deutschland gibt es auch Regelungen für Unternehmen, dass sie ab einer bestimmten Größe einen bestimmten Prozentsatz von behinderten Menschen anstellen müssen.
Genau. Aber Unternehmen haben immer die Möglichkeit, sich freizukaufen. Und das ist scheinbar günstiger, als behinderte Menschen zu beschäftigen. Mittlerweile ist das der Politik aber klar geworden, sodass sie dieses Jahr die vierte Stufe der Ausgleichsabgabe eingeführt hat. Das bedeutet, dass Unternehmen, die gar keine behinderten Menschen angestellt haben, noch mal eine extra Strafe zahlen müssen. Das ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung.