Jugendpsychiaterin über Kinder, die töten: „Aggressionspotenzial ist in jedem Kind angelegt“
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Ein Einmalhandschuh liegt nahe des mutmaßlichen Tatorts in Sinsheim.
© Quelle: Sebastian Gollnow/dpa
Die Gewalttat in Sinsheim schockiert ganz Deutschland: Ein 14-Jähriger soll in der Kleinstadt in Baden-Württemberg einen 13-Jährigen mit Messerstichen getötet haben. Der Junge bestreitet die Tat – doch die Ermittler gehen davon aus, dass Eifersucht ein Motiv war. Wie konnte es so weit kommen? Sibylle Winter ist leitende Oberärztin der Jugendpsychiatrie an der Berliner Charité und erklärt im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), wieso manche Kinder gewalttätig werden, wie Eltern Gewalt vorbeugen sollten und wie Kinder, die töten, resozialisiert werden können.
Frau Winter, ein 14-Jähriger soll in Sinsheim einen 13-Jährigen erstochen haben – solche Taten schockieren die Gesellschaft. Welche Faktoren können dazu führen, dass Kinder so gewalttätig werden?
Ich kenne den Jugendlichen nicht, aber ich gehe davon aus, dass es eine längere Vorgeschichte gibt, in der der Jugendliche erfahren hat, dass Aggressionen schnell und wirksam zu einer Lösung beitragen können. Entweder hatte er Vorbilder, die er nachgeahmt hat und/oder Aggression als schnelle Konfliktlösung im Alltag erlebt.
Vom wem lernen und erfahren Kinder diese Form der Konfliktlösung?
Vorbilder in jeglicher Form sind ein wichtiger Faktor: Eltern, große Geschwister und weitere Verwandte. Ich denke aber auch, dass ein Aggressionspotenzial in jedem Kind angelegt ist, weswegen Eltern es in die richtigen Bahnen bringen müssen. Es ist wichtig, dass Eltern und Bezugspersonen früh in der Kindheit intervenieren.
Ab wann ist Aggressivität besorgniserregend?
Das ist eine Frage der Quantität: Wenn einmal etwas passiert, will ich das nicht als krankhaft einstufen. Wenn Gewalt mehrfach in der Woche passiert, andere Leute verletzt werden, dann ist das als auffällig zu werten.
Muss man sich beispielsweise Sorgen machen, wenn das Kind einen Schmetterling tötet?
Es ist okay, wenn das einmal passiert, weil das Neugierde und Explorationsverhalten sein kann. Wenn so etwas öfter vorkommt und Eltern das Gefühl haben, dass große Lust dabei erlebt wird, sollten sie sich Sorgen machen und herausbekommen, was los ist.
Wie bedenklich ist es, wenn Kinder sich in der Schule prügeln?
Es ist vor allem wichtig, wie Kinder nach der Prügelei dazu stehen. Nehmen wir mal an, ein Kind hat ein anderes Kind verletzt. Wenn es dann Reue zeigt und sich entschuldigt, ist das anders, als wenn ein Kind die Schuld komplett von sich weist.
Ein Warnzeichen wäre es, wenn es auf dem Spielplatz immer wieder Konflikte gibt.
Jugendpsychiaterin Sibylle Winter
Auf welche Warnzeichen können Eltern noch achten?
Ein Warnzeichen wäre es, wenn es auf dem Spielplatz immer wieder Konflikte gibt, wenn andere Kinder weinen oder verletzt werden und Eltern sich echauffieren. Da fühlen sich Mütter und Väter schnell angegriffen, aber es ist wichtig, dass sie den Anteil des eigenen Kindes an dem Konflikt verstehen.
Welche Unterstützung braucht ein Kind, das gewalttätig wird?
Ich würde mir wünschen, dass es eine ausführliche kinder- und jugendpsychiatrische Diagnostik bekommt. Wenn aggressives Verhalten vorherrscht, nennt sich die Diagnose „Störung des Sozialverhaltens“. Dann schaut der Psychiater oder die Psychiaterin, ob die Kriterien dafür zutreffen und ob noch andere Probleme im Spiel sind. Es werden auch Umgebungsfaktoren untersucht, zum Beispiel die Schule. Viele Bereiche werden abgeklopft: Mithilfe von Leitlinien wird dann die richtige Behandlung ausgewählt.
Könnte das eine Gesprächstherapie sein?
Eine Gesprächspsychotherapie wäre auf jeden Fall gut, weil es für ein Kind auch ein Trauma darstellt, wenn es einem Menschen Gewalt zufügt. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist meist eine Kombinationsbehandlung empfehlenswert mit sozialen Elementen, also zum Beispiel die Jugendhilfe, einer Medikation, um zum Beispiel die Impulsivität zu bremsen, und einer Psychotherapie.
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Sibylle Winter ist stellvertretende Klinikdirektorin und leitende Oberärztin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes und Jugendalters an der Berliner Charité.
© Quelle: Charité
Wie können Eltern ihren Kindern helfen, wenn sie Aggressivität bemerken?
Eltern müssen deutlich machen, dass solch ein Verhalten nicht in Ordnung ist, gesellschaftlich nicht geduldet wird und anderen Menschen wehtut. Als Vorbildfunktion sollten sie klarmachen, dass sie selber verbale und körperliche Aggressionen nicht als Lösungsstrategie wählen.
Wer schreit, hat schon verloren.
Jugendpsychiaterin Sibylle Winter
Also sollten Eltern auch nicht schreien?
Wer schreit, hat schon verloren. Damit verlieren Eltern den Respekt der Kinder, sie sollten immer versuchen in Ruhe eine Lösung zu finden. Wenn Eltern das Verhalten ihrer Kinder nicht positiv beeinflussen können, sollten sie sich professionelle Hilfe suchen: Erziehungsberatung und Psychotherapie. Eine Aggressionsentwicklung, die in die falsche Richtung geht, ist hochgefährlich. Sowohl für das eigene Kind als auch für das andere.
Wie hoch ist die Gefahr, dass Kinder, die töten, noch mal Gewalt anwenden?
Wenn nichts passiert, ist die Gefahr ziemlich hoch. Wenn ein Kind zum Beispiel sagt, dass das Verhalten gerechtfertigt war und nach der Tat keine andere Perspektive entwickelt, ist das gefährlich.
Dem verdächtigen Jugendlichen aus Sinsheim drohen nach Jugendstrafrecht bis zu zehn Jahre Haft. Wie können gewalttätige Kinder im Gefängnis resozialisiert werden?
Jugendliche können die Zeit im Gefängnis nutzen und mit einer Schul- und Ausbildung gute Voraussetzungen schaffen, um sich hinterher ein Leben aufzubauen. Zusätzlich sind eine psychologische Behandlung und Aufarbeitung wichtig, damit das Kind mit sich ins Reine kommt, aber das ist ein nahezu lebenslanger Prozess mit unterschiedlicher Intensität.