Überraschung nach Urteilsbegründung: Lina E. kommt vorerst frei
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Ein Mit-Angeklagter steht bei der Fortsetzung des Prozesses im Oberlandesgericht (OLG) Dresden im Verhandlungssaal und hält einen Aktenordner vor sein Gesicht
© Quelle: Sebastian Kahnert/dpa
Dresden. Die als linke Gewalttäterin zu fünf Jahren und drei Monaten Freiheitsstrafe verurteilte Lina E. kommt nach zweieinhalb Jahren in Untersuchungshaft vorerst frei. Der Haftbefehl gegen sie werde gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt, sagte Hans Schlüter-Staats, Vorsitzender Richter der Staatsschutzkammer am Oberlandesgericht Dresden, am Mittwochabend zum Abschluss der Urteilsbegründung. Die Reststrafe muss sie erst verbüßen, falls das Urteil rechtskräftig wird.
Sie muss sich nun zweimal wöchentlich bei der Polizei melden, darf den in der Akte vermerkten Wohnsitz nur mit Zustimmung des Gerichts wechseln und muss nach ihrem Reisepass auch den Personalausweis abgeben.
Studentin Lina E. aus Leipzig zu mehrjähriger Haftstrafe verurteilt
Der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts Dresden hat die mutmaßliche Linksextremistin Lina E. zu mehr als fünf Jahren Gefängnis verurteilt.
© Quelle: Reuters
Erleichterung bei ihrer Mutter
Die Entscheidung zum Haftbefehl löste vor allem bei der Mutter der 28-Jährigen freudige Überraschung aus, die in frenetischem Beifall und Gejohle der Unterstützer um sie herum gipfelte. „Fünf Jahre drei Monate ist für jemanden in ihrem Alter und auch sonst heftig und gravierend“, hatte Schlüter-Staats einleitend zu der aus Kassel (Hessen) stammenden Studentin gesagt. Die „größte Hypothek des Verfahrens ist der Status, den sie hier erlangt haben“, bemerkte er noch persönlich.
Am Mittwochvormittag war nach fast 100 Verhandlungstagen der Prozess gegen Lina E. und drei weitere Beschuldigte zu Ende gegangen. Das Gericht ließ Revision zu. Ihre drei Mitangeklagten erhielten Haftstrafen zwischen zwei und drei Jahren: Lennart A. muss als Mitglied der Vereinigung für drei Jahre ins Gefängnis. Jannis R. wurde als Unterstützer zu zwei Jahren und fünf Monaten Haft verurteilt. Phillip M. muss wegen Unterstützung der kriminellen Vereinigung und wegen einer Tat in Berlin für drei Jahre und drei Monaten (Gesamtstrafe) ins Gefängnis.
Richter Hans Schlüter-Staats gab an, dass es sich bei dem Prozess um ein politisches Verfahren handele, die Straftaten seien „politisch motiviert“ gewesen. Außerdem sei es Teil der Verteidigungsstrategie gewesen, die Angeklagten als „Opfer übermotivierter Strafverfolgung darzustellen“. Schlüter-Staats erklärte, dass man den Eindruck habe gewinnen können, dass es das wesentliche Ziel der Verteidigung gewesen sei, die Polizei als solche infragezustellen. Zum Motiv der Angeklagten, Rechtsextremisten angreifen zu wollen, fasste der Richter zusammen, dass „jeder Mensch in diesem Staat“ Rechte habe, „auch ein gewalttätiger Nazi“. Er werde durch seine Taten „nicht vogelfrei“, so Schlüter-Staats.
Handgemenge im Gerichtssaal
Wie die „Leipziger Volkszeitung“ (LVZ) berichtet, wurde die Urteilsverkündung im Gerichtssaal durch viele Unterstützer der Angeklagten aus der linken Szene verfolgt. Vor dem Gerichtsgebäude am Dresdner Hammerweg hatten sich schon am Morgen 50 Menschen zu einer Demonstration gegen das Urteil versammelt. Sie kritisierten unter anderem eine falsche Kriminalisierung eines notwendigen Kampfes gegen Rechtsextremismus.
Laut LVZ wurde es nach der Urteilsverkündung laut im Saal, es kam zu Zwischenrufen wie „Feuer und Flamme der Repression“ und „Schweinesystem, weil ihr Fascho-Freunde seid“. Richter Schlüter-Staats unterbrach daraufhin die Verhandlung, damit die Rufenden aus dem Gericht gebracht werden konnten. Nach einer erneuten Unterbrechung sollten offenbar weitere Zwischenrufende aus dem Gerichtssaal geführt werden. Es kam zu einem Handgemenge zwischen Zuschauerinnen, Justizbeamten und Polizisten.
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Demonstrierende aus dem linken Spektrum protestieren in Dresden gegen das Urteil im Prozess um Lina E. und drei Männer.
© Quelle: Robert Michael/dpa
Prozess läuft seit September 2021
Die Vorwürfe gegen Lina E. und die anderen Beschuldigten wogen schwer. Der Generalbundesanwalt warf ihnen vor, zwischen 2018 und 2020 tatsächliche oder vermeintliche Anhänger der rechten Szene in Leipzig, Wurzen und Eisenach brutal zusammengeschlagen zu haben. E. gilt bei der Anklagevertretung als Kopf der Gruppe. In mindestens zwei Fällen soll sie das Kommando geführt haben. Ein Kronzeuge hatte die Beschuldigten belastet. Laut Anklage wurden 13 Menschen verletzt, zwei davon potenziell lebensbedrohlich. Die Beschuldigten hätten den demokratischen Rechtsstaat ebenso abgelehnt wie das staatliche Gewaltmonopol, lautete eine weitere Anschuldigung.
Der unter hohen Sicherheitsvorkehrungen laufende Prozess hatte im September 2021 begonnen. Zu diesem Zeitpunkt saß Lina E. schon zehn Monate in Untersuchungshaft, während die Männer auf freiem Fuß blieben. Bis auf Angaben zur Person schwiegen die Beschuldigten zu den Vorwürfen. Nur Lina E. ergriff beim „letzten Wort“ die Chance und bedankte sich bei ihren Eltern, Angehörigen, allen Unterstützern und Verteidigern. Zu diesem Zeitpunkt war ihr das mögliche Strafmaß schon bekannt.
Sprechchöre und Beifall von Lina E.-Anhängern
Für die Verteidigung kamen nach dem Prozessverlauf nur Freisprüche infrage, sie hält den Prozess für politisch motiviert und am falschen Ort geführt. Allein der Umstand, dass die GBA die Ermittlungen an sich zog, habe zu höheren Strafanträgen geführt, argumentierten sie in ihren Plädoyers. Sie sahen ihre Mandanten einer Vorverurteilung ausgesetzt und warfen den Bundesanwälten vor, bei der Verurteilung rechter und linker Straftäter unterschiedliche Maßstäbe anzusetzen. Dem Gericht wurde unterstellt, voreingenommen zu sein.
Zur Urteilsverkündung wurde besonders Lina E. von Angehörigen und Anhängern im Saal mit tosendem Beifall, stehenden Ovationen und Sprechchören empfangen und minutenlang gefeiert. Zur Verkündung des Strafmaßes protestierten sie, Zuschauer beschimpften das Gericht. Vor dem Gebäude am Stadtrand, in dem sich der Hochsicherheitssaal von Sachsens Justiz befindet, demonstrierten mehrere Dutzend Anhänger vor allem aus Leipzig und bekundeten Solidarität mit Lina E.
RND/dpa/liz