Strafmündigkeitsgrenze absenken?

Generationenforscher: „Wir nehmen eine Reduktion der Empathie bei Kindern wahr“

Freudenberg: Ein Kondolenzbuch für das getötete zwölfjährige Mädchens Luise liegt neben Blumen und Kerzen in einer Kirche aus.

Freudenberg: Ein Kondolenzbuch für das getötete zwölfjährige Mädchens Luise liegt neben Blumen und Kerzen in einer Kirche aus.

Augsburg/Freudenberg. Die Tat in Freudenberg entfacht eine neue Debatte um das Strafmündigkeitsalter in Deutschland. Die beiden Täterinnen sind zwölf und 13 Jahre alt und hatten die Tötung der zwölfjährigen Luise gestanden. Wegen ihres Alters können die beiden nicht strafrechtlich belangt werden. Strafmündig ist man in Deutschland erst mit 14 Jahren – daran hat sich seit 1923 nichts geändert.

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Der Psychologe und Generationenforscher Rüdiger Maas, Gründer des Instituts für Generationenforschung in Augsburg, hält nicht viel von einer grundsätzlichen Absenkung des Strafmündigkeitsalters, wie er dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) sagt. Vielmehr plädiert der Wissenschaftler für Aufklärung und Prävention und möchte die möglichen Hintergründe solcher Taten ins Licht rücken. Was Social Media und der sogenannte Bystander-Effekt damit zu tun haben, erklärt Maas im RND-Interview.

Herr Maas, die Tat in Freudenberg schockiert ganz Deutschland. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder ähnliche Fälle, in denen Kinder Kinder töteten. Sind Kinder heute aggressiver als früher?

Aus der Statistik wird deutlich, dass die Zahl solcher Gewaltverbrechen tatsächlich abnimmt. Wir hatten um 2008 und 2009 einen Peak. Seitdem nimmt die Zahl ab – bei Jugendlichen fast um die Hälfte. Bei den unter 14-Jährigen ist es nicht ganz so deutlich, aber der Trend ist dennoch abnehmend. Der aktuelle Fall ist eine absolute Ausnahme. Es kommt hinzu, dass die Tat von Mädchen begangen wurde. Das ist noch seltener.

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Die Täterinnen können nicht strafrechtlich belangt werden, da sie jünger als 14 Jahre sind. Seit genau 100 Jahren hat sich nichts an der Altersgrenze der Strafmündigkeit verändert. Halten Sie die Diskussion um die Herabsenkung für sinnvoll?

Ich verstehe die Diskussion auf jeden Fall. Man muss aber immer den Lebenshorizont von diesen Kindern betrachten. Wenn sie ihre Handlungen gar nicht abschätzen können, bringt eine Herabsetzung nichts. Das würde auch nicht immer vor einer Tat schützen. Es müsste an anderen Stellen angesetzt werden. Im Fall Freudenberg sind die Gründe, zumindest für die Öffentlichkeit, unbekannt, weshalb eine Beurteilung aufgrund dieses Falls von außen derzeit nicht möglich ist.

Was würden Sie empfehlen: Sollte das Alter der Strafmündigkeit herabgesetzt werden?

Es ist schwierig, aber es kann über bestimmte Bereiche wie Diebstahl diskutiert werden, die Kinder auch in jüngerem Alter schon abschätzen können. Aber ich plädiere immer eher für Aufklärung und Prävention, als mit Sanktionen zu drohen, die für Kinder ganz schwer abzuschätzen sind.

Rüdiger Maas, Psychologe, Generationenforscher und Gründer des Instituts für Generationenforschung in Augsburg.

Rüdiger Maas, Psychologe, Generationenforscher und Gründer des Instituts für Generationenforschung in Augsburg.

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Welche Rolle spielt Social Media bei Gewalttaten von Jugendlichen und Kindern?

Kinder werden immer öfter mit solchen Taten konfrontiert. Wir haben eine enorm hohe digitale Bespielung, Kinder sind sehr stark auf Social Media unterwegs. 32 Prozent der unter 15-Jährigen haben schon Extremszenen wie echte Vergewaltigungen, echte Ermordungen oder echte Kriegsszenen konsumiert – oft unter dem Radar der Eltern. Das sind völlig neue Dimensionen, mit denen Eltern nicht nur überfordert sind, sondern teilweise auch gar nicht wissen, dass sie passieren. Das hatten wir vor 20 Jahren noch nicht.

Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

Dadurch entsteht eine gewisse Distanzierung. Die Kinder sehen solche Szenen digital, die in der analogen Welt passieren, und können diese gar nicht richtig einordnen. Es kommt zum sogenannten Bystander-Effekt. Szenen werden von vielen konsumiert, aber niemand tut etwas dagegen. Man kann das entfernt mit Gaffern bei einem Autounfall vergleichen. Das führt dazu, dass wir in vielen Bereichen einen Empathieverlust sehen. Viele Grundschullehrer haben uns in unseren Studien berichtet, dass die Gewalt insgesamt abnimmt – aber wenn Gewalt ausgeübt wird, viele Kinder bei beispielsweise Prügeleien nicht mehr aufhören, weil sie nicht nachvollziehen können, wie es der Person am Boden geht. Wir nehmen eine Reduktion der Empathie bei Kindern wahr.

Wie kann dem entgegengewirkt werden – sehen Sie die Schulen oder Eltern in der Pflicht?

Es muss wieder gelernt werden, die Gefühle des Gegenübers wahrzunehmen. Die digitale Bespielung von Kindern sollte noch viel ernster genommen werden. Sie sollten nicht überbehütet werden, zumindest sollte man aber ein Auge darauf haben und auch mit den Kindern sprechen, was gelesen oder gesehen wurde, um das möglicherweise richtig einzuordnen.

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Auch in der analogen Welt muss angesetzt werden. Es hört sich vielleicht paradox an, aber tatsächlich ist es gar nicht so verkehrt, wenn Jungen sich in der Schule auch mal raufen dürfen – solange das im Rahmen ist –, ohne dass das sofort sanktioniert wird. Kinder dürfen sich heute viel weniger ausleben und ihre Grenzen spüren.

Zwölfjährige Luise von zwei Kindern erstochen

Die zwölfjährige Luise ist erstochen worden. Das hat die Obduktion ergeben. Als Täterinnen wurden zwei strafunmündige Mädchen ermittelt.

Immer wieder gibt es Trends in den sozialen Medien, die zu Gewalt aufrufen. Zuletzt gab es Auseinandersetzungen in mehreren Kinos, die wohl auf einen Trend zurückzuführen sind. Wie schnell lassen sich Kinder von solchen Trends anstecken?

Das passiert immer häufiger und immer schneller, sie gehen aber auch schnell wieder weg. Es ist nur ein kleiner Teil der Menschen, die denken, dass sie da mitmachen müssen. Aber wenn natürlich Hunderttausende das sehen, dann sehen das auch jene Chaoten, die sich dadurch angesteckt fühlen. Am Beispiel der Kinos: Was passiert, wenn so etwas vor sich geht? Viele ziehen ihr Handy und stellen die Videos auch noch ins Netz. Die Personen agieren somit als Promotoren dieser Chaoten, anstatt dazwischenzugehen – sie unterstützen die Vorfälle unbewusst. Deswegen müssen wir davon ausgehen, dass solche Vorfälle noch häufiger geschehen werden.

Müssten die Social-Media-Plattformen oder die Bundesregierung stärker vorbeugen?

Das ist beides wünschenswert, aber es kommt immer darauf an, wie schnell überhaupt reagiert werden kann. Das kann vielleicht keine KI oder ein Programm tun, sondern Menschen. Aber das kann immer noch auf eine Plattform wechseln, die so was erlaubt. Das ist nicht so einfach.

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Kann man sagen, dass Kinder heute früher reifer sind als noch vor Jahrzehnten?

Nein. Die Erwachsenen haben sich verändert, wir nehmen Kinder viel früher ernst. Es wird immer häufiger, dass Eltern ihre Kleinkinder fragen, was sie haben wollen, wie ihr Kinderzimmer aussehen soll oder wo Urlaub gemacht werden soll. Das heißt aber nicht, dass Kinder dadurch reifer werden. Viele Antworten sind zufällig, sie wissen gar nicht, was sie antworten. Der Reifeprozess beschleunigt sich dadurch nicht. Die Kinder lernen immer mehr, dass sie mitbestimmen können, aber nicht unbedingt, dass sie dafür Verantwortung tragen müssen.


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