Prozess um Juwelendiebstahl im Grünen Gewölbe: jung, verwandt, angeklagt
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/SFQDOIYIR5HZHEEQF54THIYV2Q.jpeg)
Einer der Angeklagten (vorne rechts) wird in den Saal im Oberlandesgericht Dresden geführt.
© Quelle: Jens Schlueter/AFP Pool /dpa
Dresden. Es wählt hier, das wird hier am Freitagmorgen vor dem Landgericht Dresden rasch klar, jeder seine eigene Form des Auftritts. Da ist Wissam R., 24 Jahre alt, sehr erfahren in Prozessen und Strafen, zuletzt verurteilt für den Diebstahl einer gewaltigen Goldmünze aus dem Berliner Bode-Museum, der sein Gesicht mit einem dreiseitigen Aktendeckelkonstrukt perfekt vor den Kameras verbirgt. Und da ist Mohamed, erst 22 Jahre, der offen lächelnd den Hochsicherheitssaal betritt, in hellem, großkariertem Hemd, zurückgegeltem Haar, mit selbstbewusster, gerader Haltung.
Die anderen vier jungen Männer bewegen sich irgendwo dazwischen, zwischen Offenheit und Abwehr. Einer grüßt mit Blicken Bekannte im Publikum. Zehn Anwälte begleiten sie, sie sitzen je zu ihrer Rechten und Linken.
Es ist auch ein Familientreffen der besonderen Art, zu dem das Gericht die sechs Angeklagten an diesem Morgen hier versammelt, tragen sie doch alle denselben Nachnamen. Sie sind Brüder und Cousins, und gemeinsam sollen sie am 25. November 2019 aus dem Historischen Grünen Gewölbe Schmuck im Wert von 113 Millionen Euro gestohlen haben. Wobei das mit dem Wert so eine Sache ist: Der reine Materialwert der rund 4300 Diamanten und Brillanten soll bei mehreren Hunderttausend Euro liegen. Der kulturelle Wert dagegen ist nicht zu beziffern. „Die Seele der Sachsen ist getroffen“, so hatte es die Direktorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Marion Ackermann, nach dem Diebstahl gesagt.
Krimineller Zweig
Es geht in diesem Prozess, der an diesem Freitag in Dresden beginnt, um den wohl schwersten Kunstdiebstahl der vergangenen Jahrzehnte. Um den anscheinend unbelehrbaren kriminellen Zweig einer Berliner Großfamilie. Und, wenn man den Kritikern glauben darf, auch um eine erstaunliche juristische Milde diesem Zweig gegenüber, die diese Tat begünstigte.
Die sechs Angeklagten sind zwischen 22 und 29 Jahren alt. Zwei waren bei der Tat noch Heranwachsende, weshalb die Jugendkammer den Fall verhandelt. „Zuletzt ohne Wohnsitz, ist das richtig?“, fragt der Vorsitzende Richter Andreas Ziegel den Angeklagten Mohamed R. „Nein“, antwortet seine Anwältin für ihn. „Zuletzt wieder bei Mutti.“
An jenem 25. November 2019, so zeichnet es die Anklage jetzt nach, ging alles ganz schnell. Um 4.49 Uhr, am frühen Morgen also, zünden die Täter zunächst einen Stromverteiler an, um die Laternen rund um das Schloss auszuschalten. Dann entfernen sie das schmiedeeiserne Gitter vor einem der Fenster, das sie schon Tage zuvor aufgestemmt und nur zum Schein wieder eingesetzt hatten. Um 4.57 Uhr klettern laut der Anklage zwei von ihnen, Wissam und Mohamed, in das Gebäude, zertrümmern, „mit brutaler Gewalt“, mit Äxten die Vitrinen und raffen an Schmuck zusammen, was sie auf die Schnelle greifen können. Einiges bleibt kaputt zurück. Nach wenigen Minuten war alles vorbei.
Strengste Sicherheitskontrollen
Was anschließend fehlte sind „einzigartige und unersetzliche Schätze“, so die Ankläger. Der Sachsen-Kurfürst August der Starke hatte die Sammlung vor drei Jahrhunderten zusammengetragen, 100 Stücke als Zeichen von Rang und Macht, die alle Krisen und Kriege überdauerten, sogar die Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg, nicht aber den Angriff der Diebe jetzt. 21 Juwelen trugen sie raus, darunter die mit mehr als 600 Brillanten besetzte Brustschleife der Königin Amalie Auguste oder den Bruststern des polnischen weißen Adlerordens. Bis heute sind die Stücke verschwunden.
Die Sicherheitskontrollen bei diesem Prozess sind erheblich, wegen des Bezugs zur organisierten Kriminalität, wie ein Sprecher erklärt. Schon vor dem Gericht, dem Hochsicherheitsbau des Oberlandesgerichts, kontrolliert ein Großaufgebot der Polizei Kreuzung und Straße. Wovon noch zu reden sein wird. Dann geht es verspätet los, weil die Verteidiger sich daran stören, dass auch der Freistaat Sachsen noch als Nebenkläger auftritt und die Akten einsehen darf. Sachsen, so argumentieren sie, sei mit drei Staatsanwälten in diesem Prozess ausreichend vertreten.
Es war offenbar nicht allzu schwer, die mutmaßlichen Täter zu finden. Schon Farbe und Marke des Fluchtwagens, den sie angezündet in einer Tiefgarage zurückließen, bevor sie mit einem als Taxi getarnten Mercedes weiterfuhren, gilt bei Ermittlern als zuverlässiger Hinweis auf eine bestimmte Berliner Großfamilie, die eine Schwäche für blaue Audis hat. Zudem fand die Polizei DNA-Spuren im Museum. Gegen 40 weitere Verdächtige werde noch ermittelt, hatte Oberstaatsanwalt Jürgen Schmidt gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland vor Prozessbeginn bestätigt – darunter auch gegen Wachmänner. Gegen sie alle gebe es aber nicht mehr als einen Anfangsverdacht. „Wir sind uns sehr sicher, alle unmittelbar an der Tat Beteiligten ermittelt zu haben“, erklärt Schmidt. Jene Sechs also, die hier nun als Angeklagte auf den Stühlen sitzen.
Sonderstellung in der Szene
Alle mit demselben Nachnamen also. Nur dass sich einer von ihnen mit nur einem M in der Mitte schreibt. „Warum das so ist, frage ich mich schon mein halbes Leben“, sagt Rabieh R. auf die Nachfrage des Richters.
Die R.s also: Für Ermittler und Beobachter, die sich schon länger mit der Kriminalität bestimmter Großfamilien in Berlin beschäftigen, hielt sich die Überraschung bei dieser Erkenntnis sehr in Grenzen. Von einer „Sonderstellung“ der Familie innerhalb der Szene der sogenannten Clans spricht Falko Liecke, Sozialstadtrat und CDU-Politiker in Neukölln, der seit Jahren beständig mit den R.s zu tun hat. Die anderen einschlägig bekannten Großfamilien seien im Bereich der Kinder- und Jugendkriminalität nicht weiter auffällig – bei der Familie R. jedoch „geht es oft schon mit zehn Jahren mit schweren Delikten wie Einbruchdiebstahl los“.
Familie mit Prinzipien
Zu den R.s gehören rund 1000 Familienmitglieder. Um die Verwandtschaftsbeziehungen darzustellen, haben die Ermittler in Berlin dem Vernehmen nach einen Stammbaum von mehreren Quadratmetern Größe erstellt. Nur ein Teil der Mitglieder begeht Straftaten: Rund 200 sollen sich in den Akten der Berliner Polizei finden. Von ihnen jedoch verfolgen viele ihre kriminelle Karriere mit besonderem Ehrgeiz. Die R.s stammen wie andere Clanfamilien ursprünglich aus dem Osten der Türkei, kamen dann über den Libanon nach Deutschland – und haben dabei eine große Distanz zu jeder Staatlichkeit bewahrt. Es gebe in den Familien ein klares Prinzip, sagt Liecke: „Wir sind für die Familien da – die Mehrheitsgesellschaft interessiert uns nicht.“
Liecke plädiert für eine harte Linie, für ein entschiedenes Eingreifen schon im Jugendalter, zum Beispiel durch Familiengerichte – bevor es zu spät ist. „Wenn wir das Verhalten im Jugendalter laufen lassen, kann man später nichts mehr ändern“, sagt Liecke. Und: „Es gibt in Bezug auf die Clanfamilien zu viele Wattebauschaktionen, die nichts bewirken. Und das wird der Mehrheitsgesellschaft als Schwäche ausgelegt.“
Das klingt entschieden, zuweilen markig – aber die Täterbiografien der Cousins Wissam und Ahmed R. dienen da durchaus als Beleg. Im November 2019, während der Tat von Dresden, standen sie in Berlin wegen des Diebstahls der 100-Kilo-Goldmünze aus dem Bode-Museum vor Gericht. Wiederholungsgefahr, ein möglicher Haftgrund, sah die Berliner Justiz aber offenbar nicht – und ließ die Cousins auf freiem Fuß. Genau darüber wunderten sich auch die Richter am Amtsgericht Erlangen, wo sich Wissam R. wenige Tage nach der Tat von Dresden wegen des Diebstahls von Werkzeug verantworten musste, wie es auch beim Einbruch ins Grüne Gewölbe verwendet wurde.
Massive Vorverurteilung
Für beides, den Goldmünzen- wie auch den Werkzeugklau, wurde Wissam R. letztlich verurteilt. Und wenn es so war, wie die Ankläger in Dresden jetzt als erwiesen ansehen, dann ging er brav zu allen Verhandlungsterminen – und machte ansonsten sein Ding. Die sächsischen Juwelen hätten sie demnach in der Verhandlungspause gestohlen. Die Berliner Strafjustiz, konstatiert Liecke, „agiert, was die Verhängung von Untersuchungshaft angeht, einfach zu lasch.“
Doch ein einfacher Prozess wird auch dies nicht, auch das wird an diesem ersten Tag in Dresden deutlich. Die Verteidiger aller Angeklagten streiten die Vorwürfe im Namen ihrer Mandaten ab; die Vertreter der beiden jüngsten, der Zwillinge, die noch Heranwachsende waren, verlangen, dass ihr Verfahren von dem der erwachsenen Angeklagten abgetrennt wird. „Die Bedingungen sind eines Jugendverfahrens unwürdig“, kritisiert die Verteidigerin von Mohamed R., Ines Kilian – sie erinnerten eher an ein Terrorismusverfahren vor dem Oberlandesgericht.
Genau dies bewirke auch eine weitere massive Vorverurteilung der Angeklagten – die bereits vorab durch Medienberichte regelrecht an den Pranger gestellt worden seien. „Nur weil jemand Mitglied einer bestimmten Familie ist, gibt es keinen Grund, ihn einer kriminellen Bande zuzurechnen“, stellt Michael Nagel, Anwalt des angeklagten Bashir R. klar. Die Beweise auch gegen seinen Mandanten würden am Ende nicht ausreichen, prophezeit er.
Genau darum aber wird es in den kommenden Monaten gehen: die individuelle Schuld jedes Einzelnen nachzuweisen. Egal, wie sie mit Nachnamen heißen. Es wird ein äußerst aufwendiger Versuch, das ist bereits klar: Terminiert ist dieser Prozess bereits jetzt bis Ende Oktober dieses Jahres.