Open Airs werden teurer

Schock am Ring: Deutschlands Musikfestivals starten in den Krisensommer

Tag eins am Nürburgring: Rockfans feiern beim Auftritt der ukrainischen Band Jinjer am Freitagnachmittag vor der Hauptbühne.

Tag eins am Nürburgring: Rockfans feiern beim Auftritt der ukrainischen Band Jinjer am Freitagnachmittag vor der Hauptbühne.

Wenn etwas in dieser Branche nicht in Ordnung ist, dann wird es hier meist als Erstes sichtbar, in der Hocheifel. Jedes Jahr, wenn es Juni wird, steigt hier das Festival Rock am Ring. Das mehrtägige Open Air ist so etwas wie die Leitmesse unter den deutschen Musikfestivals, durch Größe, Stellenwert und nicht zuletzt den frühen Termin im Freiluftkalender ein Szeneseismograf. Dass der gerade ungewöhnliche Schwingungen aufzeichnet, hat nichts mit den vulkanischen Vorgängen unter der Eifel zu tun. Sondern mit einem Brodeln anderer Art. Vom Nürburgring strahlt es aus in die Liverepublik.

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Dabei scheinen die Dinge dieser Tage rund um Rock am Ring, oberflächlich betrachtet, eigentlich völlig unverdächtig abzulaufen. Seit Freitagmittag strömen die Besucher auf das weitläufige Gelände, am späten Abend spielen die Foo Fighters, ein standesgemäßer Hochglanz-Headliner. Tenacious D sind für Samstag gebucht, die Kings of Leon kommen. Insgesamt haben sich 70 Acts angekündigt, Hardrock-Megaseller, Nu-Metal-Ikonen, auch die derzeit erste Riege des Deutschrap ist dabei, Apache 207 oder K.I.Z. Und, natürlich, es geht nichts ohne die Toten Hosen, die am Sonntag den Deckel draufmachen. Alles wie immer, oder?

Für die 70.000 Musikfans, die in diesem Jahr beim Rock am Ring erwartet werden, wird es sich weitgehend so anfühlen, als sei alles normal. Nur: Im vergangenen Jahr, bei der letzten Ausgabe des seit 1985 bestehenden Megaevents nach zwei Jahren Zwangspause, waren sie eben noch deutlich mehr hier, 90.000 Menschen feierten das Comeback nach Corona. Minus 20.000 – die Nummer eins unter Deutschlands Rockfestivals leidet plötzlich unter Besucherschwund. Auch das parallel mit identischem Line-up in Nürnberg stattfindende Schwester-Open-Air, Rock im Park, rechnet mit weniger Fans als noch 2022.

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Dabei ist Deutschland doch eigentlich eine Konzertnation, wohl nirgends ist die Open-Air-Dichte so hoch wie hier. Es mögen Zahlen sein, die zwar vor der Pandemie erhoben wurden, aber die Vermessung der Festivallandschaft durch das Statistische Bundesamt, 2017 publiziert, gibt trotzdem noch einen guten Eindruck von der schieren Größe des Phänomens: Die Erhebung kommt auf eine Gesamtheit von über 1300 „Musikfestivals und Musikfestspielen“ in Deutschland für das Jahr 2015. Die hochgerechnete Anzahl der Besucher schwankt zwischen 27 Millionen und 32 Millionen. Wäre Livemusik eine Religion, sie wäre die mitgliederstärkste Konfession im Land.

Die Topfestivals werden zum Luxushobby

Nur leider ist das Festivalbrauchtum nicht nur Glaubens-, sondern zuvorderst Geldsache, für Besucher wie für Veranstalter gleichermaßen. Und die Kosten für die Durchführung sind hoch wie nie: Die Shows sind energiehungrig, fressen viel vom teuer gewordenen Strom. Dazu sind die Löhne gestiegen – und fähiges Personal ist ein knappes Gut, vor allem die gebeutelte Eventbranche ist da durch Corona geradezu ausgeblutet, es fehlt an Veranstaltungstechnikern, an Sicherheitsleuten. Und dann sind da noch die Bands, auch sie verlangen jetzt häufig mehr Geld.

Und wie das so ist, wird ein Teil dieser Mehrkosten dann weitergereicht an den Endverbraucher. Belastbare Zahlen liegen nicht vor, aber Branchenkenner schätzen, dass Livemusik um bis zu 30 Prozent teurer geworden ist. Gerade die mehrtägigen Topfestivals sind dadurch mittlerweile ein Luxushobby: Das volle Programm Rock am Ring mit zusätzlichem Camping-Ticket kostet in diesem Jahr um die 300 Euro und damit gut 40 Euro mehr als noch 2022. Das Hurricane Festival, vom 16. bis 18. Juni im niedersächsischen Scheeßel, verlangt für Casper, Kraftklub, die Ärzte und Co. 249 Euro statt zuvor 219. Das Wacken Open Air in Schleswig-Holstein, das als größtes Heavy-Metal-Festival der Welt gilt, schlägt satte 60 Euro drauf, hat für nun 299 Euro aber immerhin vier statt drei Tage im Angebot.

Anders als Rock am Ring ist Wacken im Übrigen längst ausverkauft, die 85.000 Tickets waren innerhalb weniger Stunden weg. Eine treue Fanbasis, mit Iron Maiden eines der besten Verkaufsargumente der Szene im Angebot, da ist die Sache fast ein Selbstläufer. Auch das Hurricane sitzt auf nur noch wenigen Restkarten. Und selbst Rock am Ring wird mit seinen um die 70.000 gut zahlenden Kunden keinen Schiffbruch erleiden. Dafür trifft es andere umso härter. Wer nicht zu den großen Pötten gehört, droht mehr denn je abzusaufen im Sturm der Krise.

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Die Liebe zur Musik mag bei einigen Fans grenzenlos sein. Aber das Portemonnaie ist eben endlich. Und es stößt umso schneller an seine Grenzen, je mehr die Veranstalter der Top-Events an der Preisschraube drehen. Wenn Mehrkosten durchgereicht werden, wird es für einige auf dem Markt eng, mahnt Bernd Schweinar vom Verband für Popkultur in Bayern gegenüber der dpa: „Der Effekt wird sein, dass immer teurere Großkonzerte das Budget schmälern, das Konzertbesucher dann für kleinere Festivals und Konzerte nicht mehr haben.“

„Wir sind am Arsch. Ihr offensichtlich auch“

In den letzten Monaten haben etliche Künstler ihre Touren teilweise oder gleich komplett absagen müssen. Die Bremer Zwei-Mann-Metal-Band Mantar etwa sagte im vergangenen Herbst fünf Gigs ab, verschob drei weitere, weil der Vorverkauf schlecht gelaufen war – und sprach in ihrem Statement die ganze, ungeschönte Wahrheit aus, wie sehr den Kleinen der Laden gerade um die Ohren fliegt: „Wir wollen euch keine Scheiße erzählen und hier von ‚logistischen‘ Gründen oder ‚reasons beyond our control‘ rumschwafeln. Nein, es ist an der Zeit, sich den Sand aus den Augen zu wischen und einfach zu sagen, was Phase ist: Wir sind am Arsch. Ihr offensichtlich auch.“

An diesem – die Bezeichnung trifft es halt ganz gut – Arsch sind jetzt mit etwas Zeitverzug auch einige Festivals. Eines, das es vor wenigen Wochen zerlegt hat, ist das Bang Your Head in Baden-Württemberg, eine Institution seit 1996, zuletzt hatte es bis zu 20.000 Metalfans nach Balingen gelockt. Die diesjährige Ausgabe wurde Anfang Mai abgesagt, das Festival wird auch in Zukunft nicht mehr stattfinden. Einer der Gründe auch hier: die finanzielle Lage. „Die Preise sind an allen Fronten explodiert“, heißt es in der Stellungnahme des Veranstalters. Der noch etwas beklagt: fehlende Solidarität. Viele Dienstleister, ohne die es nicht geht, würden gerade jetzt versuchen, „ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen knallhart durchzusetzen“.

Die Großen können dieses Spiel bis zu einem gewissen Punkt mitspielen. Aber selbst unter denen gibt es solche, die die Reißleine ziehen. Das Download Germany, deutscher Ableger des seit 2003 im englischen Donington stattfindenden Mega-Rockfestivals, ist am Dienstag abgesagt worden – vier Wochen vor dem geplanten Start auf dem Hockenheimring. Download, vom US-Entertainment-Riesen Live Nation veranstaltet, warb mit den Publikumsmagneten Slipknot und Volbeat als Headliner, rechnete mit 70.000 Fans. Jetzt, aus dem Nichts, der Rückzieher, garniert mit einer halb garen Begründung. „Bis zuletzt“ habe man versucht, das Festival zu realisieren. Die „massive Anzahl von Open-Air-Veranstaltungen“ würde Organisation und Durchführung aber erheblich erschweren.

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Download Germany, 2022 als Ein-Tages-Event gestartet, ist noch vor seiner Premiere als mehrtägiges Festival also erst einmal wieder Geschichte. Nicht auszuschließen, dass weitere folgen. Und damit auf in den Festivalsommer der Ungewissheiten.

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