SOS-Kinderdorf-Chefin Schutter: „Jeder, der anruft, trägt zur Aufarbeitung bei“
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Ort der Obhut im Zwielicht: Eine Studie über ein SOS-Kinderdorf in Bayern förderte im Herbst 2021 Erschreckendes zutage: Zwei Dorfmütter sollen ihre Schützlinge gequält haben, auch von sexuellen Übergriffen ist die Rede. Der Verein sucht nun weitere Betroffene.
© Quelle: Matthias Balk/dpa
Alles begann mit dem Verdacht auf Gewalt und Missbrauch in SOS-Kinderdörfern. Interne Meldungen führten dazu, dass 2020 ein Missbrauchsexperte mit einer Studie beauftragt wurde. Das erschütternde Ergebnis folgte im Herbst 2021: Zwei Mitarbeiterinnen eines SOS-Kinderdorfs in Bayern hatten von Anfang der Nullerjahre bis etwa 2015 Schutzbefohlenen Gewalt angetan, von einem „Klima der Angst“ war die Rede. SOS-Kinderdorf e. V. setzte daraufhin umgehend eine unabhängige Kommission ein, die derzeit 160 weiteren Hinweisen auf Gewalt und Missbrauch in SOS-Kinderdorf-Einrichtungen nachgeht und jetzt einen Meldeaufruf in Tageszeitungen an mögliche Opfer startete. Bis Sommer 2024 soll ein Bericht vorliegen. Das RND sprach mit der SOS-Vorstandsvorsitzenden, Professor Sabina Schutter, über eine Institution, die eigentlich gewaltfrei sein sollte.
Frau Schutter, die von SOS-Kinderdorf eingesetzte unabhängige Kommission geht derzeit vielen Hinweisen auf Missbrauch in deutschen SOS-Kinderdörfern seit den Sechzigerjahren nach. Auch wurde von der Kommission in Tageszeitungen eine Anzeige geschaltet: Menschen, die in SOS-Kinderdörfern Ähnliches erlebt hätten, sollten sich melden. Was bedeutet das für den Verein, der in Deutschland ja eigentlich seit 1955 als Obhut für schutzbedürftige Kinder und Jugendliche gilt?
Das bedeutet in allererster Linie, dass wir nicht in allen Fällen mit unseren Schutzmechanismen und unserer pädagogischen Arbeit erreicht haben, was unser Anspruch ist. Seit der Gründung unserer internen Anlauf- und Monitoringstelle im Jahr 2010 haben wir die angesprochenen 160 Meldungen erhalten – von Betroffenen, die in SOS-Kinderdörfern in Deutschland Gewalt oder pädagogisches Unrecht erfahren haben, oder als Dritter über solche Vorkommnisse berichten wollen. Die Fallkonstellationen sind sehr unterschiedlich und beziehen sich auf den Zeitraum seit den 1960er-Jahren.
Um eine Vorstellung zu bekommen: Wie viele SOS-Kinderdörfer gibt es in Deutschland, wie viele Kinder wurden und werden betreut und begleitet?
Seit unserer Gründung sind über 10.000 Kinder bei uns aufgewachsen. Im Moment haben wir im Jahr ungefähr 2000 Kinder, die bei uns leben. Die Zahl der jungen Menschen, mit denen wir jährlich zu tun haben oder die uns besuchen, ist in den ambulanten Angeboten wie Kindertagesstätten, der Berufsausbildung, Familienzentren oder Mütterzentren natürlich noch um ein Vielfaches höher.
Die Vorfälle fanden aber in den Kinderdörfern statt. Welche Einrichtungen in Deutschland sind davon betroffen?
Das lässt sich noch nicht genau sagen. Derzeit unterhalten wir 39 SOS-Kinderdörfer in Deutschland. Die Kommission hat jetzt ihren Aufruf gestartet, weil sie möglichst alle Menschen erreichen möchte, denen bei uns Unrecht widerfahren ist. Es ist derzeit schwer festzustellen: Hier ist etwas vorgefallen und dort nicht. Das kann sich durch einen neuen Hinweis ändern.
SOS-Kinderdörfer galten als Schutzzone, als Ort der Geborgenheit. Ist der Imageschaden jetzt nicht riesengroß?
Was mich persönlich und den Verein betroffen macht, ist die Tatsache, dass wir unseren Ansprüchen nicht gerecht geworden sind. Dass es Vorfälle gab, wo wir und unsere Schutzmechanismen versagt haben. Unser Ziel ist es, Kindern ein gutes Zuhause zu bieten, in dem sie sicher aufwachsen können. Die Arbeit der Kinderdorfmütter dort gründet auf der Zusicherung: „Wir sind da für dich. Du kannst zu mir eine verlässliche Beziehung aufbauen.“ Das erfüllen wir auch in den allermeisten Fällen. Unser Ziel ist es jetzt, das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen zu gewinnen, und das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückzugewinnen und zu erhalten.
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Suche nach Geschädigten: Eine geschaltete Anzeige der „Unabhängigen Kommission zur Anerkennung und Aufarbeitung erlittenen Unrechts in Einrichtungen des SOS-Kinderdorf e. V.“ erschien in deutschen Tageszeitungen.
© Quelle: Peter Kneffel/dpa
Ausgangspunkt für die Gründung der Kommission war im Herbst 2021 eine von SOS-Kinderdorf e. V. in Auftrag gegebene externe Studie des Missbrauchsexperten Heiner Keupp, die von zwei SOS-Kinderdorfmüttern in Bayern berichtete, die über lange Zeit Gewalt gegenüber Schutzbefohlenen ausgeübt hatten – da seien Kinder mit den Köpfen aneinandergeschlagen worden, Kinder mussten auf Lattenrosten schlafen. Ein „Klima der Angst“ sei es gewesen. Haben sich die Vorwürfe als zutreffend erwiesen? Und wie ist da der Stand der Ermittlungen?
Die Betroffenen haben glaubhaft von den Vorfällen berichtet. Und wir stehen fest bei denen, die schutzlos waren und jetzt unsere Hilfe brauchen. Seit 2021 aber weisen wir sehr gezielt unsere Einrichtungen darauf hin, alles zu melden, was auch nur im entferntesten Sinne auf Gewalt schließen lässt. Es ist uns sehr wichtig, dass wir auch nach außen hin transparent sind, dass wir Dinge nicht herunterspielen. Zu den rechtsstaatlichen Ermittlungen können wir keine Aussage machen. Von Seiten der Betroffenen sind bereits Verfahren eingeleitet worden. Mit Blick auf das laufende Verfahren können wir keine weiteren Informationen nennen, auch weil wir nicht Verfahrensbeteiligte sind.
Ermöglicht die Struktur eines SOS-Kinderdorfes Gewalt wie die in Bayern? Schaut niemand darauf, was SOS-Kinderdorfmütter und -väter tun?
Die Struktur ist eigentlich so, dass es dazu gar nicht kommen sollte: In jeder Kinderdorffamilie sind neben der Kinderdorfmutter externe Erzieherinnen und Erzieher beschäftigt. Es gibt immer eine zweite Fachkraft, die auch zur Reflexion da ist und die unterstützt. Darüber hinaus sind Hauswirtschaftskräfte anwesend. Die Dorfstruktur sorgt dafür, dass immer jemand da ist, dem man sich anvertrauen kann. Wir haben Fachdienste, die in den Familien regelmäßig alles überprüfen, die auch allein mit den Kindern sprechen. Wir stehen in Kontakt mit Heimaufsicht und Jugendamt. Das hätte nicht vorkommen dürfen. Es ist ein großes Unglück, dass das doch geschehen ist.
Trotz vieler Kontaktmöglichkeiten wurden offenbar keine genutzt.
Und das arbeiten wir gerade auf und haben auch die Kommission diesbezüglich um Rückmeldung gebeten. Wir wollen eine Kultur des besseren Hinhörens etablieren. Aus der Forschung weiß man, dass sich junge, von Gewalt betroffene Menschen im Schnitt sieben Menschen anvertrauen müssen, bevor da jemand ist, der ihnen glaubt. Das darf nicht sein. Wir alle – von der Hauswirtschaftskraft bis zur Vorstandsvorsitzenden – müssen noch aufmerksamer sein.
Wie kann offenbar ungeeignetes Personal wie in den bayerischen Fällen Anstellung finden? Was sind die Einstellungskriterien für eine SOS-Kinderdorfmutter?
Bei uns arbeiten nur sozialpädagogische Fachkräfte, Erzieherinnen und Erzieher, die vor Arbeitsantritt auch auf Herz und Nieren geprüft werden. Es darf – dafür steht das sogenannte „erweiterte Führungszeugnis“ – niemand mit den Kindern zusammenarbeiten, der vorher in irgendeiner Weise auffällig geworden ist. Alle unsere Fachkräfte wollen das Beste, aber die Arbeit mit jungen Menschen kann zu Überlastungssituationen führen, in denen auch die beste Erzieherin oder der beste Erzieher die Nerven verliert. Wichtig ist, dass wir Mechanismen haben, die in solchen Krisensituationen schnell greifen. Dass man die Überforderung selbst erkennt und mal schnell zum Durchatmen rausgeht. Dass man Kollegen hat, die die Überforderung bemerken und einen darauf hinweisen: „Reden wir mal darüber.“ Ein weiterer Schutzmechanismus ist dann ein Erwachsener, zu dem das Kind hingehen und sich ihm anvertrauen kann, und der sofort eingreift. Wir haben einen systematischen Qualitätsdialog, in dem unsere Einrichtungen alle zwei Jahre auditiert werden, in dem sich externe Fachkräfte alles anschauen, mit den Kindern sprechen, Rückmeldung geben. Wir arbeiten kontinuierlich daran, unsere pädagogische Qualität weiterzuentwickeln.
Sicher gibt es im Alltag mit Kindern auch Überlastung. Aber dass in Bayern Kinder mit der SOS-Kinderdorfmutter duschen mussten, ist keine Krisensituation.
Sie haben völlig recht. Das war keine Krisensituation. Da haben wir nicht gut genug hingesehen.
Wie ist denn das Gewaltspektrum bei den 160 Hinweisen?
Dazu möchte ich zu diesem Zeitpunkt nichts sagen, sondern erst den Bericht der Kommission abwarten, der für Sommer 2024 erwartet wird.
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Was ist seit den Bayern-Vorfällen konkret bei SOS-Kinderdorf passiert?
Wir haben den „Aktionsplan Kinderschutz“ ins Leben gerufen. Eine Stabsstelle Kinderschutz wurde direkt beim Vorstand angesiedelt – das Thema ist also Chef- und Chefinnensache. 35 der 39 Einrichtungen wurden bereits zusätzlich mit Fachleuten besetzt, die den Kinderschutz vor Ort kontinuierlich weiterentwickeln. Und dann wurde noch die bereits erwähnte unabhängige Kommission einberufen, die aus fünf Expertinnen und Experten besteht. Die verarbeiten die eingehenden Meldungen, recherchieren vor Ort in den Einrichtungen und haben jetzt den öffentlichen Aufruf gestartet, um noch weitere Menschen anzusprechen, die bei SOS-Kinderdorf Unrecht oder Gewalt erfahren haben und darüber berichten wollen.
Und was steht in Zukunft an?
Aus meiner Sicht ist ganz wichtig, einen vereinsweiten Dialog zu führen, einen hierarchiefreien Dialog. Dass sich Kolleginnen und Kollegen gegenseitig auf Fragen des Kinderschutzes aufmerksam machen können, ohne Angst vor Konsequenzen haben zu müssen. Dass wir aufmerksam sind und im Zweifelsfall den Mut haben, auch kritische Dinge anzusprechen. Dass wir alles aufarbeiten.
Gibt es bei Ihnen die Angst, dass nach dem Aufruf noch mehr ans Tageslicht kommt?
Nein. Ich bin für jeden Anruf, für jede Meldung dankbar. Ich bin dankbar, wenn Menschen mutig sind, sich ein Herz fassen und sich an uns wenden. Auch, weil das ein Zeichen ist, dass sie vielleicht irgendwann wieder bereit sind, uns zu vertrauen. Ich habe keine Vorstellung davon, was noch kommt. Aber jeder Mensch, der anruft und seine Geschichte erzählt, trägt damit zur Aufarbeitung bei. Und das ist wichtig für die Zukunft.
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Für Transparenz im Dialog: Professor Sabina Schutter ist Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf e. V. seit 2021. Sie steht für lückenlose Aufklärung der Gewalthinweise.
© Quelle: Andre Kirsch
Prof. Dr. Sabina Schutter ist Soziologin und Kindheitspädagogin, seit 2021 Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf e. V. und hat die Aufarbeitung von Hinweisen auf Gewalt in den Einrichtungen des Vereins mit angestoßen. Bis 2021 war sie Direktorin des Campus Mühldorf der Technischen Hochschule Rosenheim. Von 2005 bis 2010 war Schutter für den Bund alleinerziehender Mütter und Väter tätig. Schutter ist Autorin des jüngst erschienenen Buchs „Frauenrolle vorwärts. Wie Sie Familie, Job und Finanzen unter einen Hut bekommen“.
SOS-Kinderdorf hilft Kindern auf der ganzen Welt, ein sicheres und behütetes Leben zu führen. Die 1949 gegründete, nichtstaatliche, politisch und konfessionell unabhängige Organisation ist in 137 Ländern aktiv. 65.000 Kinder werden beherbergt. In Deutschland ist der SOS-Kinderdorf e. V. seit seiner Gründung 1955 zu einem bundesweit etablierten Jugendhilfeträger mit breitem Angebot gewachsen. Standorte gibt es in allen Bundesländern.