Soziologe im Interview: „Rational gesehen muss man kaum Angst haben“

Professor Dr. Martin Schröder von der Philipps-Universität Marburg.

Professor Dr. Martin Schröder von der Philipps-Universität Marburg.

Hannover. Die Zahl der gemeldeten Straftaten ist auf einem Tiefstand und trotzdem haben die Deutschen so viel Angst, Opfer zu werden, wie nie zuvor. Was ist der Unterschied zwischen gefühlter und tatsächlicher Sicherheit?

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Der Unterschied besteht darin, dass man rational gesehen kaum Angst haben muss. Geht man nach der Polizeilichen Kriminalstatistik, wird man circa alle 400 Jahre Opfer einer gefährlichen Körperverletzung, auf einen Einbruch muss man etwa 500 Jahre warten und um Opfer eines Raubes zu werden, sind es sogar fast 1500 Jahre. Stellt man eine Dunkelziffer in Rechnung und dass von vielen Vergehen mehr als eine Person betroffen ist, sind die Zahlen etwas höher. Aber selbst dann sind gerade die angstbesetzten Arten von Kriminalität so verschwindend gering, dass man rational gesehen keine Sorge haben muss. Um ermordet zu werden, müsste man statistisch gesehen etwa 100.000 Jahre warten. Der verrückteste Unterschied zwischen gefühlter und tatsächlicher Sicherheit ist, dass gerade diejenigen am wenigsten Angst vor Gewaltverbrechen haben, die am ehesten Opfer werden, nämlich junge Männer. Dahingegen haben Frauen und Ältere am meisten Angst, obwohl sie am seltensten Opfer werden.

Woran liegt es, dass Fakten und Gefühle so auseinanderdriften?

Kriminologen können zeigen, dass Verbrechensangst nicht aus der tatsächlichen Wahrscheinlichkeit erklärbar ist, mit der jemand Opfer wird, sondern sich durch einen Charakterzug erklärt, den sie „allgemeine Ängstlichkeit“ nennen. Menschen überschätzen den Anteil der Gewaltdelikte und glauben fälschlicherweise an einen Kriminalitätsanstieg trotz sinkender Fallzahlen, weil sich ihr Eindruck gar nicht aus den realen Verbrechensraten erklärt. Eine englische Untersuchung zeigt, dass nur 20 Prozent derer, die von erhöhter Kriminalität ausgehen, diesen Eindruck aus persönlicher Erfahrung gewonnen haben. Die Mehrheit hat den Eindruck aus dem Fernsehen oder Massenmedien. Statistisch gesehen geht die Sorge vor Verbrechen mit dem Konsum von Privatfernsehen stärker einher als mit realen Verbrechensraten.

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Es ist nicht nur Kriminalität, vor der sich die Menschen hierzulande fürchten. Auch Krisen, Krieg und Klimawandel verunsichern uns. Wovor haben die Deutschen besonders Angst?

Laut der R+V-Studie sind dies derzeit immer noch Flüchtlinge und der Zuzug von Ausländern sowie die politische Weltlage.

Inwieweit verunsichert der Fortschritt wie die Digitalisierung eine Gesellschaft?

Es ist zumindest nicht unter den Top 20 der größten Sorgen der Deutschen und ich denke, solange die Arbeitslosigkeit so niedrig ist, hat auch erst einmal kaum jemand Angst, seinen Job an einen Computer oder Roboter zu verlieren.

Ist zu viel Angst gefährlich für das Allgemeinwohl?

Zumindest ist es schädlich, wenn die Ängste nichts mit der Realität zu tun haben, wie man es heute vielfach beobachten kann. Aber man darf nicht vergessen, dass Angst auch Gutes bewirken kann. Hätte es nach 1945 nicht eine weitverbreitete Angst vor einem neuen Krieg gegeben, hätte es auch die europäische Einigung und die Vereinten Nationen nicht gegeben.

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Können Menschen ihr Sicherheitsgefühl selber beeinflussen?

Machen Sie sich klar, dass wir uns nicht nur unsicherer fühlen, wenn ein gefährliches Ereignis tatsächlich wahrscheinlicher ist, sondern vor allem, wenn wir uns leichter an etwas Gefährliches erinnern können. Dieser Fehler heißt recall bias: Wir halten etwas für umso wahrscheinlicher, je leichter wir uns daran erinnern. In meinem Buch zeige ich an vielen Beispielen, wie dieser recall bias durch den Konsum von Nachrichten in die Irre geführt wird. Weil Sie gestern eine Reportage über einen Krieg oder Terroranschlag irgendwo auf der Welt gesehen haben, halten Sie diesen heute für wahrscheinlicher. Sie fühlen sich unsicherer, obwohl Sie es nicht sind. Das heißt nicht, dass wir keine Nachrichten mehr gucken sollten. Doch wir sollten uns klarmachen, dass kein Journalist uns berichten wird, wie ein Flugzeug sicher gelandet ist. Das ist auch gut so. Wir erwarten von Journalisten, dass sie berichten, was wir nicht sowieso erwarten. Doch der daraus resultierende Fokus auf negative Einzelfälle in einer sicherer werdenden Welt bedeutet eben auch, dass wir von dem einen Flugzeugabsturz erfahren, aber nicht, dass Fliegen in den letzten 80 Jahren 2100-mal sicherer geworden ist. Sich klarzumachen, dass die Welt viel sicherer ist, als die Nachrichten vermitteln, ist sicher ein guter Schritt.

Sind Sie persönlich ein eher zuversichtlicher Mensch?

Nicht per se. Ich probiere, mich an die Daten zu halten. Es gibt ja beispielsweise keinen Grund zu vermuten, dass der Klimawandel einfach wieder verschwindet, wenn wir nichts tun. Aber Angst vor Terror oder Kriminalität habe ich tatsächlich nicht.

Martin Schröder (38) ist Professor für Soziologie an der Universität Marburg. Sein neues Buch „Warum es uns noch nie so gut ging und wir trotzdem ständig von Krisen reden“ beschäftigt sich mit Fakten gegen Fake News und Untergangsszenarien.

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