Zeugen Jehovas in Hamburg: „Das Schlimmste ist, dass wir noch nicht wissen, wen es getroffen hat“
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Einsatzkräfte der Polizei stehen am Abend vor dem Gebäude der Zeugen Jehovas im Stadtteil Alsterdorf.
© Quelle: Christian Charisius/dpa
Hamburg. Steht man vor dem grauen Steinquadrat in Hamburg-Alsterdorf, in dem sich am Donnerstag einer der schlimmsten Amokläufe der letzten Jahre abspielte, erscheinen die schrecklichen Bilder wie von selbst vor dem inneren Auge. Wie der Täter auf der Brachfläche an der rechten Gebäudeseite steht, die Glasscheibe zerschießt und durch das Fenster feuert. Die Schüsse sind auf den Handyvideos, die Anwohnerinnen und Anwohner vom gegenüberliegenden Gebäude aus gemacht haben, klar zu hören.
Sechs Menschen tötet Philipp F. am Donnerstagabend in einem Gemeindezentrum der Zeugen Jehovas, dazu ein ungeborenes Kind im Leib seiner Mutter im siebten Schwangerschaftsmonat. Die 33 Jahre alte Mutter wird schwer verletzt, ebenso acht weitere Menschen. Der Schütze flieht vor der Polizei ins obere Stockwerk und tötet sich selbst.
Medienauflauf in Hamburg
Am Morgen nach der Tat belagern unzählige Kamerateams, Fotografinnen und Fotografen, Journalisten und Journalistinnen den Tatort. Im Schneeregen richten sie ihre Objektive auf die Polizeikräfte, die hinter dem rot-weißen Absperrband stehen und den Eingang zum „Königreichssaal“ der Glaubensgemeinschaft bewachen. In der Medientraube hört man Französisch, Schwedisch, Englisch, Niederländisch. Hamburg ist an diesem Tag in der Weltöffentlichkeit – als Schauplatz einer Bluttat, die die Stadt noch lange beschäftigen wird.
Schreckliche Amokläufe gab es in jüngster Zeit in München am Olympia-Einkaufszentrum oder am Breitscheidplatz in Berlin. Die Hansestadt war bislang verschont geblieben. So sprach Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) auch vom „schlimmsten Verbrechen in der jüngeren Geschichte“ der Stadt. Von einer Tat, die man aus dem Fernsehen kenne, sich aber in Hamburg nicht vorstellen konnte.
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Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD) gab am Freitagmittag während einer Pressekonferenz Auskunft zum Amoklauf.
© Quelle: Christian Charisius/dpa
Auf einer Pressekonferenz am Freitagmittag gaben Grote und Polizeivertreter Auskunft über den Stand der Ermittlungen. Zu diesem Zeitpunkt, 15 Stunden nach der Tat, ist das Bild hinsichtlich des Ablaufs und zum Schützen noch unvollständig. Sicher ist, dass aufgrund eines Zufalls noch viel mehr Todesopfer verhindert werden konnten.
Mehr Todesopfer verhindert
Am Donnerstag um 21.04 Uhr, kurz nach dem Gottesdienst in Hamburg-Alsterdorf, gingen laut Grote bei der Polizei die ersten von 47 Notrufen an diesem Abend ein, auch aus dem Gebäude der Zeugen Jehovas. Bereits vier Minuten später, um 21.08 Uhr, seien erste Kräfte vor Ort gewesen, nur eine Minute später auch die Spezialeinheit Unterstützungsstreife für erschwerte Einsatzlagen (USE).
Es sei ein „glücklicher Zufall“ gewesen, dass die USE-Einsatzkräfte, die speziell für Amok- und Terrorlagen ausgebildet sind, in der Nähe waren, sagte der Leiter der Schutzpolizei. Philipp F. trug zwei Magazine mit jeweils 15 Schuss bei sich, weitere Munition befand sich in seinem Rucksack. Die Polizei findet später neun leer geschossene Magazine.
Von ihrem Balkon im obersten Stockwerk beobachtete eine Anwohnerin auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Angriff. Sie saß auf dem Sofa, als sie die Schüsse hörte, „in vier Abständen“. Dazu der letzte Schuss, mit dem sich der Täter selbst richtete, erzählt die Frau, während sie ihren Hund auf dem Arm trägt. Nach den Schüssen kam die Polizei, ein Helikopter kreiste, das Sprengstoffkommando rückte mit einem Lkw an.
Augenzeugenvideo zeigt Schützen bei Amoktat in Hamburg
Der Schütze tötete bei seinem Amoklauf in Hamburg acht Menschen. Die Ermittler identifizierten ihn als Philipp F., der sich nach der Tat selbst richtete.
© Quelle: Reuters
Umstrittene Glaubensgruppe
Ein anderer Bewohner erzählt, er sei im Auto von Polizisten mit Maschinengewehren angehalten worden und habe die Hände heben müssen. Eine Zeit lang sei unklar gewesen, ob noch mehr Täter unterwegs gewesen seien oder ob andere Standorte der Zeugen Jehovas bedroht seien, berichtet die Polizei später. Deshalb erreicht die Bürgerinnen und Bürger auch erst mehr als eine Stunde nach der Tat eine Meldung über die Warn-Apps.
Die Gemeindemitglieder der Zeugen Jehovas seien in der Umgebung nicht groß aufgefallen – immer sonntags um 10 Uhr gingen sie zum Gottesdienst, „schick angezogen“, sagt ein Nachbar, aber „bieder“, in dezenten Tönen, Grau, Weiß, Schwarz, darunter viele Familien. Als er hierhergezogen sei, habe er erst Anwerbeversuche befürchtet, Anschreiben im Briefkasten. So sei es aber nicht gekommen.
Die Zeugen Jehovas sind eine Glaubensgemeinschaft, die oft argwöhnisch betrachtet wird, deren Mitglieder an Türen klingeln und an Bahnhöfen auf Passantinnen und Passanten warten, um ihnen die Zeitschrift „Wachturm“ in die Hand zu drücken – über die sonst aber wenig bekannt ist. Ihre Gemeinde ist christlich geprägt, sie legen die Bibel besonders streng aus. Anhängerinnen und Anhänger glauben an Jehova als „allmächtigen Gott und Schöpfer“. Sie sind davon überzeugt, dass eine neue Welt bevorsteht und sie als auserwählte Gemeinde vor dem Untergang gerettet werden. 200.000 Mitglieder zählt ihre Community in Deutschland.
Extremistische Züge sind bislang nicht bekannt. Es ist jedoch immer wieder zu hören, dass Aussteigerinnen oder Aussteiger bedrängt werden und mit heftigen Konsequenzen leben müssen: dem Zusammenbruch des sozialen Umfelds, dem Abbruch des Kontakts zu Freundinnen, Freunden und Familienmitgliedern. Auch der Täter Philipp F. verließ die Glaubensgemeinschaft – ob aus freien Stücken oder auf Drängen der Gemeinde, ist nicht bekannt, sagte ein Vertreter der Polizei auf der Pressekonferenz.
Scholz „fassungslos“ nach Schüssen in Hamburg
Seine Gedanken seien bei den Opfern und ihren Angehörigen, sagte der Bundeskanzler am Rande einer Veranstaltung in München.
© Quelle: Reuters
Sportschütze und Autor
Bekannt ist, dass Philipp F. Sportschütze war, die Tatwaffe, eine Pistole des Herstellers Heckler & Koch, war seit Dezember 2022 auf ihn registriert. Im Internet, auf seiner Website und im Berufsnetzwerk Linkedin findet man weitere Informationen. So schrieb er ein Buch über „Gott und den Teufel“, zu kaufen bei Amazon. Darin soll das „Geheimnis des 1000-jährigen Reiches Christi“ gelüftet werden. Er preist es als Standardwerk und Pflichtlektüre.
F. wurde im bayerischen Memmingen geboren und wuchs nach eigenen Angaben in einem „strikt evangelischen“ Elternhaus auf. Er arbeitete bei der Deutschen Bank in Kempten, verdiente sein Geld im Finanzbereich als Berater und zog 2014 nach Hamburg. Zuletzt war er bei einem Energieversorger in Hamburg im Sommer 2022 für drei Monate beschäftigt. Danach machte er sich als Berater selbstständig – und forderte ein astronomisches Beraterhonorar von 250.000 Euro pro Tag, zuzüglich 19 Prozent Mehrwertsteuer.
Täter wurde von der Polizei kontrolliert
Hamburgs Polizeipräsident Ralf Martin Meyer teilte auf der Pressekonferenz außerdem mit, dass es zu F. im Vorfeld ein anonymes Hinweisschreiben gegeben habe mit der Bitte, die Erlaubnis für das Tragen einer Waffe bei Philipp F. zu überprüfen. Der Grund: Er könnte unter einer psychischen Erkrankung leiden, die aber nicht diagnostiziert wurde, weil sich Philipp F. nicht in Behandlung begeben wollte. Der 35-Jährige hege „eine besondere Wut“ gegen religiöse Menschen, besonders gegen die Zeugen Jehovas – und gegen seinen Arbeitgeber.
Am 7. Februar habe die Polizei Philipp F. unangekündigt aufgesucht und kontrolliert. Der Sportschütze sei kooperativ gewesen und habe die waffenrechtlichen Vorschriften, etwa die Aufbewahrung der Waffe im Tresor, erfüllt. Es habe „keine Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung“ gegeben.
Die Zeugen Jehovas selbst teilten mit, man sei „tief betroffen von der schrecklichen Amoktat“ auf einer Veranstaltung ihrer Gemeinschaft. „Unser tiefes Mitgefühl gilt den Familien der Opfer sowie den traumatisierten Augenzeugen“, hieß es in einem noch in der Nacht veröffentlichten Statement.
Betroffenheit und religiöse Deutung
Das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) hat mit zwei Mitgliedern aus Hamburg gesprochen, deren Reaktionen zeigen, warum das Bild der Gemeinschaft so widersprüchlich ist. Jutta R., 75, Mitglied seit 30 Jahren, lebt in ihrer Einzimmerwohnung im Norden der Stadt. Mindestens zweimal die Woche steht sie an einer U‑Bahn-Station, spricht Leute an und versucht, sie zum „Bibelstudium“ zu bringen, damit sie zu „wahren Anbetern von unserem Gott“ werden.
Donnerstagnacht wurde sie um ein Uhr aus dem Bett geklingelt und erfuhr so von der schrecklichen Tat. Sie habe sofort gebetet für ihre „Brüder und Schwestern“. Früher hat sie selbst regelmäßig den Gottesdienst in Hamburg-Alsterdorf besucht, seit einiger Zeit geht sie in einen anderen Stadtteil. Die Tat wertet sie als Zeichen, dass der „große Tag“ komme; „Harmagedon“, jener Tag, an dem Gott nach Ansicht der Zeugen Jehovas auf der Erde eingreifen soll. Die verstorbenen Gemeindemitglieder wurden „hinausgenommen“, so nennt R. es – „aber sie werden wiederkommen“.
Das Gemeindeleben rückt in den Fokus
Eine andere Frau, ähnliches Alter wie Jutta R., weiße Haare, ist Mitglied der betroffenen Gemeinde in Alsterdorf. Sie trägt noch einen Bademantel, ein zerknülltes Taschentuch in der Hand. Eigentlich wäre sie am Donnerstagabend selbst im Gemeindezentrum vor Ort gewesen, sagt sie. Doch weil sie sehr müde gewesen sei, habe sie dieses Mal nur über Zoom teilgenommen. Virtuell waren weitere 24 der insgesamt etwa 70 Gemeindemitglieder versammelt. Die tödlichen Schüsse fielen nach Ende der Sitzung; kurz danach erfuhr auch die Frau von der Tat und schrieb sofort Bekannten und ihrem Freundeskreis, dass es ihr gut gehe. „Das Schlimmste ist jetzt, dass wir noch nicht wissen, wen es getroffen hat.“
Sie seien eine junge Gemeinde mit einem guten Miteinander, erzählt sie, die meisten im Alter von Ende zwanzig bis Mitte dreißig. Den Schützen kenne sie nicht, sagt sie sichtlich angefasst. Ein religiöses Zeichen gar, wie es Jutta R. erkennen will, sei die Tat nicht. „Nein, das war eine Tragödie.“ Noch habe sie von ihrer Gemeinde nicht gehört, wie es weitergehen solle. „Alles, was ich weiß, ist, dass ich lebe.“
Das Motiv des Täters ist derzeit noch nicht bekannt. Konflikte innerhalb der Glaubensgemeinschaft werden bei den Ermittlungen aber nicht ausgeschlossen. Polizeipräsident Meyer sagte, es gebe Hinweise auf einen Streit „möglicherweise aus dem Bereich der Zeugen Jehovas“. Das sei derzeit Gegenstand der Ermittlungen.