27 Tote bei Unglück mit Flüchtlingsboot im Ärmelkanal - gefasster Schleuser kam aus Deutschland
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Beim Untergang eines Bootes mit Migranten auf dem Weg nach Großbritannien sind 31 Menschen gestorben.
© Quelle: Gareth Fuller/PA Wire/dpa
Calais. Nach dem Untergang eines Bootes mit Migranten auf dem Weg nach Großbritannien hat das französische Innenministerium die Zahl der Todesopfer auf 27 korrigiert. Eine Ministeriumssprecherin in Paris verwies am Donnerstagmorgen darauf, dass dies erst eine vorläufige Bilanz sei. Am Abend hatte Innenminister Gérald Darmanin noch eine Zahl von 31 Toten genannt. Wie viele Menschen insgesamt mit dem havarierten Boot im Ärmelkanal unterwegs waren, lasse sich abschließend noch nichts sagen, so die Sprecherin.
Unter den bei der Überfahrt nach Großbritannien tödlich verunglückten Migranten waren nach Angaben des französischen Innenministeriums Kinder und Schwangere. Zwei weitere Menschen, die sich auf dem Boot befanden, konnten gerettet werden, schwebten aber in Lebensgefahr. Noch am Abend wurden vier mutmaßlich beteiligte Schleuser festgenommen, ein fünfter dann in der Nacht, wie Darmanin sagte. „Das ist das größte Drama, was wir bisher erlebt haben.“ Auch Premierminister Jean Castex sprach von einer Tragödie, seine Gedanken seien bei den zahlreichen Opfern.
Die maritime Präfektur sprach ebenfalls von 27 Toten sowie zwei Überlebenden, die an Land gebracht worden seien. Die Nationalität der Toten werde noch geprüft. Zwei Überlebende aus dem Irak und Somalia würden wegen Unterkühlung behandelt. Neben dem Einsatz um das gekenterte Boot hätten Helfer sich im Laufe des Mittwochs um zahlreiche weitere Migranten gekümmert, die mit kleinen Booten ebenfalls in Seenot geraten waren. Mehr als 100 Gerettete seien in die französischen Häfen Boulogne-sur-Mer, Dunkerque und Calais gebracht worden.
Mutmaßlicher Schleuser kam aus Deutschland
Einer der festgenommenen mutmaßlichen Schleuser kam aus Deutschland. „Der Schleuser, den wir heute Nacht festgenommen haben, hatte deutsche Kennzeichen“, sagte Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin am Donnerstag im RTL-Fernsehen. „Er hat diese Schlauchboote in Deutschland gekauft.“ Generell stammten etliche der von Schleusern an der Kanalküste eingesetzten Boote aus der Bundesrepublik. „Die Schleuser kaufen diese Schlauchboote in Deutschland mit Bargeld.“
Erst vor einer Woche hatte die niederländische Polizei einen aus Deutschland kommenden mutmaßlichen Schleuser auf der Autobahn Richtung Frankreich gestoppt.
Darmanin sagte, hinter den Schleusungen stünden Kriminelle aus Deutschland, Großbritannien, den Niederlanden und Belgien. Der in der Nacht festgenommene Verdächtige habe Boote in Deutschland gekauft. Die Zusammenarbeit zwischen den Staaten müsse verbessert werden. Bitten Frankreichs um Informationen würden nicht immer vollständig beantwortet.
Darmanin kritisierte besonders Großbritannien, das es Migranten, die es einmal über den Ärmelkanal geschafft haben, zu leicht mache, im Land zu bleiben. Er legte nahe, britische Firmen ermunterten illegale Zuwanderung, weil sie Menschen einstellten, die illegal in Großbritannien lebten.
Britische Regierungsvertreter warfen Frankreich vor, Angebote für gemeinsame Patrouillen vor der französischen Küste ausgeschlagen zu haben. Das Unterhaus wollte am (heutigen) Donnerstag über die zunehmende Zahl von Migranten debattieren.
Macron will EU-Krisensitzung
Präsident Emmanuel Macron rief unterdessen zu einer Krisensitzung auf europäischem Niveau auf. Frankreich werde nicht zulassen, dass der Ärmelkanal sich in einen Friedhof verwandele und Schleuser Menschenleben in Gefahr brächten. Die Mittel der Grenzschutzagentur Frontex an den Außengrenzen der EU müssten unverzüglich erhöht werden. Gemeinsam mit Großbritannien, Belgien, den Niederlanden und Deutschland müsse verstärkt gegen kriminelle Schleusernetzwerke vorgegangen werden, verlangte Macron. Seit Jahresbeginn seien 1552 Schleuser an der französischen Küste gefasst worden.
Der britische Premierminister Boris Johnson sagte, er sei „schockiert, entsetzt und zutiefst betrübt“ nach dem Tod der Migranten, berichtete die Nachrichtenagentur PA. Als Reaktion berief er das nationale Sicherheitskabinett ein.
25.700 Menschen illegal über den Ärmelkanal
Wie die Maritime Präfektur mitteilte, setzte ein Fischerboot den Notruf ab, dass sich Migranten in Seenot im Ärmelkanal befänden. Mit drei Booten und Hubschraubern aus Frankreich und Großbritannien bemühten sich Helfer um eine Bergung, die Suche wurde dann am Abend abgebrochen. Sämtliche Opfer wurden nach Calais gebracht. Die Zeitung „La Voix du Nord“ berichtete von einer bleiernen Stille in dem von Sicherheitskräften abgesperrten Hafen, als die Toten in der Dunkelheit an Land gebracht wurden.
Im laufenden Jahr haben bisher mehr als 25.700 Menschen illegal den Ärmelkanal überquert. Das sind fast dreimal so viele wie im gesamten Jahr 2020. Die britische Regierung wirft Frankreich vor, nicht genug gegen illegale Überfahrten zu unternehmen, Paris weist das zurück.
Erst im Juli hatten beide Seiten ein neues Kooperationsabkommen vereinbart, um die wachsende Zahl der Migranten, die mit kleinen Booten über den Ärmelkanal nach England kommen, in den Griff zu bekommen. London sagte dabei 62,7 Millionen Euro zu, um die französischen Behörden zu unterstützen.
Wie englische und französische Politiker reagieren
Vor allem die britische Innenministerin Priti Patel steht wegen der wachsenden Zahl an Migranten unter Druck. Konservative Kreise und Medien sprechen von einer „Krise“. Allerdings ist die Zahl der Flüchtlinge, die in Großbritannien Asyl beantragen, deutlich niedriger als in anderen europäischen Ländern. Patel hatte angekündigt, die Überfahrten zu beenden. Nach dem Brexit führte die Regierung scharfe Zuwanderungsregeln ein. Noch aber hat Patel kein Mittel gefunden, die Migration über den Ärmelkanal zu stoppen. Zuletzt kündigte sie erneut eine Verschärfung der Asylregeln an.
Die konservative Abgeordnete Natalie Elphicke, die ihren Wahlkreis im Hafenort Dover hat, sprach von einer Tragödie. Der Fall zeige aber auch, dass die Schlauchboote gestoppt werden müssten, bevor sie in Frankreich zu Wasser gelassen werden, sagte Elphicke. Das Risiko, dass Menschen beim Versuch, nach Großbritannien überzusetzen, sterben, steige angesichts kalten Wetters und rauer See.
Der Vize-Präsident der Region Hauts-de-France, in der Calais liegt, beschuldigte am Abend Großbritannien. „Die Briten sind verantwortlich. Das ist nicht der Fehler Frankreichs, das ist nicht der Fehler von Europa“, sagte Franck Dhersin.
RND/dpa/AP