Afghanistan-Debakel: Experte wirft früherer Bundesregierung „Schönfärberei“ vor
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Abzug: Im vergangenen Sommer verließ die Bundeswehr Afghanistan.
© Quelle: Torsten Kraatz/Bundeswehr/dpa
Berlin. Vor der chaotischen Evakuierung aus Afghanistan hat die damalige Bundesregierung die Bedrohungslage nach Überzeugung des Landeskenners Thomas Ruttig vorsätzlich verharmlost. „Die politisch Verantwortlichen haben bewusste Schönfärberei betrieben“, sagte der Mitbegründer der Denkfabrik Afghanistan Analysts Network dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Es habe sich also „nicht um Fehleinschätzungen“ gehandelt.
An diesem Donnerstag kommt der Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestags zur nächsten Zeugenanhörung zusammen. Das Gremium befasst sich mit den letzten rund eineinhalb Jahren des gescheiterten internationalen Einsatzes. Die militant-islamistischen Taliban hatten nach dem Kollaps der vom Westen gestützten Regierung im August 2021 wieder die Macht in Kabul übernommen.
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Afghanistan-Experte Thomas Ruttig
© Quelle: Privat
Ruttig sagte, vorrangiges Ziel der zu positiven Lagedarstellung durch das Bundesinnenministerium und das Auswärtige Amt sei gewesen, abgelehnte Asylbewerber aus Deutschland weiterhin in das Kriegsgebiet abschieben zu können. „Hätte die Bundesregierung zugegeben, wie prekär die Sicherheitslage in ganz Afghanistan war, hätte sie das nicht mehr begründen können“, sagte der Experte. Erschwerend sei hinzugekommen, dass der Vormarsch der Taliban in den Beginn des Bundestagswahlkampfs fiel. Gemeinsam mit EU-Amtskollegen hatte der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) noch wenige Tage vor der erneuten Machtübernahme der Taliban in einem Brief an die EU-Kommission gefordert, bei der Regierung in Kabul Abschiebungen durchzusetzen.
„Für mich ist das Sabotage“
„Dieses Interesse hat alles andere überlagert. Die Bremse wurde erst gezogen, als die Taliban schon an Kabuls Stadtrand standen“, sagte Ruttig. „Das hat sich dann natürlich unter anderem auch auf die Evakuierung nicht nur der afghanischen Ortskräfte, sondern auch anderer afghanischer Verbündeter ausgewirkt, von denen viele hängengelassen wurden.“ Zusätzlich sei der Prozess der Evakuierungen durch die Personalpolitik des damaligen Außenministers Heiko Maas (SPD) behindert worden. Maas habe damals offenbar Beamte von Aufgaben bei der Evakuierung abgezogen. „Für mich ist das Sabotage“, kritisierte Ruttig.
Ruttig sagte, er erhoffe sich von dem Untersuchungsausschuss, „dass da tatsächlich aufgedeckt wird, warum die öffentliche Lageeinschätzung so falsch war. Für mich ist die Antwort klar. Aber ich möchte auch, dass die deutsche Öffentlichkeit das gesagt bekommt.“ Er sei aber skeptisch, „ob da wirklich viel herauskommt, weil ja Parteien sowohl aus der Opposition als vor allen Dingen auch die der Ampelkoalition schon Zeichen gesetzt haben, dass das Ergebnis eigentlich so aussehen soll, dass nicht alles umsonst war in Afghanistan“. Ein solches Resultat sei dann aber „nur der Zuckerguss auf die gesamte Schönfärberei“.
War der Einsatz umsonst?
Ruttig selbst zog eine verheerende Bilanz des fast 20-jährigen internationalen Engagements in Afghanistan. „Nach dem Zusammenbruch im August 2021 muss man letztendlich sagen, dass nichts erreicht worden ist, weil es nicht bewahrt werden konnte.“ Jetzt leide die gesamte Bevölkerung unter den Taliban, „manche sehr viel mehr, manche weniger. Auch die, die die Taliban unterstützen, leiden ja unter den Ergebnissen des Zusammenbruchs wie der humanitären Dauerkrise.“ Der Kampf ums tägliche Überleben sei sehr viel härter als in den Jahren zuvor. „Es wäre eine Augenwischerei, da jetzt noch irgendetwas Positives herauslesen zu wollen. Das wäre nur eine Selbstrechtfertigung und hätte mit einer realistischen Einschätzung nichts zu tun.“
Ruttig gehört zu den führenden internationalen Afghanistan-Kennern und befasst sich seit 1980 mit dem Land. Der Afghanistan-Untersuchungsausschuss will an diesem Donnerstag Vertreter des Auswärtigen Amtes anhören. Der Ausschuss hat im vergangenen Monat seine inhaltliche Arbeit aufgenommen. Die zwölf Abgeordneten befassen sich mit der Zeit zwischen dem 29. Februar 2020 und dem 30. September 2021. Das ist die Periode zwischen der Unterzeichnung des Doha-Abkommen zwischen den USA und den Taliban, das den Abzug der internationalen Truppen einleitete, und dem Ende des Bundestags-Mandats zur militärischen Evakuierung aus Afghanistan. Die Bundeswehr war Ende Juni 2021 nach fast 20 Jahren aus Afghanistan abgezogen.
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