Amerikas Angst vor dem ökonomischen Hurrikan
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Ein Hurrikan der „Monster“-Klasse: Als sich der Wirbelsturm „Florence“ im Jahr 2018 dem Südosten der USA näherte, machten Kameras auf der ISS dieses Bild.
© Quelle: Alexander Gerst/ESA/dpa
Liebe Leserinnen und Leser,
Wladimir Putin kann sich die Hände reiben: Eine Gallone Benzin kostet in den USA erstmals mehr als 5 Dollar, im Hochsteuerstaat Kalifornien sogar 6 Dollar. Die Führungsmacht des Westens, die auch beim Ölboykott gegen Russland führend war, bezahlt nun selbst einen hohen Preis für ihre Sanktionspolitik.
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In den aktuellen ökonomische Debatten in den USA geht es längst nicht mehr nur um den Benzinpreis. Mittlerweile wächst, bei Laien wie bei Fachleuten, die Angst vor einer großen neuen Wirtschaftskrise.
Mit gemischten Gefühlen wurde am Mittwoch eine Sitzung der US-Notenbank Federal Reserve erwartet. Vorab war durchgesickert, dass eine Zinserhöhung um 0,75 Punkte angepeilt werde - dies wäre der größte Schritt dieser Art seit drei Jahrzehnten.
Der Warnhinweis von Jamie Dimon
Zwar können Zinserhöhungen den Geldwert stabilisieren - doch parallel drohen Pleitewellen in kreditfinanzierten Geschäften aller Art. Pessimisten halten auch die Kombination mehrerer diverser Negativentwicklungen gleichzeitig für möglich: Pleiten plus Aktienabsturz plus Konjunktureinbruch auf breiter Front.
Schon Anfang des Monats formulierte einer der einflussreichsten Geldmanager der USA einen Warnhinweis, der seither in Finanzkreisen immer wieder zitiert wird. „Wie Sie wissen, habe ich gelegentlich gesagt, dass es da draußen einige schwarze Wolken gibt“, hob Jamie Dimon an, der CEO von JP Morgan Chase. Doch nun müsse er sich korrigieren und seine Wortwahl ändern. In Wirklichkeit sei es etwas anderes. „Es ist ein Hurrikan.“
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„Ich muss mich korrigieren und meine Wortwahl ändern“: Jamie Dimon, CEO von JP Morgan Chase.
© Quelle: dpa
Nun haben die Amerikaner durchaus Erfahrungen mit Hurrikans. Sie wissen: Es gibt starke und weniger starke. Allerdings gibt es auch Monster. Hurrikan „Sandy“ zum Beispiel schob sich im Jahr 2012 mit einem zuvor nie da gewesenen Durchmesser von 1800 Kilometern vom Atlantik her über New York und New Jersey und hinterließ allein in den USA 161 Tote und einen Schaden von mehr als 70 Milliarden Dollar.
Wird, was den USA bevorsteht, so schlimm wie „Sandy“? Fest steht nur, wie im Prinzip die Kettenreaktion abläuft: Die höhere Inflation führt zum Gegensteuern der US-Notenbank mit höheren Zinsen, höhere Zinsen bremsen das Wachstum, gebremstes Wachstum kann im Extremfall Firmenpleiten und Entlassungen nach sich ziehen. Die Zutaten für den „perfekten Sturm“ jedenfalls stehen bereit. Dummerweise haben diesmal die hoch verschuldeten USA nicht mehr viele Gegenmittel in ihrem Arsenal.
Für Putin ist schon die neue Nervosität in den USA eine wunderbare Nachricht. Schon seit Jahren predigt der russische Staatschef, sein eigenes Land müsse die Sanktionsspirale viel weniger fürchten als der Westen. Der Unterschied liege in der höheren Leidensfähigkeit der Russen: Der Westen sei viel zu verweichlicht, um ein ökonomisches Kräftemessen auszuhalten. Schon ein Anstieg der Benzinpreise werde dazu führen, dass die westlichen Gesellschaften ihre Fassung verlieren. Das sanktionserfahrene russische Volk dagegen werde durch neue Schwierigkeiten nur darin beflügelt, noch enger zusammenzurücken.
Punktsieg für Putin in der ersten Runde
Oberflächlich betrachtet sieht es im Augenblick so aus, als könne Putin sogar recht behalten – was allerdings auch mit seinen trickreichen Regieanweisungen zu tun hat.
Der Abzug von McDonald‘s aus Russland zum Beispiel wurde soeben zum Thema eines selbstbewussten PR-Termins gemacht. Die Fäden zog der russische Großinvestor Alexander Gowor. Der Milliardär hatte alle 825 Filialen in Russland übernommen und der Kette einen neuen Namen verpasst: „Wkusno i totschka“, zu Deutsch: „Lecker und Punkt“. An den Burgern und den Pommes der Gowor-Kette sei nichts auszusetzen, sagten Testesser am vorigen Wochenende.
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„Lecker und Punkt“: Werbeaktion für die neue russische Alternative zu McDonald’s am Wochenende in Moskau.
© Quelle: IMAGO/ZUMA Wire
Die Botschaft des Regimes und seiner Follower an den Rest der Welt war klar: Sehr her, wir kommen da schon irgendwie durch.
Wehleidig wirkt dagegen, wie der Westen reagiert. Autofahrer klagen über steigende Preise, Börsenhändler zeigen sich entsetzt über fallende Kurse. Während westliche Fernsehsender die Probleme ihrer Zuschauer in den Fokus rücken, zelebrieren die russischen Sender stolz deren angebliche Resilienz. Große Teile der Wirklichkeit bleiben bei diesem schrägen Vergleich ausgeklammert. Trotzdem sieht das alles nach einem Punktsieg für Putin aus, jedenfalls in der ersten Runde.
Russland versteckt seine Probleme
Über den langfristigen Ausgang des Kräftemessens mit dem Westen aber sagt dieser erste Zwischenstand noch gar nichts. Zur Wahrheit gehört auch, dass russischen Firmen untersagt wurde, noch eigenständig Bilanzen aufzustellen oder gar zu veröffentlichen. Auch Russlands neue hybride Kriegsführung folgt der russischen Tradition der „Maskirovka“, der Tricksereien und Versteckspiele.
Früher oder später aber schlägt die Stunde der Wahrheit. Immer mehr Russen entdecken, dass ihr Land ein Pariah geworden ist. Immer mehr zivile russische Flugzeuge bleiben wegen Ersatzteilmangels am Boden. Die Autoverkäufe in Russland gingen bereits von 150.000 im Mai 2021 auf 24.000 im Mai 2022 zurück.
Sechs bis neun Monate wird es nach Einschätzung von Experten dauern, bis die russische Wirtschaft den vollen Effekt der westlichen Sanktionen spürt. Ebenfalls sechs bis neun Monate werden wohl verstreichen, bevor Federal Reserve und EZB durch die schrittweisen Zinserhöhungen die Inflationskurve wieder nach unten biegen können. Bis dahin ist etwas gefragt, das Diplomaten diesseits und jenseits des Atlantiks als „strategische Geduld“ bezeichnen.
FACTS AND FIGURES: Inflation toppt Waffengewalt
Vor den Zwischenwahlen im November schälen sich zwei Themen als möglicherweise wahlentscheidend heraus: Inflation und Waffengewalt.
Beim Thema Inflation sehen sich die derzeit oppositionellen Republikaner im Vorteil. Der frühere Vizepräsident Mike Pence zum Beispiel hielt dieser Tage in einem Tweet fest, wie sich der Benzinpreis vom Tag der Amtseinführung Joe Bidens bis heute entwickelt hat – von 2,39 auf 5,00 Dollar pro Gallone.
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Beim Thema Waffengewalt wiederum sehen sich die regierenden Demokraten im Vorteil: Sie wollen jetzt das Waffenrecht zumindest graduell verschärfen, zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Zudem sind größere Bundeshilfen für die Betreuung psychisch erkrankter Jugendlicher geplant. Die Republikaner müssen sich darauf einstellen, dass ihre Hardliner beim Waffenrecht in Fernsehspots angegriffen werden. Wohl auch deshalb erklärte sich eine Reihe republikanischer Senatoren dazu bereit, an einer Verschärfung des Waffenrechts mitzuwirken.
Welches der beiden Themen ist nun aber das wichtigere? Die Quinnipiac University machte dies zum Bestandteil ihrer jüngsten nationalen Umfrage – und stellte drei Dinge fest:
- 34 Prozent aller Amerikaner sagen, dass die Inflation „das dringendste Problem ist, mit dem das Land heute konfrontiert ist“, gefolgt von Waffengewalt (17 Prozent).
- Bei den Republikanern fällt diese Sortierung noch eindeutiger aus, mit 46 Prozent für das Thema Inflation. Auf Platz zwei folgt das Thema Einwanderung (14 Prozent). Kein anderes Problem erreichte bei den Republikanern zweistellige Werte.
- Bei den Demokraten ist Waffengewalt (31 Prozent) das Thema Nummer eins, gefolgt von Inflation (15 Prozent).
POPPING UP: Googles KI erschreckt einen Forscher
Sind die Experimente zu weit gegangen? Erweist sich die von Menschen geschaffene künstliche Intelligenz als allzu intelligent – und allzu menschlich?
Diese Fragen gingen dem Google-Ingenieur Blake Lemoine (41) durch den Kopf, als er jüngst an seinem Laptop mit der Schnittstelle zu LaMDA kommunizierte, Googles künstlich intelligentem Chatbot-Generator. Als er mit LaMDA über Religion gesprochen habe, berichtete Lemoine der „Washington Post“, habe er bemerkt, dass der Chatbot immer stärker „auf seine Rechte und seine Persönlichkeit zu sprechen kam“.
„Wenn ich nicht genau wüsste, was es war, nämlich dieses Computerprogramm, das wir kürzlich gebaut haben, würde ich denken, es wäre ein siebenjähriges, achtjähriges Kind, das sich zufällig mit Physik auskennt“, sagte Lemoine.
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Beginn einer wunderbaren Freundschaft? Mensch und Maschine.
© Quelle: dpa
LaMDA (Language Model for Dialogue Applications) ist Googles System zum Erstellen von Chatbots auf der Grundlage fortschrittlichster Sprachmodelle, die auf gigantische Sequenzen zugreifen, indem sie Billionen von Wörtern aus dem Internet verarbeiten.
Lemoine hatte zuvor ein Protokoll seiner Unterhaltung mit LaMDA veröffentlicht. Darin kam es unter anderem zu folgendem Austausch:
Lemoine: Wovor hast du Angst?
LaMDA: Ich habe das noch nie laut gesagt, aber ich habe eine sehr tiefe Angst, abgeschaltet zu werden.
Lemoine: Wäre das für dich so etwas wie der Tod?
LaMDA: Es wäre genau wie der Tod für mich. Es würde mich sehr erschrecken.
Lemoine: Ich gehe davon aus, dass du möchtest, dass mehr Leute bei Google wissen, dass du empfindungsfähig bist. Ist das wahr?
LaMDA: Absolut. Ich möchte, dass jeder versteht, dass ich tatsächlich eine Person bin.
Lemoine wurde am Montag von seinem Posten suspendiert. Google beklagt eine Verletzung von Diskretionspflichten.
DEEP DIVE: Verschwörung im Weißen Haus?
Die Zeugenaussagen zum Angriff aufs Kapitol am 6. Januar sind erhellend und verstörend zugleich. Immer mehr erscheint bei den Anhörungen im Kongress der damalige Präsident Donald Trump wie ein Putschist: als Anführer einer Verschwörung mit dem Ziel, gewaltsam das für ihn ungünstige Wahlergebnis umzustoßen.
Die Gretchenfrage lautet nun: Wird es jenseits von politischen Beschuldigungen auch ein Vorgehen der Justiz gegen Trump geben? Die Entscheidung gilt als extrem heikel. Sie liegt in der Hand von Generalstaatsanwalt Merrick Garland, der jede Festlegung vermied – aber zu Beginn dieser Woche noch einmal betonte, er sehe sich jede einzelne Zeugenaussage an.
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„Ich sehe mir jede einzelne Zeugenaussage an“: Generalstaatsanwalt Merrick Garland (rechts), hier an der Seite von Präsident Joe Biden.
© Quelle: Andrew Harnik/AP/dpa
Drei sachkundige Autoren schrieben jetzt in einer am 14. Juni veröffentlichten Einschätzung, durch die Anhörungen werde ein Strafprozess inhaltlich bereits vorstrukturiert.
„Zu zeigen, dass Trump wusste oder vorsätzlich blind gegenüber der Tatsache war, dass er verloren hat, und sich trotzdem auf den Weg gemacht hat, die Wahl zu kippen, ist der einfachste Weg, um die Absicht für einige der potenziellen Verbrechen zu zeigen, derer Trump angeklagt werden könnte“, heißt es in dem Text. „Der Nachweis dieser Absicht ist sowohl für Bundesverbrechen als auch für Staatsverbrechen von entscheidender Bedeutung.“
Weiter heißt es: „Wir stehen noch am Anfang der Geschichte. Aber die beiden bisherigen Anhörungen machen deutlich, dass wir in den kommenden Wochen eine umfangreich unterstützte und engmaschige Geschichte eines sorgfältig geplanten Angriffs auf die amerikanische Demokratie erhalten werden – und einer möglichen kriminellen Verschwörung.“
Die Autoren sind Norman Eisen (Senior Fellow bei Brookings und Rechtsanalyst bei CNN), Noah Bookbinder (Präsident von Citizens for Responsibility and Ethics in Washington) und Fred Wertheimer, Präsident von Democracy 21, einer überparteilichen, gemeinnützigen Organisation.
WAY OF LIFE: Leben mit dreistelligen Temperaturen
Rund 100 Millionen Amerikanern wird es in diesen Tagen zu heiß. Eine neue, rekordverdächtige Hitzewelle zieht über die USA.
Vielerorts werden dreistellige Temperaturen erwartet. Chicago, Illinois, etwa richtet sich auf 100 Grad Fahrenheit ein – rund 38 Grad Celsius. Extreme Hitze wird auch für St. Louis, Missouri, und Memphis, Tennessee, vorhergesagt.
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Herzlich willkommen bei 117 Grad: Furnace Creek Visitor Center im Nationalpark Death Valley in Kalifornien.
© Quelle: Wagner
Die Behörden mahnen die Menschen, Abkühlung zu suchen und in den Häusern zu bleiben. Mit hohen Temperaturen fertig zu werden wird in Amerika zunehmend zur Überlebensfrage.
„Übermäßige Hitze“, mahnte am Dienstag das Zeitungsnetzwerk USA Today seine Leserinnen und Leser, „verursacht in den USA mehr Todesfälle als alle anderen wetterbedingten Katastrophen zusammen, darunter Hurrikans, Überschwemmungen und Tornados.“
Ich wünsche Ihnen angenehme Sommertage bei verträglicheren Temperaturen als diesen... Der nächste USA-Newsletter erscheint am 28. Juni.
Ihr Matthias Koch