Angriffe im Exil: Erdogans langer Arm und die geballte Faust

Türkische Journalisten und Oppositionelle bangen um ihr Leben: Auch im Exil sind sie vor der Wut des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nicht gefeit. Dazu gehören auch Can Dündar (links) und Erk Acacer (Mitte). Letzterer wurde kürzlich krankenhausreif geprügelt - zur Warnung. Pressefreiheit ist in der Türkei schon längst nur noch Illusion.

Türkische Journalisten und Oppositionelle bangen um ihr Leben: Auch im Exil sind sie vor der Wut des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nicht gefeit. Dazu gehören auch Can Dündar (links) und Erk Acacer (Mitte). Letzterer wurde kürzlich krankenhausreif geprügelt - zur Warnung. Pressefreiheit ist in der Türkei schon längst nur noch Illusion.

Berlin. Wer Erk Acarer interviewen will, muss zunächst an zwei Polizisten vorbei. Seitdem er am 7. Juli von Unbekannten angegriffen wurde, steht rund um die Uhr ein Streifenwagen vor dem Wohnhaus des türkischen Exiljournalisten im Süden Berlins. Drei Männer attackierten Acarer, schlugen ihn blutig. Ein Einschüchterungsversuch, der in Deutschland und darüber hinaus für Aufsehen sorgte.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Wenige Wochen später sitzt Acarer erneut dort, wo die unbekannten Männer auf ihn einprügelten, an einem Tisch in seinem gepflegten Hinterhofgarten. Die langen dunkelbraunen Haare hat der 49-Jährige zu einem Zopf zurückgebunden. Die Blessuren in seinem Gesicht sind nicht mehr zu sehen. Er erzählt, was ihm widerfahren ist.

„Ich habe mich gerade auf meine Fernsehsendung am nächsten Tag vorbereitet“, erinnert sich Acarer. Er arbeitet für den türkischen Exilsender „Artı TV“ in Köln – eine Stimme des freien Journalismus in der beinahe vollständig gleichgeschalteten Medienlandschaft der Türkei.

„Hör auf zu schreiben!“

„Drei Männer kamen in den Hof.“ Zielstrebig seien sie auf ihn und seine Frau zugelaufen. „Einer von ihnen sagte auf Türkisch: ‚Hör auf zu schreiben!‘“ Zwei der Männer schlugen dann auf ihn ein, der dritte stand Schmiere. „Ich habe nur den ersten Schlag richtig mitbekommen“, sagt Acarer dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Aber meine Frau hat mir später erzählt, dass mich viel mehr Schläge getroffen haben. Wir haben beide laut um Hilfe geschrien.“

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Als die Männer flüchteten, habe er noch eine Colaflasche nach einem von ihnen geworfen, sei ihnen auf die Straße hinterhergerannt. „Ich habe laut geschrien und gehofft, dass jemand sie mit dem Smartphone filmt. Das war wohl der Journalistenreflex.“ Doch die Männer konnten unerkannt entkommen, bevor die Polizei kurz später eintraf.

Bärtig, schwarze Haare, etwa 30 Jahre alt und sportlich. So beschreibt Acarer die Angreifer. „Sie wirkten professionell.“ Der Journalist geht nicht davon aus, dass sie in seiner Nachbarschaft wohnen, seine Adresse zufällig herausgefunden haben. Acarer ist vielmehr überzeugt, dass die Männer durch den türkischen Geheimdienst beauftragt wurden. Denn in der Türkei gilt er als Staatsfeind.

Exil statt Anklagebank

Erk Acarer arbeitete dort zwei Jahrzehnte lang als Reporter für oppositionelle Zeitungen. Bevor er mit seiner Familie nach Deutschland floh, berichtete er für die linke Zeitung „BirGün“ über Vorwürfe, die türkische Regierung habe Chemikalien, die zur Herstellung des Giftgases Sarin verwendet werden, an syrische Dschihadisten geliefert.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Acarer wurde deshalb wegen Verleumdung angeklagt – ohne die Aussicht auf ein rechtsstaatliches Verfahren. „Schon vorher habe ich Zuhause und in der Redaktion stets mit gepackten Koffern darauf gewartet, dass sie mich abholen“ sagt er. Nach der Anklage beschloss er 2017, die Türkei zu verlassen.

In Berlin fühlte er sich sicher und frei. Das Damoklesschwert einer langen Haftstrafe schwebte nicht länger über ihm. Sein Motto: Im Exil erst recht kein Blatt vor den Mund nehmen.

Doch wie sicher ist dieses Exil? Der Angriff auf Erk Acarer ist kein Einzelfall, und nicht nur in Deutschland sorgen sich türkische Oppositionelle vor dem Einfluss der Regierung Recep Tayyip Erdoğans. Einen Neffen des Erdoğan-Erzfeindes Fethullah Gülen verschleppte der türkische Geheimdienst MIT im Mai dieses Jahrs aus Kenia, auch im zentralasiatischen Kirgistan ließ die türkische Regierung einen Gülen-Anhänger entführen.

Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärte anschließend, sein Geheimdienst habe bereits mehr als 100 vermeintliche Anhänger der Gülen-Bewegung, die er für den gescheiterten Putschversuch im Jahr 2016 verantwortlich macht, aus dem Ausland in die Türkei gebracht.

Angriff in Wales, Entführungen in Kenia und Kirgistan

Auch in Europa geraten Kritiker Erdoğans zunehmend unter Druck. In der walisischen Hauptstadt Cardiff ereignete sich Ende Juli ein Vorfall, der stark an den Angriff auf Erk Acarer erinnert. Der im dortigen Exil lebende Schriftsteller Gökhan Yavuzel wurde nach eigenen Angaben in einem Park nahe seiner Wohnung von mehreren Männern attackiert. Sie bedrohten ihn, wie Acarer trug er Verletzungen im Gesicht davon. Die Polizei der Region Südwales bestätigte auf RND-Anfrage, dass sie in dem Fall ermittelt.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Die Art des Angriffs und die Verletzungen sind nicht die einzigen Parallelen: Die Namen beider Männer finden sich auf einer „Hinrichtungsliste“. Mehrere solcher Listen kursieren seit einigen Wochen in den Sozialen Medien. Eine ganze Reihe türkischer Oppositioneller und Exiljournalisten wie der in Berlin lebende Can Dündar werden auf ihnen als Angriffsziele markiert.

Die „Hinrichtungslisten“

Die Liste mit Acarers und Yavuzels Namen wurde auf der Social-Media-Plattform Instagram verbreitet, von einem Nutzer der sich „Jitemkurt“ nennt und sein Profil mit einem grauen Wolf und zwei türkischen Flaggen schmückt. Der graue Wolf – ein Symbol türkischer Rechtsextremer. Die Partei dieser ultranationalistischen Bewegung, die MHP, bildet in Ankara gemeinsam mit Erdoğans AKP die Regierungskoalition. Mehr noch als das Wolfssymbol sorgt jedoch der Name „Jitem“ vor allem bei Kurdinnen und Kurden für Schrecken.

Unter diesem Namen wurde ein informeller und lange geheim gehaltener Geheimdienst der türkischen Gendarmerie bekannt, der seit den 1980er Jahren vor allem im Kampf gegen die PKK eingesetzt wurde. Ein Kernstück des „Tiefen Staats“ – der Verbindung ultranationalistischer Kreise in Militär und Regierung mit dem organisierten Verbrechen. Türkische Menschenrechtler schätzten 2009, dass „Jitem“ seit 1989 an rund 5000 nicht aufgeklärten Morden an politischen Aktivisten, Menschenrechtlern, Journalisten und Intellektuellen beteiligt war und darüber hinaus etwa 1500 Menschen „verschwinden“ ließ.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Behörden nehmen Hinrichtungslisten offenbar ernst

Die deutschen Sicherheitsbehörden nehmen die nun bekannt gewordenen „Hinrichtungslisten“ offenbar ernst: Der Staatsschutz der Kölner Polizei warnte mehrere Betroffene in sogenannten Gefährdetenansprachen, darunter Celal Başlangıç, den Chefredakteur des Senders „Artı TV“, für den auch Erk Acarer arbeitet.

Auch die Berliner Polizei informierte mehrere Personen, dass sie auf solchen Listen stehen und bot ihnen Sicherheitsgespräche durch das Landeskriminalamt an, wie die Behörde auf Anfrage des RND mitteilte. Das Bundesinnenministerium befasst sich ebenfalls mit den Listen, wie es kürzlich in einer Antwort auf eine schriftliche Anfrage der Linken-Abgeordneten Helin Evrim Sommer erklärte.

Morddrohungen gegen Bundestagsabgeordnete und Aktivisten

Derartige Bedrohungen treffen nicht nur türkische Oppositionelle, die in den letzten Jahren den Weg ins Exil gesucht haben. Auch deutsch-türkische und -kurdische Aktivistinnen und Aktivisten und Bundestagsabgeordnete sind betroffen.

Etwa die Mannheimer Linken-Parlamentarierin Gökay Akbulut. Die in der Türkei geborene Politikerin mit kurdisch-alevitischem Hintergrund erhält seit mehreren Jahren wiederholt Morddrohungen. An Infoständen ihrer Partei werde sie beschimpft, in den Sozialen Medien regelmäßig als Terroristin und Staatsfeindin verunglimpft.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Seit dem vergangenen Jahr erhielt Akbulut mehrere Morddrohungen auf Instagram. Mit Fotos von Pistolen, Sturmgewehren oder einer Hand voll Munition versehen – und Nachrichten wie „der Tod wird dich finden“. Auch der Absender mehrerer solcher Nachrichten, die dem RND vorliegen, benannte sich nach dem geheimen Mordkommando „Jitem“. Auch mehrere Wissenschaftler und Aktivisten erhielten derartige Drohungen – mit brutalen Leichenfotos versehen.

Sie schrieben mir: ‚Wir wissen, wo du bist, wir haben unsere Leute in Mannheim’.

Gökay Akbulut,

Bundestagsabgeordnete der Linken

„Anfangs habe ich das nicht ernst genommen“, sagt Akbulut. Die Drohungen seien jedoch immer konkreter geworden. „Sie schrieben mir: ‚Wir wissen, wo du bist, wir haben unsere Leute in Mannheim‘.“ Akbulut brachte die Bedrohungen 2020 zur Anzeige. Die Berliner Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen jedoch nach zwei Monaten ein, weil keine Täter ermittelt werden konnten. Nur so viel ist klar: Die Drohungen wurden von einer türkischen IP-Adresse verschickt.

„Alle Oppositionellen, die sich kritisch zur türkischen Regierung äußern, werden zur Zielscheibe gemacht“, sagt Gökay Akbulut. „Es geht um Einschüchterung. Man hat alle oppositionellen Kräfte in der Türkei mehr oder weniger lahmgelegt.“ Die türkische Regierung versuche nun auch in Deutschland und Europa mit allen Mitteln diejenigen stummzuschalten, die sich solidarisch zeigten.

Wann trifft es den nächsten?

So wie Erk Acarer geht auch die Bundestagsabgeordnete davon aus, dass der türkische Geheimdienst MIT an den Bedrohungen und Einschüchterungsversuchen beteiligt ist. Dass der MIT in Deutschland aktiv ist, ist kein Geheimnis. „Deutschland bleibt für türkische Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden weiterhin eines der vorrangigen Ausforschungsziele außerhalb der Türkei“, heißt es im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Wie gefährlich dieser Geheimdienst sei, zeigten die Morde von Paris, sagt Akbulut. Sie spricht von der Ermordung dreier PKK-Aktivistinnen in der französischen Hauptstadt im Januar 2013. Der mutmaßliche Todesschütze Ömer Güney war ein V-Mann des türkischen Geheimdienstes und hatte zuvor eine Pariser PKK-Gruppierung infiltriert. Französische Ermittler gehen davon aus, dass Güney den Dreifachmord gemeinsam mit Agenten des MIT geplant hatte.

„Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es den nächsten trifft“, fürchtet die Abgeordnete Akbulut. Sie sieht deshalb die Bundesregierung in der Pflicht, „für einen besseren Schutz vor türkischen Nationalisten und dem türkischen Staat“ zu sorgen.

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken