Anja Reschke: „Demokratie ist nichts, was uns per Lieferdienst gebracht wird“

Anja Reschke

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Frau Reschke, warum ist Wählen so wichtig?

Der Wahltag ist der Tag, an dem das demokratische Verfahren bei den Bürgern landet und sie sich am direktesten an der Ausrichtung der Politik und damit auch der Zukunft beteiligen können. Man darf nicht unterschätzen, dass das etwas Besonderes ist, was es in vielen anderen Ländern eben nicht gibt. Ich finde es schade, wenn Menschen dieses Recht auf Mitbestimmung mit Füßen treten und es nicht wahrnehmen. Es ist nicht selbstverständlich, dass Bürger frei und im Geheimen, ehrlich mitbestimmen können, wie ihr Land regiert werden soll.

Inwiefern nehmen Sie Wählen als Ihre persönliche Verantwortung wahr?

Wählen ist für mich ein Privileg. Ich empfinde es als besonderes Privileg, in einem Land zu wohnen, in dem ich mitbestimmen darf und nicht ein Herrscher über mich entscheidet und ich nur ein Kreuz machen muss, um dessen Macht zu bestätigen.

Können Sie sich an Ihre erste Wahl erinnern?

Meine erste Wahl hat sich bei mir überraschenderweise nicht so sehr eingeprägt, obwohl es die erste gesamtdeutsche Wahl nach der Wiedervereinigung war. Ich fand es aufregend, mal hinter die Wahlkabine zu gehen, aber habe es trotzdem nicht als großen Tag in Erinnerung. Schade eigentlich.

Warum nicht?

Ich kann nicht für meine ganze Generation sprechen, aber ich war sehr viel unpolitischer als die Jugendlichen heute. Meinem Eindruck nach waren viele in meiner Generation, die ihr Abitur Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre gemacht haben, nicht so politisch. Das mag auch daran liegen, dass ich im Süden von Deutschland aufgewachsen bin, nicht in Berlin und Bonn. Weder in der Schule noch unter meinen Freunden war Politik ein großes Thema. Über den Wahltag haben wir uns vorher nicht lange unterhalten.

Obwohl Sie nicht politisch waren, wussten Sie, dass Sie wählen sollten. Woher?

Da hat mich mein Elternhaus geprägt. Ich bin als Kind mit meinen Eltern immer zu allen Wahlen mitgegangen – wie so eine Art Sonntagsausflug. Wir spazierten zum Wahllokal in der Grundschule, dann mussten die Kinder vor der Tür warten und die Eltern verschwanden hinter den nicht besonders attraktiven Pappwänden. Dass man zur Wahl geht, war mit der Muttermilch eingesogen. Nicht zu wählen war und ist keine Option.

Wie haben Sie sich damals über Politik und die Wahl informiert? Im Schulunterricht?

Ich war noch in der Schule, als die Mauer fiel. Aber irgendwie kann ich mich nicht erinnern, dass das großartig besprochen wurde. Wir haben in Gemeinschaftskunde, so hieß das bei uns, zwar auswendig gelernt, wie unser politisches System funktioniert, aber die Theorie wurde nicht mit Leben gefüllt. Eine Vorbereitung der Wahl hat also nicht wirklich stattgefunden. Und dazu darf man nicht vergessen: Wir hatten kein Internet. Wir haben Wahlplakate gesehen, zugehört, was Erwachsene sagen, und gelegentlich die Tagesschau geguckt. So haben sich viele Jugendliche früher ihre politische Meinung gebildet. An große politische Diskussionen im Freundeskreis kann ich mich nicht erinnern. Ich habe beim ersten Mal die Partei gewählt, die meine Eltern gewählt haben.

Ich war eher in so einem politischen Desinteresse-Tal.

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Einige Parteien plädieren für die Herabsetzung des Wahlalters. Hätten Sie sich zugetraut mit 16 Jahren zu wählen?

Ich persönlich nicht. Von meinen kognitiven Fähigkeiten her hätte ich früher wählen können, aber das hätte eine bessere Begleitung gebraucht. Der Jugend von heute traue ich das zu.

Welche Veränderung sehen Sie zwischen Ihrer Generation und den Jugendlichen heute?

Veränderungen finden nicht linear, sondern in Wellenbewegungen statt. Ich bin eher „Generation Golf”, wie in dem Buch von Florian Illies beschrieben wird. Politik spielte keine große Rolle, die großen Felder, sich zu engagieren, waren irgendwie abgeräumt. Vor uns waren die Ökos, die Atomkraftgegner, die Linken, die Feministinnen, die Friedensbewegten. Da war nicht mehr viel übrig. Nach uns kamen die, die sich gegen den Golfkrieg engagierten oder jetzt für die Klimaschutzbewegung. Ich war eher in so einem politischen Desinteresse-Tal.

Wie ist das heute?

Schaut man sich die Welt von heute an, in der viel mehr Informationen auf uns einprasseln, werden Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene viel stärker mit Politik konfrontiert. Nachrichten und Informationen drängen sich permanent in unser Leben. Vor 30 Jahren mussten wir uns aktiv mit dem Weltgeschehen auseinandersetzen. Wir mussten aktiv Zeitung lesen, das Radio oder den Fernseher anschalten.

Kommen wir zu den heutigen Erst- und Jungwählern: Manche haben den Eindruck, dass ihre Stimme nicht zählt. Kennen Sie dieses Gefühl?

Ich hatte das Gefühl noch nie. Wenn das alle denken würden, würde keiner wählen. Jede Stimme bringt etwas: Das Wahlergebnis ist die Summe der vielen. Wenn nur die Hälfte der Menschen zur Wahl geht, dann bestimmt eine Hälfte über die andere.

Die Masse an Informationen und Plattformen ist gefühlt unendlich. Was würden Sie Erstwählerinnen und -wählern raten, die sich dadurch überfordert fühlen?

Ein geordnetes Angebot können Erstwähler schon jetzt bei diversen Medien finden, wenn sie danach suchen. Trotzdem werden sie nicht umhinkommen, verschiedene Inhalte zu vergleichen. Das bedeutet Arbeit, da gibt es keine einfache Lösung. Erstwähler, eigentlich überhaupt alle Wähler, müssen sich verschiedene Quellen angucken, vergleichen und sich dann eine Meinung bilden. Wenn mich ein Thema besonders interessiert, würde ich mir anschauen, wie es von verschiedenen Journalisten bewertet wird.

Was können junge Menschen mit ihrem Wahlgang bewirken?

Wer das Alter erreicht hat, mit dem man sich qua Gesetz an der Politik beteiligen kann, muss verstehen, dass er ein vollwertiger Bürger dieses Landes ist. Ich verstehe die Kritik, dass Politik von Alten für Alte gemacht wird. Aber das wird sich nicht ändern, wenn junge Menschen nicht wählen gehen. Das Stimmrecht muss sich jeder holen. Wenn junge Menschen sagen, dass Parteien eh keine Politik für sie machen, dann haben sie aufgegeben.

Unsere Demokratie knarzt zwar wie ein altes Schiff, das in ordentlich unruhiges Wasser geraten ist, aber es hält stand.

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Also sollten Parteien mehr auf junge Menschen zugehen?

Ja, es gab auch schon einige Ideen, Wahlduelle nicht nur im linearen Fernsehen zu machen, sondern auf Youtube beispielsweise mit Rezo und Tilo Jung. Die Union wollte nicht mitmachen. Ich finde es bedauerlich, dass Armin Laschet abgesagt hat, da er sich offenbar auf die älteren Wähler konzentrieren will. Ich persönlich finde das nicht sehr schlau. Es wird immer in den Status quo investiert, aber nicht in die Zukunft. Das macht nicht nur die Union falsch, sondern viele Parteien. Es gibt keine Partei, bei der ich sagen würde, dass sie das vorbildlich macht. Das ist ein Fehler.

Wie würden Sie den Zustand unserer Demokratie beschreiben?

Ich bin mit dem Zustand unserer Demokratie zufrieden, weil sie in der Lage ist, viele Angriffe auszuhalten. Unsere Demokratie knarzt zwar wie ein altes Schiff, das in ordentlich unruhiges Wasser geraten ist, aber es hält stand. Aber wir müssen aufpassen, dass es in Schuss bleibt. Es pflegen, unser Demokratie-Schiff.

Welche Angriffe meinen Sie?

Die teilweise unversöhnlichen Diskussionen, die geplanten Störfeuer im Netz, oft gesteuert aus Russland, die Zweifler, die nicht nur politische Entscheidungen zu Corona oder Migration hinterfragen, sondern gleich das ganze politische System. Und dann natürlich die Angriffe der neuen Rechten, die ein ganz anderes System, ein autokratischeres vor Augen haben, auf eine homogene und keine pluralistische Gesellschaft zielen. Sie organisieren sich in Parteien, mischen sich in Vereine, Kultureinrichtungen, Bürgerbewegungen, jetzt gerade sogar unter Fluthelfer und machen Stimmung gegen das politische System. Sie sind sehr aktiv in den sozialen Medien und gut vernetzt. Es erschüttert mich, dass es Menschen gibt, die nach so einer langen Zeit in unserer Demokratie dieses System eigentlich abschaffen wollen.

Sehen Sie unsere Demokratie auch von anderen Gruppierungen als der neuen Rechten bedroht?

Auch bei Linken erkennt man den Wunsch nach einem anderen Gesellschaftssystem: eines, das nicht kapitalistisch ist, das eher eine vom Staat gelenkte Gemeinschaft vorsieht. Und wenn zum Beispiel Polizisten angegriffen werden, geht das auch gegen den Staat. Der autokratische Gedanke, dass ein Mensch oder eine Gruppe im Sinne des Rechts des Stärkeren über andere bestimmen sollte, ist aber eher Sache der Rechten. Aber wir sollten nicht immer nur die Angreifer beachten, sondern auch auf die Verteidiger der Demokratie. Schaut man auf die Wahlprognosen, wird das Bollwerk der Demokratie deutlich.

Konzentrieren wir uns zu sehr auf die Angreifer?

Die Wachsamkeit der Medien ist angebracht. Sie konzentrieren sich auf die Angriffe, weil sie im Auge haben, was gefährlich ist. Darauf reagieren dann Gesellschaft und Parteien. Das ist in der ganzen westlichen Welt so, das haben wir besonders zu Zeiten von Trump erlebt. Wir sehen in Ungarn und Polen, wie schnell Freiheitsrechte abgeräumt werden können. Zivilisatorische Errungenschaften wie Gleichheit, Religions-, Meinungs- und Pressefreiheit haben Jahrhunderte gebraucht, aber zack, mit einem Schnipp, einem Dekret, können sie perdu sein. Das muss man sich immer klarmachen.

Halten Sie das auch in Deutschland für möglich?

Es gab Momente in den letzten Jahren, in denen ich Sorge um die Demokratie in Deutschland hatte. Aber unsere Demokratie und unsere Parteien halten die Angriffe von rechts aus. Dafür ist Deutschland stark genug – stärker als Polen und Ungarn. Ich glaube aber, dass in Zukunft eine andere Herausforderung auf uns zukommt.

Die wäre?

Für unsere Demokratie wird es schwierig, dass wir keine großen Parteien mehr haben werden. Wir haben keine klaren Koalitionen mehr, sondern aufgesplittete Individualinteressen. Die Frage ist, wie ohne große Parteien Regierungen mit einer klaren Linie gebildet werden können. Das ist eine neue Parteienrealität, mit der wir umgehen müssen.

Das Recht auf den freien Journalismus muss dringend verteidigt werden.

Anja Reschke

Welche Rolle spielt der Journalismus bei diesen demokratischen Prozessen?

Wir dürfen nicht vergessen, was für ein hohes Gut es ist, dass jeder Journalist jeden Politiker alles fragen darf, ohne dass etwas Schlimmes passiert. Klar sind die manchmal sauer oder geben keine Antwort, aber Journalisten werden nicht eingesperrt oder gar getötet. Wir dürfen aufschreiben und berichten, was wir wollen. Diese Freiheit sollten Journalisten nutzen, um über alles zu berichten, was passiert. Die Aufgabe besteht darin, mit dieser Freiheit verantwortungsvoll umzugehen und kritisch nachzufragen, was Politiker machen. In diesem Sinne sorgen Journalisten für eine Stärkung des Vertrauens in die Demokratie. Journalisten zeigen, dass Kontrollmechanismen funktionieren und kein Politiker durchregieren kann, wie er gerade lustig ist.

Journalistinnen und Journalisten werden in Deutschland von politischer Seite nicht bedroht, aber Sie gehen offen damit um, dass Sie in den sozialen Medien angefeindet werden.

Diese Anfeindungen zeigen, dass die Pressefreiheit bedroht ist. Natürlich gibt es eine Strömung, die das freie Berichten einschränken will. Das Recht auf den freien Journalismus muss dringend verteidigt werden.

Wer steht in der Verantwortung, die Demokratie zu stärken?

Wir alle müssen die Demokratie stärken. Jeder Einzelne ist verantwortlich für unsere Demokratie. Natürlich gibt es Institutionen wie den Verfassungsschutz, die sie schützen. Parteien und der Journalismus haben auch wichtige Funktionen. Die Demokratie ist nichts, was uns per Lieferdienst gebracht wird. Wir müssen uns alle jeden Tag um sie bemühen. Es ist ein demokratischer Akt, den Freund auf Falschinformationen hinzuweisen oder mit anderen über Politik zu diskutieren. Demokratie ist ein Ringen der unterschiedlichen Interessen, dafür sollten wir uns starkmachen. Das Entscheidende von Demokratie ist, dass Sorgen benannt und Gespräche gesucht werden. Der freie Austausch ist wichtig und ein hohes Gut. Vor nicht allzu langer Zeit war das in unserem Land nicht möglich.

Dieses Interview ist Teil von „Generation XX – zwei Kreuze für die Zukunft“, einem Projekt der Volontärinnen und Volontäre des RND zur Bundestagswahl. Bei Generation XX stehen die jungen Wählerinnen und Wähler im Fokus: Wen wollen sie wählen? Welche Themen sind ihnen wichtig? Was macht die Generation aus? Alle Ergebnisse, Analysen und Reportagen können Sie unter generationxx.rnd.de abrufen.

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