„Ausgerottete Städte“: Selenskyj beschreibt düstere Lage in der Ostukraine
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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht per Videoschalte zur Eröffnung des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos. Links steht dabei Klaus Schwab, Gründer und Exekutivvorsitzender des Weltwirtschaftsforums, am Rednerpult.
© Quelle: Gian Ehrenzeller/KEYSTONE/dpa
Bei seiner Auftaktrede zum Weltwirtschaftsforum in Davos hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die internationale Gemeinschaft aufgefordert, weitere Sanktionen gegen Russland zu verhängen. In einer Videoschalte aus seinem Büro in Kiew sprach er sich nachdrücklich für ein Embargo gegen russische Energieträger aus. „Lassen Sie uns zu Sanktionen greifen“, forderte Selenskyj. „Jedes Land, das ein Nachbarland angreift, soll sofort und hart bestraft werden.“
Außerdem rief er dazu auf, weitere finanzielle Mittel Russlands einzufrieren. Europäische Banken und Konten dürften „nicht für Kriegsverbrecher zur Verfügung stehen“, so der ukrainische Präsident. „Wir dürfen nicht mehr zulassen, dass jemand unsere Werte verachtet.“
Selenskyj betonte, die Welt befinde sich derzeit „an einem historischen Wendepunkt“. Er sagte, bisher habe die Weltgemeinschaft immer nur auf Aggressionen reagiert – künftig müsse präventiv gehandelt werden. „Erst jetzt bekommen wir die Sympathie der Welt, obwohl Russland seit 2014 einen verdeckten Krieg gegen uns führt“, so der ukrainische Präsident. „Heute sehen wir, dass die Welt an die Ukraine glaubt und auch gespannt ist auf die Mittel, die dem Aggressor entgegengesetzt werden.“
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Als weiteren Punkt, wie sein Land unterstützt werden könnte, nannte Selenskyj das Engagement international tätiger Firmen. Wer bisher in Russland tätig gewesen sei, solle sich nun in der Ukraine niederlassen, um sich am Wiederaufbau des Landes zu beteiligen. Beispielhaft beschrieb Selenskyj die Lage in der Ostukraine. Dort gebe es „ausgerottete Städte, ein totes Schwarzes Meer und einen gesperrten Himmel für die zivile Luftfahrt“. Der ukrainische Präsident betonte: „Wir müssen ganze Großstädte, ganze Industriezweige wiederaufbauen.“
Selenskyj rief Unternehmen aus aller Welt dazu auf, Vorschläge zu machen, wie sie sich in seinem Land niederlassen könnten. Die Ukraine werde die Konzerne in ihren Plänen dann umfassend unterstützen. Denkbar seien etwa auch „Patenschaften“ für den Wiederaufbau bestimmter Regionen oder Wirtschaftszweige, so Selenskyj. Insbesondere wandte er sich an die Lebensmittelindustrie. Der Präsident betonte die weltweite Bedeutung seines Landes in diesem Bereich und erklärte, die Ukraine sei bereit für eine „Neuorganisation, um internationale Nahrungsmittelsicherheit zu gewährleisten“.
„Wer kauft eigentlich dieses geraubte Korn?“
Um einer weltweiten Lebensmittelkrise entgegenzuwirken, sei es zunächst wichtig, die Blockade der Schwarzmeerhäfen zu beenden, erklärte Selenskyj. Er bedankte sich für die Vorschläge europäischer Partner, das Getreide über Länder wie Polen oder die baltischen Staaten aus der Ukraine zu holen. Der Präsident betonte gleichzeitig: „Wir wissen, dass die Russen die ukrainischen Vorräte an Lebensmitteln rauben. Wer kauft eigentlich dieses geraubte Korn und Getreide?“ Selenskyj forderte die Weltgemeinschaft auf, die Ukraine diplomatisch dabei zu unterstützen, dass sich keine Abnehmer für diese Lebensmittel fänden.
Der ukrainische Präsident gab zu bedenken, dass es auch militärische Mittel gebe, die Blockade der Häfen zu beenden. Er rief die internationale Gemeinschaft nochmals auf, sein Land finanziell und mit Waffen zu unterstützen. „Der Fall der Ukraine würde eine viel tiefere und breitere Krise auslösen“, warnte Selenskyj.
Für seine Rede erhielt Selenskyj in Davos langen Applaus, das Publikum stand von den Plätzen auf. Beim Weltwirtschaftsforum sollten später am Montag auch noch der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko und sein Bruder Wladimir zu Gast sein. Am Morgen hatte bereits Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck in einer Diskussionsrunde vor einer „globalen Rezession“ gewarnt. Der Grünen-Politiker sagte, das internationale Treffen komme „genau zum richtigen Zeitpunkt“.
Die Welt sei derzeit durch vier Krisen in Gefahr, so Habeck: eine hohe Inflation, eine Energiekrise, einen Lebensmittelmangel und die Klimakrise. Es sei wichtig, dass alle Probleme gelöst würden – aber jedes einzelne nicht zulasten der anderen, so Habeck. Um die globalen Krisen lösen zu können, muss die internationale Gemeinschaft laut Habeck an den Weltmärkten festhalten und gleichzeitig neue Regeln dafür finden. Dabei gehe es auch um Solidarität: „Wenn wir nur an uns denken, unsere Energie- und unsere Lebensmittelversorgung, hat das verhängnisvolle Folgen für die Gesamtmärkte.“
Klare Ansage an Ungarn: Ölembargo nicht blockieren
Habeck sprach sich außerdem dafür aus, gemeinschaftlich kein Öl mehr aus Russland zu beziehen. In der Europäischen Union blockiert bisher Ungarn ein solches Embargo. Der Bundeswirtschaftsminister betonte, er erkenne an, dass die Länder eine unterschiedliche Ausgangslage haben. „Da müssen wir aufpassen, dass wir nicht alle Regeln gleichermaßen auf alle anwenden und dabei nicht sehen, in welch schwieriger Lage einige Länder sind“, so Habeck. „Aber ich erwarte von allen – auch von Ungarn –, dass sie darauf hinarbeiten, damit wir eine gemeinsame Lösung finden.“
Bei dem viertägigen Treffen in den Schweizer Alpen diskutieren fast 2500 Teilnehmende aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft über Lösungen für internationale Probleme. Die Tagung steht in diesem Jahr unter dem Motto „Geschichte an einem Wendepunkt: Regierungspolitik und Geschäftsstrategien“. Im Fokus stehen mit dem Ukraine-Krieg, der Corona-Pandemie und dem Klimawandel gleich mehrere weltweite Krisen.
Thematisiert werden unter anderem die Folgen des Kriegs auf Lieferketten, Energieversorgung und Nahrungsmittelsicherheit. Aus Deutschland wird unter anderem Kanzler Olaf Scholz (SPD) erwartet, der am Donnerstag in Davos eine Rede hält. Traditionell findet das Treffen eigentlich Mitte Januar statt, wegen der Corona-Pandemie war es jedoch verschoben worden.
mit Agenturmaterial
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