Charles Dickens: Die Geister, die er rief
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Geizhals Scrooge wird bei Charles Dickens’ zum guten Menschen.
London. „Scrooge, Scrooge“, der schaurige Ruf eines Geistes, welcher einen Londoner Geldverleiher zur Weihnachtszeit ereilt, ist aus den Verfilmungen der „Weihnachtsgeschichte“ bekannt. Denn diese Zeit des Jahres ist jene der Geisterwesen, zumindest bei Charles Dickens. In der berühmtesten Erzählung des Londoner Schriftstellers wird Ebenezer Scrooge gleich von drei unheimlichen Gespenstern heimgesucht. Dem Geist der Weihnacht der Vergangenheit, jenem der Gegenwart und dem der Zukunft. Diese Begegnungen verdeutlichen dem geizigen Geschäftsmann, welche Folgen sein rücksichtsloses Handeln hat. Er kommt zu der Erkenntnis, dass er warmherziger mit sich, vor allem aber mit seinen Mitmenschen umgehen muss. Scrooge wird ein besserer Mensch.
Welche Rolle Geister im Werk des berühmtesten britischen Autors des 19. Jahrhunderts spielen, zeigt eine Ausstellung, die aktuell im Londoner Charles-Dickens-Museum im Zentrum der Metropole zu sehen ist. Dickens hat von 1837 bis 1839 in dem georgianischen Reihenhaus gemeinsam mit seiner Frau Catherine und ihrem ältesten Sohn Charlie sowie den Töchtern Mary und Kate gelebt. Ein Besuch in dem derzeit weihnachtlich geschmückten einstigen Zuhause fühlt sich wegen der authentischen Möblierung und der zahlreichen Stücke aus dem Nachlass Dickens‘ wie eine Zeitreise an. „Von Briefen und Manuskripten bis zu Kleidung und Alltagsgegenständen findet man hier alles, was Besucher vor rund 180 Jahren in solch einem Haus erwartet hätten“, erklärt Cindy Sughrue, Kuratorin des Museums.
Dickens inspiriert bis heute
Ein Höhepunkt ist das von ihm selbst entworfene hölzerne Stehpult, an welchem der Autor seine Lesungen hielt. Auf diese Weise habe er seine Geschichten und die Charaktere darin zum Leben erweckt. „Diese Tradition ist ein Grund, warum es so viele Inszenierungen und Verfilmungen der Weihnachtsgeschichte gibt“, ist die Expertin überzeugt. Und so geht auch die Ausstellung auf viele Interpretationen um den grummeligen und geizigen Scrooge ein; sei es in Form von Bilderbüchern oder Animationsfilmen. Jüngstes Beispiel ist der US-Film „Spirited“, der sie aus der Perspektive der Geister erzählt, so Sughrue.
Dass ausgerechnet Gespenster in den Geschichten von Dickens so prominent vertreten sind, sei auch der Zeit geschuldet, erklärt sie. „Geistergeschichten waren damals sehr beliebt.“ Ein Grund: „Die Sterblichkeitsrate insbesondere von Kindern war im 19. Jahrhundert deutlich höher als heute“, erläutert die Kuratorin. Tod und Vergänglichkeit haben im Alltag eine größere Rolle gespielt. „Die Menschen im viktorianischen Zeitalter waren deshalb fasziniert von der Vorstellung, mit Verstorbenen kommunizieren zu können.“ Berichte von Londonern und Londonerinnen, die behaupteten, Gespenstern begegnet zu sein, waren weit verbreitet.
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Der britische Schriftsteller Charles Dickens in einer zeitgenössischen Darstellung.
© Quelle: dpa
Weihnachtsgeschichte sollte auf Missstände hinweisen
An Geister geglaubt habe Dickens nicht. Vielmehr wollte er durch seine Weihnachtsgeschichte auf Missstände hinweisen. „Er hatte das Gefühl, unter die Lupe nehmen zu müssen, was in der damaligen Gesellschaft vor sich ging.“ Schließlich war diese Epoche, die Zeit der Industrialisierung in London, von Fortschritt, aber auch von extremer Armut geprägt. Ein Aspekt, der die Ausstellung aktuell wirken lässt. Denn wie die Menschen damals erleben Londonerinnen und Londoner gerade wieder extreme Zeiten; mit der Aufeinanderfolge einer Pandemie, des Krieges und den Folgen des Brexit. „Viele haben das Gefühl, dass die Situation außer Kontrolle geraten ist.“
Die Geschichte von Scrooge war ein Aufruf an die damalige Regierung. „Dickens wollte Politiker zur Rechenschaft ziehen; ihnen die Augen für die Armut und Ungerechtigkeit öffnen, welche sie umgaben.“ Gleichzeitig richtete sie sich auch an jeden Einzelnen. „Der Geldverleiher Scrooge sieht seine Fehler ein und tut schließlich etwas, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen.“ Die Geschichte sei eine Erinnerung an die Notwendigkeit, sich um andere zu kümmern, betont die Kuratorin. Sie hat eine kraftvolle Botschaft, die einprägsam und unvergesslich ist. Sie lautet: „Ohne die Kraft der Gesellschaft sind wir alle auf uns allein gestellt.“
Die Ausstellung „To Be Read At Dusk: Dickens, Ghosts and The Supernatural“ im Charles-Dickens-Museum ist noch bis einschließlich 5. März 2023 zu sehen. Der Eintritt beträgt für Erwachsene umgerechnet rund 14,50 Euro, für Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 16 Jahren 8,70 Euro und für Studenten und Senioren 12,10 Euro. Für Kinder unter sechs Jahren ist der Eintritt frei.