Bericht zu Bürgerkrieg: Eine Woche, die Kolumbien für immer verändern wird
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Ein Mann betrachtet Bilder von Todesopfern des internen Konflikts in Kolumbien.
© Quelle: Camila Díaz/colprensa/dpa
Bogota. Am Ende eines emotionalen Tages suchte Francisco de Roux (78) den Vergleich mit der deutschen Geschichte. Die Deutschen, sagte der Jesuitenpater und Vorsitzende der Wahrheitskommission, hätten eine Generation gebraucht, um sich dem zu stellen, was sie während des Krieges getan hätten.
Aber als sie sich die Deutschen als Gesellschaft dann ihrer Verantwortung gegenüber den sechs Millionen ermordeten Juden gestellt hätten, da habe sich Deutschland gewandelt und seine Würde und seinen Stolz zurückerlangt, sagte de Roux in der Hauptnachrichtensendung des kolumbianischen Senders „Caracol“.
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Die Wahrheitskommission bei der Vorstellung ihres Berichts in Bogota.
© Quelle: IMAGO/NurPhoto
Entsetzliche Zahlen
Der Vergleich mit Nazi-Deutschland offenbart, für wie schwerwiegend de Roux die Verbrechen des bewaffneten Konfliktes in Kolumbien hält, die er und seine Wahrheitskommission auf insgesamt mehreren hundert Seiten zusammengefasst in Bogota der Öffentlichkeit offenbarte.
„Wir bitten darum, die Wahrheiten der Tragödie zu akzeptieren“, sagte de Roux. Schon allein die nackten Zahlen sind entsetzlich: Über 450.000 Tote, über 100.000 bis heute Verschwundene, über acht Millionen mit Gewalt aus ihrer Heimat Vertriebene, über 50.000 Geiselnahmen und fast 17.000 rekrutierte Kindersoldaten zwischen 1986 und 2016.
Für den kolumbianischen Staat und seine Armee ist der Bericht ein Desaster: Laut Erkenntnissen der Kommission gehen 45 Prozent der Toten auf das Konto der rechtsextremen Paramilitärs, deren Taten oft von der regulären Armee (12 Prozent) gedeckt wurden. Besonders verheerend ist für das Militär der Passus über die außergerichtlichen Hinrichtungen, die aus einer „systematischen Praxis“ resultierte, um „den Gegner um jeden Preis zu eliminieren“, wie es im Bericht heißt.
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Archivbild: Kolumbianisches Militär inspiziert am 6.5.2003 das Lager der marxistischen "Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens" (FARC) in der Gemeinde Urrao etwa 280 Kilometer nordwestlich von der Hauptstadt Bogota.
© Quelle: Lopez/efe via epa/dpa
Die Armee ermordete dabei tausende unschuldige Zivilisten und gab sie anschließend fälschlicherweise als Guerilleros aus, um Prämien zu kassieren. Demgegenüber sind die linksgerichtete ehemalige Farc-Guerilla für 21 Prozent und die immer noch aktive marxistische ELN-Guerilla für 4 Prozent der Morde verantwortlich.
Empfehlungen für die neue Regierung
Als Ergebnis der Untersuchungen empfiehlt die Kommission dem künftigen linksgerichteten Präsidenten Gustavo Petro und Vizepräsidentin Francia Marquez eine Strukturreform der Sicherheitskräfte. Dazu zählt unter anderem, die Polizei aus dem Verteidigungsministerium herauszuziehen und dem Innenministerium zu unterstellen, um eine zivile Kontrolle zu gewährleisten.
Zudem solle die Wehrpflicht schrittweise abgeschafft werden. Politische Sprengkraft hat die Empfehlung der Kommission Venezuela bei möglichen Friedensgesprächen mit der ELN-Guerilla um Hilfe zu bitten. Der venezolanische Präsident Nicolas Maduro wird nach seinem umstrittenen Wahlsieg 2018 und wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen von zahlreichen Staaten, darunter die USA und die EU, nicht anerkannt.
Kolumbiens rechtsgerichteter Präsident Ivan Duque blieb der Vorstellung anders als die ehemaligen FARC-Kommandanten demonstrativ fern. Er weilte stattdessen bei einem Termin in Portugal und will den Bericht offenbar nächste Woche von de Roux persönlich in Empfang nehmen.
Die rechte Oppositionspolitikerin Maria Fernanda Cabal sprach von einer „Show der Kommission der Lügen“. In den sozialen Netzwerken kritisierten andere Stimmen die Diskreditierung einer Armee, die Kolumbien vor der Narcoguerilla beschützt habe. Ein Vertreter in der Kommission hatte zuvor aus Protest seinen Rücktritt erklärt, weil er die Opfer der Armee und der Polizei nicht genügend gewürdigt sah.
Erschütternde Geständnisse von Farc-Kommandanten
Ein paar Tage zuvor hatten bereits die Geständnisse der Kommandanten der ehemaligen Farc-Guerilla die Öffentlichkeit erschüttert. Sie räumten die Verantwortung für 21.000 Entführungen ein und gaben öffentlich im Rahmen einer Anhörung der Sonderjustiz zu, ihre Geiseln teilweise sexuell missbraucht, gefoltert und hingerichtet zu haben. Die FARC schloss 2016 mit der Regierung des damaligen Präsidenten und späteren Friedensnobelpreisträgers Juan Manuel Santos einen Friedensvertrag. Ein Punkt des Vertrages: Die Gründung einer Wahrheitskommission zur Aufarbeitung des Konflikts.
Der Bericht eben dieser Wahrheitskommission und die Geständnisse der Guerilla bringen den künftigen Präsidenten Gustavo Petro nun in eine historisch einzigartige Position. Der Linkspolitiker sendete wie bereits nach seinem Wahlsieg ein Signal der Versöhnung an das rechte Lager, das innerhalb einer Woche erst die Macht bei den Wahlen und dann auch noch ein gutes Stück Reputation verlor: „Wir müssen die Kreisläufe der Rache durchbrechen, die uns immer wie der zur Gewalt führen“, sagte Petro.
Ihm bietet sich nun die Möglichkeit, den Krieg mit der noch aktiven ELN-Guerilla zu beenden und die tief gespaltene Gesellschaft in einen Versöhnungsprozess zu führen. Ein Treffen mit dem ehemaligen Präsidenten Alvaro Uribe, der als graue Eminenz es rechten Lagers gilt, ist anvisiert.
Experte: Gespräche werden kein Selbstläufer
„Der Wahlsieg Petros wird auf jeden Fall Bewegung in die Verhandlungen mit der ELN-Guerilla bringen“, sagt Hans Blumenthal im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Der ehemalige Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bogota ist heute mit der von ihm gegründeten der Stiftung „Evolucion Caribe“ in ehemaligen Konfliktgebieten, die früher von der Guerilla oder Paramilitärs kontrolliert wurden, in der Friedensarbeit aktiv und kennt die Strukturen der illegalen Gruppen genau.
„Ein Selbstläufer werden solche Gespräche aber nicht, den die ELN ist in ihrer Kommandostruktur nicht so klar organisiert wie die ehemalige FARC“, warnt Blumenthal vor allzu großen Erfolgserwartungen. Immerhin aber gäbe es nun die Chance für die nächste Etappe im kolumbianischen Friedensprozess.
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