Fragen und Antworten zur Wahlrechtsreform

Bundestagswahlen: Wie die Ampel das Wählen neu erfindet

Blick in den Plenarsaal des Bundestags zu Beginn der Sitzungswoche. Mit der Wahlrechtsreform, die SPD, Grüne und FDP vorschlagen, soll der Bundestag auf seine Regelgröße schrumpfen. Die CSU sieht in dem Vorschlag einen Axtschlag am demokratischen Fundament.

Blick in den Plenarsaal des Bundestags zu Beginn der Sitzungswoche. Mit der Wahlrechtsreform, die SPD, Grüne und FDP vorschlagen, soll der Bundestag auf seine Regelgröße schrumpfen. Die CSU sieht in dem Vorschlag einen Axtschlag am demokratischen Fundament.

Berlin. An diesem Montag haben die Fraktionen von SPD, Grünen und FDP einen Gesetzentwurf für eine Wahlrechtsreform vorgelegt, die den Bundestag auf seine Regelgröße von 598 Abgeordneten verkleinern soll. CDU und CSU lehnen den Vorschlag ab. Was steckt dahinter, was ist der Zeitplan? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.

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Warum ist die Reform nötig?

Seit sich in Deutschland jenseits von Union, SPD und FDP weitere Parteien dauerhaft etabliert haben und bundesweit oder regional nennenswerte Ergebnisse bei den Bundestagswahlen einfahren, gerät das deutsche „personalisierte Verhältniswahlrecht“ an seine Grenzen. Mehrfach hat das Bundesverfassungsgericht seit 2008 Verbesserungen am Wahlrecht eingefordert.

Das Problem: Bisher hat man zwei Stimmen für den Bundestag – mit der Erststimme wählt man eine konkrete Person aus dem eigenen Wahlkreis in den Bundestag, mit der Zweitstimme eine Partei. Das Verhältnis der Parteiergebnisse wird auf die regulären 598 Sitze im Bundestag übertragen. Jeder Gewinner eines Wahlkreises zieht automatisch ein.

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Allerdings kommen die Direktkandidaten bisher in der Regel von Union oder SPD – die aber über die Zweitstimmen inzwischen weniger Sitze gewinnen als früher. Das betrifft vor allem die CSU. Ihre Wahlkreiskandidaten gewinnen in der Regel alle Wahlkreise in Bayern und ziehen ein – obwohl der CSU nach ihrem prozentualen Anteil am Gesamtergebnis gar nicht so viele Sitze zustehen. So entstehen Überhangmandate.

Damit aber das Ergebnis der Bundestagswahl sich im Parlament trotzdem widerspiegelt, dürfen für jedes Überhangmandat so viele Abgeordnete anderer Parteien einziehen, bis die Sitzverteilung wieder das Bundestagswahlergebnis abbildet. Laut Ampel kommen bis zu 17 dieser sogenannten Ausgleichsmandate auf ein Überhangmandat – die überwiegend für die Union in Bayern und Baden-Württemberg anfallen. Durch diese Überhang- und Ausgleichsmandate war der Bundestag aber immer weiter gewachsen – auf zuletzt 736 Abgeordnete, Tendenz weiter steigend.

Wie will die Ampel das Problem lösen?

Die Ampel hat sich dagegen entschieden, die Zahl der Wahlkreise zu verkleinern, und hält im Entwurf an 299 Wahlkreisen fest. Auch zwei Stimmen wird man weiter vergeben, für die Sitzverteilung sind dann aber allein die Zweitstimmen ausschlaggebend. Sie sollen künftig Hauptstimmen heißen. Stimmen für die Wahlkreiskandidaten heißen dann Wahlkreisstimmen.

Zur Verkleinerung des Bundestags sieht der Gesetzentwurf vor, dass es künftig schlicht keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr gibt. Damit wird der Bundestag fest auf 598 Sitze gedeckelt, um die sich alle Kandidaten bewerben.

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Über das Hauptstimmenergebnis wird berechnet, wie viele der 598 Mandate jeder Partei bundesweit zustehen und wie sich diese auf die einzelnen Landeslisten verteilen. Gewinnt eine Partei weniger Wahlkreise direkt, als ihr Mandate zustehen, werden die restlichen Mandate über die Liste verteilt.

Dies kann zur Folge haben, dass in einem Wahlkreis direkt gewählte Abgeordnete keinen Sitz im Bundestag erhalten werden: Gewinnt eine Partei mehr Wahlkreisstimmen, als ihr Sitze laut Hauptstimmenergebnis zustehen, ziehen die Kandidaten mit dem schlechtesten Einzelergebnis nicht ein. „Die erfolgreiche Kandidatur im Wahlkreis setzt also künftig neben der relativen Mehrheit eine Deckung durch Hauptstimmen voraus“, heißt es dazu im Gesetzentwurf. Laut Ampel wären das aber Einzelfälle: Aufs Wahlergebnis von 2021 angewendet, wären nur drei Direktkandidaten nicht eingezogen.

Zudem würde der Verzicht auf Überhang- und Ausgleichsmandate alle treffen: 2021 gab es davon 138. Davon entfielen auf die Union 41, auf die SPD 36, auf die Grünen 24, auf die FDP 16, auf die AfD 14 und auf die Linke 7.

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Wie reagiert die CDU/CSU?

Die Union läuft Sturm gegen den Entwurf. Fraktionsvize Jens Spahn (CDU) kritisierte am Montag, dass der Vorschlag nicht den demokratischen Prinzipien entspreche. Die CSU hält den Gesetzentwurf sogar für „verfassungswidrig“, wie der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Stefan Müller, dem Portal „The Pioneer“ sagte: „Gewählten Wahlkreiskandidaten das Mandat zu verweigern ist eine eklatante Missachtung des Wählerwillens.“ Die Union verlangte Beteiligung an der Lösungssuche.

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Allerdings hatte sich die CSU schon in der vorigen Legislatur gegen eine Reform gestellt. Lediglich ein Minimalkompromiss war mit den Bayern machbar, gegen den derzeit eine Verfassungsklage der damaligen Opposition aus Grünen, FDP und Linken läuft.

Aus den Unionsländern kommt dennoch scharfe Kritik am Ampelentwurf. Thüringens CDU-Chef Mario Voigt warnte vor einer Fokussierung auf die Listenplätze. „Der Ampelvorschlag zur Wahlrechtsreform tritt die Demokratie und die Wähler mit Füßen. Er sorgt dafür, dass Menschen sicher in den Bundestag kommen, die über Proporz oder gute Parteikontakte auf den vorderen Listenplätzen gelandet sind“, sagte der Christdemokrat dem RND.

„Wer vor Ort das Vertrauen der Bürger gewinnt, kann dagegen hinten runterfallen“, so Voigt. Es könne nicht sein, dass 150 Stimmen auf einem Parteitag mehr wert sind, als die Mehrheit in einem Wahlkreis zu gewinnen: „Eine Wahlrechtsreform muss sich viel mehr auf die Stärkung der Direktkandidaten fokussieren“, forderte er.

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Wie ist der weitere Zeitplan?

Die Vorsitzenden der Ampelfraktionen schickten den Entwurf am Sonntag an Unionsfraktionschef Friedrich Merz (CDU) und boten ihm Gespräche darüber an. „Wir möchten für die nächste Bundestagswahl eine Lösung finden, die breit getragen werden kann“, heißt es darin. Aus Sicht der Ampel ist die Zeit dafür ausreichend: Möglichst noch in dieser Woche will sie die Gespräche mit der Union aufnehmen, die Sachverständigenanhörungen sollen im Februar stattfinden, danach die Lesungen im Bundestag und noch im März die Befassung im Bundesrat. Selbst falls das Bundesverfassungsgericht angerufen wird, hätte es dann noch gut zwei Jahre Zeit.

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Können die Unionsländer die Reform im Bundesrat stoppen?

Nein, das Wahlrecht ist Bundessache, die Länder müssen nicht zustimmen. Sie können nur Einspruch erheben. Da aber in jeder Landesregierung außer in Bayern eine Ampelpartei vertreten ist, würden diese sich auch bei CDU-Führung enthalten, und ein Einspruch bekäme keine Mehrheit.

Wird das Verfassungsgericht den Vorschlag kippen?

Die Ampel betont, sie habe sich von führenden Verfassungsrechtlern und Wahlrechtsexperten beraten lassen und erwarte von einer Verfassungsklage, dass Karlsruhe das Modell bestätigt.

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Dass das Ampelvorhaben höchstrichterlich verhandelt wird, erwartet auch der Staatsrechtler Ulrich Battis: „Mit Sicherheit wird eine Klage gegen die Reform vor dem Bundesverfassungsgericht landen“, sagte der Rechtswissenschaftler dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Er sehe ein „hohes Risiko“, dass das höchste Gericht sie stoppen werde. Karlsruhe sei schon bislang viel zu penibel gewesen: „Das Bundesverfassungsgericht sollte sich in dieser Frage aber zurücknehmen, damit der Bundestag verkleinert werden kann“, mahnte er.

Es sei zwar ein Problem, dass manche Wahlkreisgewinner mit der Reform nicht in den Bundestag kämen. „Aber das ist eine Härte, die hingenommen werden muss, um zu einem kleineren Parlament zu kommen“, so Battis. „Man muss bei Wahlen immer in Kauf nehmen, dass es zu Friktionen kommen wird. Auch jetzt ist es schon der Fall, dass viele Erststimmen nicht zählen, wenn sie für den Zweitplatzierten abgegeben worden sind.“ Es müsse allerdings darauf geachtet werden, dass die Friktionen nicht zu groß seien. „Das ist beim neuen Vorschlag der Regierungskoalition gegeben.“

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