Das Fiasko mit der Fleischfirma: Wie Tönnies zum größten Corona-Hotspot Deutschlands wurde
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© Quelle: Martin Meissner/AP
Der Landrat sitzt da, neben ihm ein Vertreter der Bundeswehr, der Leiter des Krisenstabs und ein Mann der Polizei. Sie müssen zurzeit gemeinsam mit ihren Mitarbeitern, Kollegen und Kameraden all ihre Kraft und Energie einsetzen, um die Lage beim Fleischunternehmen Tönnies unter Kontrolle zu bekommen und ein Überspringen des Virus auf die Bevölkerung zu verhindern. Doch ein wichtiger, eigentlich der wichtigste Ansprechpartner fehlt bei der Pressekonferenz am Samstagmittag im Kreishaus Gütersloh, bei der die drängenden Fragen zum massiven Corona-Ausbruch beim Fleischproduzenten in Rheda-Wiedenbrück beantwortet werden sollen: Unternehmenschef Clemens Tönnies.
Als ein Journalist fragt, warum ausgerechnet Tönnies nicht dabei ist, spürt man an der prompten Antwort des Krisenstabsleiters Thomas Kuhlbusch den Ärger, der im ostwestfälischen Landkreis in diesen Tagen herrscht: “Also ich will erst mal sagen”, sagt Kuhlbusch, “das Vertrauen, das wir in die Firma Tönnies setzen, ist auf null. Das muss ich so klar sagen.” Wenn der Vertreter eines Landkreises einen solch rauen Ton gegenüber einem der größten Arbeitgeber vor Ort anschlägt, muss schon etwas dramatisch Schlimmes geschehen sein.
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Verärgert: Sven-Georg Adenauer, Landrat des Kreises Gütersloh, spricht auf der Pressekonferenz im Gütersloher Kreishaus über den Corona-Ausbruch bei der Firma Tönnies in Rheda-Wiedenbrück.
© Quelle: David Inderlied/dpa
Behörden kamen nicht an Daten
Das dramatisch Schlimme in diesem Fall ist nicht nur, dass mit Stand Sonntagnachmittag 1331 Mitarbeiter der Fleischfirma positiv auf Corona getestet worden sind. Der Grund für den Vertrauensverlust ist vielmehr, dass Tönnies nach Darstellung des Kreises die Zusammenarbeit mit den Behörden bislang eher behindert hat, als sie zu fördern. “Das Unternehmen hatte es nicht geschafft, uns alle Adressen zu liefern”, sagte Landrat Sven-Georg Adenauer, ein Enkel des ersten Bundeskanzlers. Die Behörden hätten große Probleme gehabt, an die Adressen der Mitarbeiter zu kommen. Deshalb verschafften sich in der Nacht von Freitag auf Samstag Kreis und Arbeitsschutz Zugriff auf die Personalakten der Firma Tönnies.
Als Clemens Tönnies später seinerseits vor die Presse tritt, weist er die Vorwürfe des Kreises Gütersloh zurück. Zunächst entschuldigte er sich zwar beim Landkreis und sagt: “Wir stehen in der Verantwortung.” Aber er verteidigt auch, dass das Unternehmen der Kreisverwaltung nicht alle Adressen übergeben hat: “Wir haben datenschutzrechtliche Probleme.” Laut Werkvertragsrecht dürfe das Unternehmen die Adressen der betreffenden Arbeiter nicht speichern. Co-Konzernchef Andreas Ruff fügte hinzu: “Wir haben alle Daten, die wir hatten, sofort an die Behörden weitergegeben.” Offenkundig gelang es den Behörden dann aber doch, bei ihrem nächtlichen Zugriff auf die Personalakten, an alle fehlenden Angaben zu gelangen.
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Widerspricht dem Landkreis: Geschäftsführer Clemens Tönnies gibt ein Statement.
© Quelle: imago images/Noah Wedel
Am Wochenende setzten die Behörden die Corona-Untersuchungen fort. Weil, wie Adenauer betonte, die Lage für seine Verwaltung “eine totale Ausnahmesituation” sei, habe er Hilfe angefordert. Nun wird der Landkreis unter anderem von der Bundeswehr unterstützt. Laut Bundeswehrsprecher Uwe Kort sprechen die Soldaten osteuropäische Sprachen, um sich mit den Arbeitern verständigen zu können.
Alle 6500 Tönnies-Mitarbeiter in Quarantäne
Allerdings sind Sprachbarrieren gar nicht immer die größten Probleme: Obwohl der Landkreis am Freitag verfügt hatte, dass alle rund 6500 Tönnies-Mitarbeiter am Standort Rheda-Wiedenbrück mitsamt allen Haushaltsangehörigen inklusive Verwaltung, Management und Konzernspitze in Quarantäne müssen, sind einige der Arbeiter offenbar nicht zu Hause. Das gilt anscheinend vor allem für Tönnies-Werkvertragsarbeiter aus Polen, Rumänien und Bulgarien.
Aufgrund dieser unklaren Situation vor Ort warnte Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) am Sonntag die Arbeiter aus anderen Ländern vor einer überstürzten Abreise in ihre Heimat. Im Fall einer Infizierung bekämen die Arbeiter die “bestmögliche medizinische Behandlung” in Deutschland, sagte Laschet nach Krisengesprächen im betroffenen Kreis Gütersloh. Das liege auch im eigenen Interesse der Arbeiter.
Kein Grund für Lockdown
Für einen Lockdown im Kreis Gütersloh, also das massive Runterfahren des öffentlichen Lebens, sehen die Behörden allerdings momentan keinen Grund. Es gebe zwar “ein enormes Pandemie-Risiko”, sagte Laschet. Das Infektionsgeschehen sei aber klar bei der Firma Tönnies lokalisierbar, und es gebe keinen “signifikanten Übersprung” hinein in die Bevölkerung. Deshalb gelte weiterhin der Satz, “dass wir einen flächendeckenden Lockdown im Moment nicht ausschließen können. Aber solange wir alles tun, dass es gelingt, dass es nicht überspringt auf die Bevölkerung, können wir andere, bessere, zielgerichtetere Maßnahmen ergreifen”, sagte der Ministerpräsident. Allerdings bleiben, wie am Freitag angeordnet, Schulen und Kitas im Kreis Gütersloh bis zu den Sommerferien geschlossen. In den kommenden Tagen können sich alle Menschen im Kreis Gütersloh kostenlos testen lassen, wie Landrat Adenauer gestern ankündigte. Die Kosten wird die Firma Tönnies übernehmen.
Laschet nahm zugleich Firmenchef Tönnies in die Pflicht. “Wir werden Herrn Tönnies beim Wort nehmen, dass er gesagt hat, es kann keinen Zustand geben wie zuvor. Wir brauchen neue Regeln, neue Bedingungen – und das ist auch das, was wir vom Unternehmen erwarten”, sagte der CDU-Politiker. Tönnies hatte am Samstag angekündigt, man wolle nun alles tun, um den Ausbruch des Coronavirus in seinem Unternehmen einzudämmen. Und er kündigte an, weitgehende Änderungen vorzunehmen: “So werden wir nicht weitermachen. Wir werden diese Branche verändern.” Rücktrittsspekulationen wies er zurück. “Ich werde dieses Unternehmen aus dieser Krise führen”, sagte der 64-Jährige.
Und was gilt für die Begründung des Unternehmens, dass es aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht die Wohnadressen aller Mitarbeiter an die Behörden weitergeben konnte? “Wir müssen einen Zustand herstellen – gerade als Lehre aus der Pandemie –, dass zu jeder Zeit feststellbar ist: Welcher Mitarbeiter arbeitet im Unternehmen, und wo wohnt er?”, sagte Ministerpräsident Laschet. In dieser Frage gebe es verschiedene Rechtsauffassungen. Gegebenenfalls müssten Gesetze geändert werden.
“Fleisch ist zu billig”
Über den Preiskampf in der Fleischindustrie und die katastrophalen Arbeitsbedingungen debattiert die Politik seit Jahren – ohne Ergebnis. Bringt der Corona-Ausbruch jetzt die Wende? “Fleisch ist zu billig”, sagte Bundesagrarministerin Julia Klöckner (CDU). Sie setzt sich für eine Tierwohl-Abgabe ein. Auch der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans kritisiert den Preiskampf: “Der Fall Tönnies zeigt, wie wenig Beachtung der Frage geschenkt wird, wie Nahrung – immerhin unsere wichtigste Lebensgrundlage – produziert wird”, sagte Walter-Borjans dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter sprach sich für einen Boykott von Produkten des Fleischkonzerns aus. “Es ist an der Zeit, dass die großen Supermarktketten sich nicht länger mitschuldig machen”, sagte Hofreiter in der “Bild am Sonntag”. “Sie sollten Tönnies-Produkte aus ihrem Angebot nehmen.” Laut einer Umfrage im Auftrag der Zeitung zeigen die Verbraucher in Deutschland eine hohe Bereitschaft, für bessere Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen einen höheren Fleischpreis zu zahlen.