Das Glück des Walter Frankenstein

Walter Frankenstein

Walter Frankenstein

Berlin. Walter Frankenstein ist nach Berlin gekommen, um zu erzählen. Der 93-Jährige lebt in Schweden, in einem Altenheim bei Stockholm. Er sieht nicht mehr so gut. Als seine Frau Leonie vor acht Jahren starb, musste Walter Frankenstein das gemeinsame Zuhause aufgeben. Aber er ist wieder nach Berlin gekommen, so, wie er es mit Leonie seit 1972 jedes Jahr getan hat.

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„In Berlin hatte ich meine beste und meine schlimmste Zeit. Hier habe ich meine Frau kennengelernt. Von hier aus sollten wir deportiert werden. In Berlin haben wir in der Illegalität gelebt. Hier wurden wir von Russen befreit.“

Die Erinnerungen binden ihn an die deutsche Hauptstadt. Lange hatten seine Frau und er sich dagegen gewehrt, 27 Jahre lang, um genau zu sein. Von 1945 bis 1972. Eigentlich, so sieht es Frankenstein, lebt er an zwei Orten: „In Stocklin und Berholm.“ Weil ein Stück Berlin immer in seinem Stockholmer Leben ist. Und umgekehrt.

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Frankenstein ist im Savoy Hotel an der Fasanenstraße mit einem Fotografen verabredet. Luigi Toscano, kräftiger Typ mit tätowierten Armen und Pferdeschwanz, tritt fast schüchtern auf den alten Mann zu, stellt sich vor. Toscano fotografiert Holocaust-Überlebende – und stellt die riesigen, eindringlichen Porträts dort aus, wo Menschen verfolgt und getötet wurden. „Gegen das Vergessen“ nennt er die Ausstellung.

Zuerst wurde sie 2015 an der Alten Feuerwache in Mannheim, Toscanos Heimatstadt, gezeigt, 2016 im ukrainischen Babyn Jar. Bei den Gedenkfeiern zum 75. Jahrestag des SS-Massakers an 33 000 Juden mussten Staatsgäste und Besucher durch ein Spalier von 50 Porträts gehen, 50 Überlebenden in die Augen sehen. Wer dabei war, erzählt noch immer von der Wucht dieser Bilder.

Jetzt kommen die Gesichter und ihre Geschichten nach Berlin, dorthin, wo das jüdische Ehepaar Frankenstein und seine beiden Söhne von Helfern vor den Nazischergen versteckt wurden. Zum heutigen Gedenken an die Pogromnacht vom 9. November 1938 sind die Bilder in Berlins Mitte, auf dem Gelände der Sophienkirche, zu sehen.

Mehr als 200 Frauen und Männer hat Lugi Toscano in aller Welt schon fotografiert. Nun soll auch Walter Frankenstein dazugehören.

„Ich will Ihnen erst mal etwas zeigen“, sagt der alte Herr. Er stellt ein gerahmtes Bild seiner Frau, das er die ganze Zeit an sich gedrückt hat, behutsam auf den Tisch und greift in eine Ledertasche. Dann hält er ein mit blauem Samt bezogenes Kästchen in der Hand, klappt es langsam auf. Darin liegt ein Orden – das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland. „Schön“, sagt Toscano. Dann sieht er: Innen im Deckel des Kästchens ist ein gelber Stern eingenäht, darin steht „Jude“.

„Darüber ist zu sprechen“, sagt Frankenstein feierlich.

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Toscano, der Deutsch-Italiener, der eigentlich nie um eine Antwort verlegen ist, nickt nur. Frankenstein beginnt mit dem Hier und Heute. „Die Wahlergebnisse aus dem September sind für mich erschreckend. Die große Gleichgültigkeit vieler Menschen in Deutschland. Und dass sie wählen, um der Demokratie oder den demokratischen Parteien mal zu sagen, ‚Passt auf!‘. Das ist verkehrt. So fing es mit Hitler auch an. 1932 war die Situation in Deutschland fast genauso wie heute. Und die Äußerungen mancher AfD-Leute sind ja nicht von Pappe.“

Frankenstein fasst sein Gegenüber fest ins Auge. „Ich möchte“, sagt er eindringlich, „dass Deutschland das bleibt, was es heute ist. Und deswegen bin ich hier. Aber ich bin 93, ich kann nicht mehr lange weitermachen. Meine Generation, die stirbt aus, wer wird dann mahnen?“

Walter Frankensteins Geschichte beginnt im westpreußischen Flatow. Er flieht 1936 als Zwölfjähriger vor antisemitischen Auswüchsen nach Berlin, findet in einem Waisenhaus Schutz. Dort lernt er Leonie Rosner kennen. Sie heiraten 1942. Walter ist in der jüdischen Gemeinde als Handwerker beschäftigt, dann wird er gezwungen, im Reichssicherheitshauptamt zu arbeiten.

An eine Begegnung erinnert er sich, als sei es gestern gewesen: Er musste eine Telefonleitung verputzen. Im Büro von Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Frankenstein kniete, hinter ihm stand ein Bewacher, Eichmann saß am Schreibtisch und sagte nur einen Satz: „Du, Jude, ein Fleck auf dem Teppich und morgen bist du in Auschwitz.“ Frankenstein wusste damals nicht, wer Eichmann war, dass sein Referat die Deportation und Ermordung der europäischen Juden organisierte. „Das habe ich erst nach dem Krieg erfahren.“

„Wir waren frech, wir hatten keine Angst“

Frankensteins Tätigkeit für den Sicherheitsdienst schützt ihn lange. Aber nicht für immer. „Als ich eines Tages morgens zur Arbeit kam, fragte mich der Polier, was ich hier mache. Wieso, habe ich ihn gefragt. Wo sind denn die anderen? Alle heute Nacht abgeholt worden, hat er geantwortet.“ Es ist 1943, die letzten Juden sollen weg aus Berlin.

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Die Frankensteins haben Glück. Sie hatten wenige Tage zuvor in ein anderes „Judenhaus“ umziehen müssen. Die Adresse war offenbar nicht weitergegeben worden. Das Ehepaar taucht mit seinem gerade fünf Wochen alten Sohn Uri unter. Zunächst in Leipzig bei Leonies Stiefvater Theodor Kranz, dann bei Christen in Berlin. Es werden Jahre des Versteckens, des Wechsels von Unterkünften, des Hungers, der Kälte daraus. In all dem Elend kommt im September 1944 der zweite Sohn zur Welt, Michael.

Die Frankensteins erfahren Hilfe von Bekannten – und von völlig Fremden. Ein Feldjäger, der ihn schlafend in der S-Bahn aufgabelt, lässt Walter mit der Bemerkung „Ich jage keine Juden, ich suche Deserteure“ laufen. Ein unwissender SS-Mann will ihm eine neue Wohnung besorgen, weil die alte bei einem Feuer durch Bomben zerstört worden ist und Frankenstein beim Löschen geholfen hat. In der Rückschau meint der alte Mann zu wissen, wie seine Familie es geschafft hat: „Wir waren frech, wir hatten keine Angst, wir hatten gute Freunde und viel, viel Glück.“

„Es gab Menschen, die uns halfen. Es waren wenige.“

1946 wanderten die Frankensteins zunächst nach Palästina aus – „Hitler spukte nach dem Krieg noch bei zu vielen Deutschen im Kopf herum, das hielten wir nicht aus“ –, 1956 gingen sie nach Schweden. Vergessen konnten sie nie.

Und doch ist Walter Frankenstein nicht verbittert. Im Gegenteil: „Es gab Menschen, die uns halfen. Es waren wenige. Ich sage immer, es waren zu wenige. Aber es gab sie – die uns und andere unter eigener Gefahr gerettet haben. An die müssen wir uns halten.“ Es ist seine Mission, diese Botschaft Kindern und Jugendlichen zu übermitteln. Im brandenburgischen Trebbin etwa hat er regelmäßig Schulklassen getroffen. „Ich versuche, ihnen zu erklären, warum sie nicht auf Parolen hören sollten, von wem auch immer. Sie sollen selbst denken.“ Er fordert die Jugendlichen heraus, Fragen zu stellen. „Wenn von 1000 Schülern am Ende fünf bleiben, die Menschen in Not helfen, dann hätte ich schon ein großes Ziel erreicht.“

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Kürzlich traf er in Trebbin eine Gymnasiastin. Sie trug ein schwarzes T-Shirt, darauf gedruckt: „Denkt selbst, sagt Walter Frankenstein“. Der alte Mann lächelt, als er das erzählt. „Das ist doch ein ganz schöner Aufwand mit so einem T-Shirt, habe ich ihr gesagt. Sie hat nur gelacht und mich in ihr Klassenzimmer geführt. Dort trugen alle dieses Shirt. Wahnsinn! Da habe ich mir gedacht, na, da ist doch ein Samenkorn auf den richtigen Platz gefallen.“

Für solche Momente, sagt er dem Fotografen Toscano, mache er weiter. Für solche Momente, dieses Erzählen, macht auch der fast 50 Jahre jüngere Künstler weiter.

Das Gesicht von Walter Frankenstein wird frontal von einem kreisrunden Scheinwerfer ausgeleuchtet, durch dessen Mitte Toscano fotografiert. Beinahe zärtlich fasst er sein Gegenüber an die Wange, gemeinsam finden sie die richtige Stellung des Kopfes. Frankenstein hält die ganze Zeit das Foto seiner Leonie in den Armen.

Toscano hat sein Bild im Kasten. Frankenstein nimmt noch einmal das blaue Kästchen in die Hand. Er zeigt auf den Orden, dann auf den Judenstern. „Hiermit wurde ich ausgezeichnet, und hiermit wurde ich gezeichnet. Das sind zwei Deutschlands. Dieses Deutschland soll bestehen bleiben, und dieses soll nie wiederkommen. Ich hoffe, dass ich dazu ein bisschen beitragen kann. Dafür bin ich hier. Darum.“

Von Thoralf Cleven / RND

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