Deutscher in der Ukraine: „Wir sind alle in Lebensgefahr“

Lebt seit sechs Jahren im ukrainischen Poltawa: Christoph Brumme.

Lebt seit sechs Jahren im ukrainischen Poltawa: Christoph Brumme.

Herr Brumme, Sie leben seit rund sechs Jahren in der zentralukrainischen Stadt Poltawa. Sind Sie dort auch zurzeit?

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Ja, ich bin in Poltawa.

Die Kriegsgefahr ist seit Tagen bekannt, warum sind Sie dort geblieben?

Ich habe Freunde und Familie hier. Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, in einer solchen Situation wegzugehen. Ich habe immer gesagt, wenn Lebensgefahr besteht, muss ich natürlich hier weg. Aber mir war auch klar, dass es dann immer schwieriger wird, wie jetzt ja auch zu sehen ist.

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Kämpfe bei Charkiw sind nur 150 Kilometer entfernt

Wie ist die Lage am heutigen Donnerstag in Poltawa?

Die heftigen Kämpfe bei Charkiw sind nur 150 Kilometer entfernt, und die russischen Truppen nähern sich auch von Norden. Wie man in Kiew sehen kann, setzen die Russen auch Luftlandetruppen ein. Sie können also jeden Moment auch in Poltawa eintreffen.

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Wie muss man sich das Alltagsleben jetzt in Poltawa vorstellen?

Es ist wie im ganzen Land: Alle Geschäfte und alle Restaurants sind geschlossen, außer Lebensmittelgeschäften und Apotheken hat nichts mehr geöffnet. Es gibt lange Schlangen, vor allem vor den Geldautomaten. Heute Mittag konnte man dort noch maximal umgerechnet 30 Euro bekommen. Nachmittags haben die Geldautomaten dann aber gar kein Geld mehr ausgegeben. In den meisten Geschäften funktionieren zudem die Geldkarten nicht, das ist natürlich eine furchtbare Situation. Wer Geld hat, kauft für zwei, drei Tage Vorräte ein.

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Gibt es denn in der Stadt kommunizierte Notfallpläne? Etwa was man bei einem Einmarsch oder bei Luftangriffen unternehmen soll?

Kann man das vorher planen? Ich weiß es nicht. Ich war vorhin im Zentrum der Stadt. Dort sind sehr wenige Menschen. Man sieht nur die Schlangen vor den Geschäften oder den Geldautomaten. Sonst sind dort sehr, sehr wenige Menschen. Präsident Selenskyj hat die Menschen ja aufgefordert, zu Hause zu bleiben. Das machen die meisten auch, viele sind aber auch zu ihren Verwandten oder zu ihren Datschen aufs Land gefahren. Nach dem Motto: Rette sich, wer kann. Das Prinzip gilt jetzt für viele.

Hatten Sie in den vergangenen Tagen noch Hoffnung, dass Putin nicht einmarschiert? Oder war es letztlich nur noch eine Frage der Zeit?

Es war immer halbe-halbe. Es gab Argumente dafür, und es gab Argumente dagegen. Im Gegensatz zu der übergroßen Mehrheit der Ukrainer, die immer gesagt hat: „Nein, es wird nicht zu einem großen Krieg kommen, so blöd ist Putin nicht“, war ich der Meinung, man muss es sich wie ein Schachspiel anschauen. Ein Schachspieler, der die schlimmstmöglichen Drohungen ignoriert oder wegredet, der wird natürlich immer verlieren. Ich habe immer gesagt: Man muss Putin die schlimmsten Verbrechen zutrauen, auch einen Großangriff auf die Ukraine. Ich bin nicht überrascht, aber natürlich ist die konkrete Situation trotzdem schockierend.

„Die Menschen hier sind natürlich alle schockiert“

Beschreibt das Ihr persönliches oder ein allgemeines Stimmungsbild?

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Die Menschen hier sind natürlich alle schockiert, die Stimmung hat sich schlagartig geändert und ist von einem Tag zum anderen ganz anders. Die Menschen sind bedrückt, die Menschen sind schockiert, man sieht es an den Gesichtern. Fast alle Menschen, die man auf der Straße sieht, telefonieren, sie reden über den Krieg und überlegen, was sie machen können. Jetzt besteht Lebensgefahr für alle Ukrainer und alle Menschen in der Ukraine.

Haben Sie Kontakt zu Freunden, zu Bekannten in Kiew und in anderen Regionen des Landes?

Ja, das habe ich.

Was hören Sie von dort?

Die Situation dort ist ähnlich. Alle sind entsetzt und fassungslos, man hat sich das nicht wirklich vorstellen können. Jetzt drohen apokalyptische Szenarien. Wir sind alle in Lebensgefahr.

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Kiew hat die Mobilmachung von Reservisten angeordnet und will den Bürgern das Tragen von Waffen erlauben. Beobachten Sie da eine umfassende Mobilmachung?

Ja, die gibt es jetzt. Zwei Freunde von mir sind in der Nacht eingezogen worden. Wer Waffen halten und tragen und mit ihnen schießen kann, wird jetzt ums Überleben kämpfen. Die Motivation ist sehr hoch. Wir sehen alle die Zustände in den von Russland okkupierten ukrainischen Gebieten im Donbass. Das sind faschistoide Zustände mit Konzentrationslagern, mit Marodeuren, mit willkürlicher Macht, mit totaler Zensur, mit dem Arbeiten von Angst und so weiter. Ich befürchte, dass bald hier in der gesamten Ukraine solche Zustände herrschen. Wir müssen hier jetzt mit dem Schlimmsten rechnen.

Wie beurteilen Sie die Reaktion des Westens der vergangenen Tage und des heutigen ersten Kriegstags?

In der Vergangenheit haben sich viele Politiker und auch Medien aus dem Westen mitschuldig gemacht, indem sie die Verbrechen dieses Schreibtischtäters und Kriegsverbrechers Putin relativiert haben und Verständnis für ihn gefordert haben. Das müssen diese Menschen mit ihrem Gewissen vereinbaren, aber es wird sich irgendwann in der geschichtlichen Analyse zeigen, wer auf der richtigen Seite gestanden hat.

„Grotesk, peinlich und ein historisches Versagen“

Es haben westliche Länder wie die USA und Großbritannien Waffen an die Ukraine geliefert. Die Bundesregierung schließt dies immer noch aus und hat stattdessen 5000 Helme angeboten. Wie beurteilen Sie die Rolle Deutschlands?

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Das ist einfach grotesk, peinlich, und es ist ein historisches Versagen. Dass man gerade in Deutschland Menschen in der Not und in Kriegsangst alleine lässt und stattdessen 5000 Helme schickt, das wirkt einfach nur zynisch.

Sind die Sanktionen, die Deutschland und der Westen entweder bereits beschlossen oder angekündigt haben, das richtige Mittel? Oder kann man dem Angriff Putins nur mit Waffen begegnen?

Man muss meiner Meinung nach jetzt alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, um Russland zu isolieren und zu schaden. Sofortiger Stopp des Rohstoffhandels, sofortiger Boykott russischer Waren und vieles mehr. Es geht für 40 Millionen Menschen um Leben und Tod. Und im Westen wird gegrübelt: Vielleicht wollen wir nicht mehr mit Russland handeln, aber Putin wollen wir auch nicht zu sehr wehtun. Das ist zynisch. Es ist doch schon ein christliches Gebot: Menschen in der Not, Menschen, die unschuldig einem Krieg ausgesetzt sind, denen hilft man. Und wie kann man denen helfen? Doch nicht mit Helmen.

Sie haben zu Beginn unseres Gesprächs gesagt, wenn Lebensgefahr herrscht, werden Sie das Land verlassen. Jetzt herrscht Lebensgefahr. Werden Sie gehen?

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Das ist jetzt eine Risikoabschätzung: Was mache ich? Ich habe kein Auto, ich habe nur ein Fahrrad. Aber die Nächte sind kalt, und mit dem Rad kann ich kaum Gepäck mitnehmen. Wie soll man jetzt aus dem Land kommen? Die Straßen sind verstopft, es gibt nur wenige Brücken über den Dnjepr, die die Russen jederzeit bombardieren und zerstören können. Die Frage ist: Wo kann man jetzt überleben? Man hat bei den Kriegsvorbereitungen im Vorfeld gesagt: Die Chance, zu überleben, ist in den großen Städten am größten, weil die großen Städte am heftigsten verteidigt werden und man um sie Verteidigungsringe aufbauen wird, während man in den Dörfern auf dem Land relativ ungeschützt bleibt. Mit dem Zug zu fahren ist auch gefährlich. Ich weiß es nicht. Wie aus dem Land kommen? Ich weiß es nicht.

Christoph Brumme ist Schriftsteller und Essayist. Seit sechs Jahren lebt der 59-Jährige, der 1962 in Wernigerode geboren wurde, in der zentralukrainischen Stadt Poltawa. Brumme fuhr sechsmal mit dem Fahrrad von Berlin an die Wolga und zurück und legte dabei mehr als 40.000 Kilometer zurück. Seine Romane „Süchtig nach Lügen“ und „No“ („Nichts als das“) wurden mit Julia Jäger, Jan Josef Liefers und Corinna Harfouch als Hörspiele produziert.

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