Die „Terror-WG“ in Hamburg-Harburg: ein Besuch 20 Jahre danach
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20 Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001: In der Marienstraße 54 wohnten Mohammed Atta und Mitglieder seiner „Harburger Terrorzelle“.
© Quelle: imago images/Chris Emil Janßen
Hamburg-Harburg. Ein weiß verputztes Haus, vier Etagen, ein Schlichtbau aus der Nachkriegszeit. „Zerstört 1944, 1955 aufgebaut“ steht auf einer kleinen Tafel mit dem Hamburger Wappen. Die Marienstraße 54 in Harburg ist ein Haus wie Tausende andere in der Stadt. Doch die Adresse ist weltweit berüchtigt. Auch heute noch.
Klingeln im ersten Stock. Ein Mann öffnet die Tür. „Wissen Sie, wer hier mal gewohnt hat?“ Der Mann mittleren Alters guckt skeptisch. „Nein“, antwortet er knapp, „und es interessiert mich auch nicht.“ Klack. Tür zu.
Von 1998 bis 2001 waren hier drei Studenten der nahen Technischen Universität gemeldet. Ihre Namen: Mohammed Atta, Ramzi Binalshibh, Said Bahaji. Atta steuerte die entführte Boeing 767 der American Airlines, Flug AA 11 von Boston nach Los Angeles. Um 8.46 Uhr lenkte der 33-Jährige das Flugzeug in den Nordturm des World Trade Centers an der Südspitze von Manhattan.
Binalshibh gilt als einer der wichtigsten Planer der Terroranschläge, er sitzt ohne abschließendes Gerichtsverfahren im US-Gefangenenlager Guantanamo Bay. Bahaji wird als „Buchhalter“ und Planer bezeichnet, er ist seit Jahren verschollen, die USA vermuten ihn im Grenzgebiet zwischen Pakistan und Afghanistan.
Die Marienstraße 54 war der Kern der „Harburger Zelle“. Zu ihr gehörten noch: Marwan al-Shehhi, der den entführten United-Airlines-Flug UA 175 in den Südturm des World Trade Centers steuerte; Ziad Jarrah, der den entführten United-Airlines-Flug UA 93 steuerte, den die Passagiere zum Absturz auf einem Feld in Pennsylvania zwangen; Zakariya Essabar, ebenfalls zeitweise in der Marienstraße 54 gemeldet, der den Kontakt zu Al-Kaida in Pakistan gehalten haben soll. Die „Terror-WG“, so nannte die Presse die Wohnung in der Marienstraße 54 seit dem Tag nach den Anschlägen in Amerika.
Ein Irrläufer sorgt für eine Exklusivgeschichte
Harald Stutte, damals Politikredakteur bei der „Hamburger Morgenpost“ und heute beim RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), erinnert sich an einen Zufall. Dieser bescherte der kleinen Boulevardzeitung einen Informationsvorsprung für eine der größten Geschichten des Blattes: Um 18 Uhr erreichte die Redaktion ein mysteriöses Fax. Es war die Meldung einer US-Agentur, adressiert an die Zeitungen des Springer-Verlags der Stadt. Ein Irrläufer also.
„Der Inhalt gab uns Rätsel auf: Al Shehhi, ein Cousin des ‚Chefplaners‘ der Terroranschläge Mohammed Atta, soll in Hamburg seinen Wohnsitz haben, in der Martinstraße 54“, sagt Stutte. Die Reporter in der Hansestadt zeigten sich zunächst skeptisch. Zu abwegig erschien der Gedanke, dass die Piloten der Terroranschläge in den USA ausgerechnet Verbindung in das friedfertige, liberale, weltoffene Hamburg haben sollten. Zudem gab es in Hamburg keine Martinstraße.
Reporterglück – kurz bevor die Polizei kam
Ein Anruf bei der Hamburger Polizei gab den Skeptikern unter den Journalisten recht: „Abwegig, nichts bekannt, vermutlich ein Irrtum.“ Doch so ganz wollten die Reporter den mysteriösen Hinweis aus USA doch nicht einfach abtun. War vielleicht einfach der Straßenname falsch geschrieben? War vielleicht statt „Martinstraße“ die Martinistraße in Eppendorf gemeint? Oder der Martin-Leuschel-Ring in Harburg? Beides konnte nicht sein. Ein letzter Versuch. Ist vielleicht die Marienstraße in Harburg gemeint?
Kurze Zeit später standen ein Reporter und ein Fotograf vor dem Haus Marienstraße 54, das keine zwölf Stunden danach die ganze Welt im Bild kennenlernen solle. Im ersten Stock stand eine Wohnung leer, ein eilig durchgestrichener arabischer Name am Briefkasten fiel ins Auge. Mitbewohner in der zweiten Etage wurden befragt. Und Burkhard S. bestätigte dem Reporter tatsächlich: „Klar, mit ziemlicher Sicherheit stand der Name Mohammed Atta an der Wohnungstür.“
Seine Verlobte Violetta K. erinnerte sich gar noch sehr gut an jenen „grimmigen“ Atta, der sich bei ihr mal über die zu laute „westliche Musik“ beschwert hatte. Keine zwei Stunden später war es vorbei mit der Ruhe in der Marienstraße. Immer mehr Reporter rückten an. „Terrorpiloten lebten in Hamburg!“ titelte am nächsten Morgen die „Morgenpost“ auf ihrer ersten Seite. Es sollte aber noch ein halber Tag vergehen, bis der damalige Innensenator Olaf Scholz die Spur zur Harburger Zelle in vollem Umfang bestätigen würde.
Hamburg 2021: Zwei Kneipen gibt es in der Marienstraße, die vom Zentrum Harburgs sanft den Hügel hinaufführt, eine ruhige Wohnstraße. Unten, am Fuße des Hügels, ist das Marien-Eck, perfekt gelegen für ein Feierabendbier auf dem Weg nach Hause. Aber der kleine Gastraum ist leer. Die Leute kämen nach dem langen Gastronomielockdown nicht mehr, sagt die junge Wirtin. Von Atta, von der Terror-WG hat sie noch nie etwas gehört. Vom 11. September natürlich schon.
Ein Stammgast kommt hinzu, man sitzt zu dritt am Tisch vor der Kneipe und schaut alte Dokumentationen auf dem Smartphone. Polizisten in den alten grünen Uniformen, Blaulicht, Flatterband, die rote Leuchtreklame vom Marien-Eck. Die Wirtin guckt ungläubig, dann schockiert. „Hier bei uns?“
Auch in der zweiten Kneipe, dem Goeschen-Eck, Erleichterung beim Wirt im dunklen Gastraum: „Ist schon lange keiner mehr vorbeigekommen mit der Frage. Das ist auch gut so.“ Die Goeschenstraße, von der das Goeschen-Eck seinen Namen hat, ist eine Querstraße zur Marienstraße. Hier war Mounir al-Motassadeq gemeldet, noch ein Mitglied der Harburger Zelle und Student an der Technischen Universität. Heute lebt er in Marrakesch in Marokko. Das Hanseatische Oberlandesgericht verurteilte ihn wegen Beihilfe zu 3066-fachem Mord und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu 15 Jahren Freiheitsstrafe, die er in Hamburg-Fuhlsbüttel verbüßte. Nach seiner Haft wurde er abgeschoben, Motassadeq darf Deutschland bis zum 3. April 2064 nicht betreten, es wäre sein 90. Geburtstag.
Den Terrorhelfer bezeichnet sein Anwalt als „respektvoll und nett“
Die Prozesse gegen Motassadeq waren das Aufsehenerregendste, was an Aufarbeitung des 11. September in Deutschland geleistet wurde. Weit aber kam das Gericht nicht. Mottasadeq stritt stets ab, in die Planungen der Anschläge eingebunden worden zu sein. Sein Verteidiger Gerhard Strate erinnert sich: „Ich habe immer die Ansicht vertreten, die Beweise würden für eine Verurteilung nicht reichen. Ich kritisiere aber auch nicht, dass das Gericht zu einem anderen Urteil kam.“
Im Umgang war Motassadeq „ganz normal“, das Verhältnis zu seinem Mandanten bezeichnet Strate als „respektvoll und nett“. Im Gefängnis „Santa Fu“, der Justizvollzugsanstalt Fuhlsbüttel, hat Motassadeq drei- bis viermal pro Tag gebetet. Wenn Anwaltskollegen aus Amerika nach Hamburg kommen, zeigt Strate ihnen die Marienstraße und das Universitätsgelände, er nennt es die „Terrortour“.
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Lange sei keiner mehr gekommen mit der Frage nach der Terror-WG, sagt der Wirt des Goeschen-Ecks schräg gegenüber vom Wohnhaus der Attentäter. „Das ist auch gut so.“
© Quelle: imago images/Chris Emil Janßen
Der Prüferin verweigerte Atta den Handschlag
Auch die Technische Universität hatte lange mit dem Ruf zu kämpfen, eine „Terroristen-Uni“ zu sein. Die Univerwaltung hatte Atta eine Baracke für eine „Islam-AG“ zur Verfügung gestellt, hier trafen sich Atta und seine Mitdschihadisten. Nach dem 11. September 2001 wurden religiöse Arbeitsgemeinschaften verboten. Atta galt als begabter Stadtplaner, sein Professor Dittmar Machule sah in ihm eine Hoffnung für die arabische Welt. Irritiert war er damals nur, als Atta bei seiner Diplomprüfung der Co-Prüferin den Handschlag verweigerte.
Im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur sagt der heute 81-jährige emeritierte Hochschullehrer, aus Ereignissen wie den Anschlägen vom 11. September erwachse immer eine Verantwortung, für die Hochschule ebenso wie für jeden Politiker und jede Institution. Auf islamistische Tendenzen unter Studenten müsse man achten. „Man muss das im Auge behalten“, sagt der emeritierte Hochschullehrer. „Ich persönlich meine, dass man mit anderen Religionsgemeinschaften tolerant umgehen muss. Aufpassen muss man, wenn sie unsere christliche Werteordnung gefährden.“ Das friedliche Zusammenleben sei wichtig. Ihn beschäftige bis heute die Frage „Was müssen wir tun, um zu verhindern, dass Menschen so etwas machen?“.
Deutschlands Mitverantwortung führte zur Kriegsbeteiligung in Afghanistan
Alle Attentäter des 11. September 2001 stammten aus wohlhabenden, eher säkular eingestellten Familien. Sie qualifizierten sich für Stipendien im Ausland, fielen in westlich geprägten Gesellschaften nicht auf. Zugleich suchten und fanden sie dort Kontakte zu dschihadistischen Predigern und radikalisierten sich so stark, dass sie für die Terrororganisation Al-Kaida zum perfekten Werkzeug wurden. In der Al-Quds-Moschee nahe dem Hamburger Hauptbahnhof trafen sich Atta und die anderen regelmäßig, warben für den Dschihad, schmiedeten Terrorpläne. Auch die Moschee ist längst geschlossen.
In der Marienstraße wirkt es heute so, als habe es die Harburger Zelle nie gegeben. Doch 20 Jahre nach den Anschlägen, wenige Tage nach dem Fall Kabuls, erinnert der frühere Bundeswehr-Generalinspekteur Harald Kujat an die spezielle Verantwortung, die auch Deutschland in den Krieg am Hindukusch hineinzog, um Al-Kaida aus Afghanistan zu vertreiben: „Der Auftrag lautete: Bündnissolidarität nach den Terroranschlägen auf die USA 2001. Die Nato hatte erstmals den Bündnisfall ausgerufen. Und nicht zu vergessen: Die islamistischen Attentäter kamen aus Hamburg.“